Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Russells Erinnerungen

Russell war am 31. 10. 1916 verstorben. Soll man es Vorahnung nennen? Schon in der deutschen Wachtturmausgabe vom September 1916 war eine umfängliche Erinnerungsschrift Russells abgedruckt. Sie wurde von der WTG auch noch als separate Broschüre unter dem Titel "Erinnerungen an Pastor Russell" verbreitet. Einige Auszüge daraus zitiert auch das WTG-Geschichtsbuch "Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben". Sieht man sich diesen Russell-Bericht im Detail an, so fallen zuerst schon mal die adventistischen Anfänge ins Auge. Letztere lernte er im Jahre 1868 kennen und zollt ihnen als seinen "Wegbereitern" auch entsprechende Referenz. 1876 lernt er dann das von dem Adventisten N. H. Barbour herausgegebene Blatt "Herold des Morgens" kennen. In ihm sah er offenbar einen Geistesverwandten. Barbour, zusammen mit seinem Mitarbeiter Paton, waren insbesondere durch eine auf 1874 orientierende Endzeitverkündigung, bereits gebrannte Kinder. Sie versuchten sich zwar selbst einzureden, ihre Theorie für 1874 sei doch nicht grundverkehrt. Nur das eben ein anderer Erwartungshorizont damit verbunden werden müsse. "Unsichtbare Wiederkunft Christi", angeblich in jenem Jahre erfolgt, war nun ihr Zauberwort. Auf die Stammleserschaft des "Herold des Morgens" machte jene These keinen sonderlichen Eindruck mehr. Das waren ebenfalls schon mehrfach "gebrannte Kinder".

Russell hingegen, fand jene These interessant genug und machte sie sich auch zu Eigen. In seinen eigenen Worten:

"Ich faßte den Entschluß, meine geschäftlichen Obliegenheiten einzuschränken und meine Zeit sowohl als auch meine Mittel dem großen Erntewerk zu widmen. Ich ließ Mr. Barbour heimreisen, nachdem ich ihn mit Geld versehen und ihn beauftragt hatte, in gedrängter Buchform die gute Botschaft auszuarbeiten, soweit wir sie damals verstanden, einschließlich der Zeit-Prophezeiungen. … das gedachte kleine Buch wurde fertig … und trug den Titel 'Die drei Welten'; und da auch ich der Abfassung desselben meine Zeit und meine Gedanken widmen konnte, so veröffentlichten wir es gemeinsam, indem beide Namen auf dem Titelblatt erschienen, obschon Mr. Barbour es in der Hauptsache geschrieben hatte."

Barbours Zeitschriftenprojekt, kurz vor dem auch wirtschaftlichen Bankrott, bekam durch diese neue Entwicklung, dank Russells Unterstützung, eine weitere Galgenfrist. Die nächste Krise kam im Jahre 1878. Eine sichtbare Auferstehungsaktion glaubte man in den Barbour-Russellschen Gefilden verkünden zu können. Wieder einmal wurde nichts daraus. Erneute Umdeutungen waren angesagt. Dabei erwies sich aber Barbour als nicht mehr flexibel genug. Das Team Russell-Barbour begann unaufhaltsam auseinanderzudriften.

Ideologisch schon lange ein toter Mann, wurde er von Russell nunmehr auch wirtschaftlich kaltgestellt. Die Initiative ging ab jenem Jahre eindeutig von Russell aus.

Erst mal begann er eine eigene Konkurrenz-Zeitschrift, den "Wachtturm" seit 1879 auf den "Ententeich" zu setzen. Nachdem diese entscheidende Schritt getan war, überstürzten sich die Ereignisse. In Russells Worten:

"Eine Zeitlang hatten wir sehr schmerzliche Erfahrungen durchzumachen. Die Leser des 'Wachtturms' und des 'Herald' waren nämlich dieselben, und nachdem der 'Wachtturm' zu erscheinen angefangen hatte, und die Unterstützungen unsererseits für den 'Herald' aufhörten …" Der Geschäftsmann Russell hatte alsbald für klare Verhältnisse gesorgt, und seinen einstigen Mitstreiter Barbour endgültig in das "Grab der Geschichte" verwiesen.

Das Buchprojekt "Drei Welten" passte Russell nun auch nicht mehr ins Konzept, dieweil ja da noch der Name seines Konkurrenten Barbour mit drauf prangte. Geschrieben hatte er es ohnehin - faktisch - nicht. Barbours Mitarbeiter Paton hingegen konnte sich Russell noch bis 1881 in Loyalität versichern. Dann war auch ihr Zerwürfnis perfekt. In der noch loyalen Phase beauftragte Russell den Paton, das Barbour-Buch erneut umzuschreiben. Neuer Titel dessen "Tages Dämmerung". Der Name Barbour darin war nunmehr getilgt. Offenbar war Russell nun aber schon gewitzt genug, Paton als Auftragsschreiber, als Ghostwriter zu degradieren, der zwar die Arbeit leistete, dafür von Russell wohl auch entlohnt wurde, aber keine für die Öffentlichkeit mehr sichtbaren Autorenrechte reklamieren konnte.

Nachdem auch Paton ins Nirwana verstoßen war, konnte Russell jenen Band "Tages Dämmerung" in geringfügig modifizierter Form der Öffentlichkeit als Band I seiner "Tagesanbruch"-Serie offerieren. Später in "Schriftstudien" umbenannt.

Schon im Jahre 1893 gab es davon eine von Otto von Zech veranstaltete deutsche Übersetzung, die noch in den USA gedruckt wurde. Bei Vergleichen jenes Bandes "Tages-Anbruch" (Ausgabe 1893) der sich im Bestand der Berliner Staatsbibliothek befindet. Bei Vergleichen des dortigen Textes mit der späteren "Schriftstudien"-Ausgabe, bin ich zu der Einschätzung gelangt, dass die vorhandenen Differenzen relativ marginal sind.

Anders formuliert. Der Ghostwriter Paton, lebt in Russell "Schriftstudien" Band I weiter!

Laienprediger

Eigentlich war Russell nur ein Laienprediger. Sein von ihm verwandter Titel "Pastor" sollte zwar etwas anderes suggerieren. Indes eine universitäre theologische Ausbildung, die man landläufig mit einem "Pastor" verbindet, war in seinem Falle nicht gegeben.

Es verwundert daher nicht, dass die theologische Konkurrenz immer wieder mal den Finger in diese Wunde legte. Und Russell tat ihr den Gefallen, teilweise ziemlich gereizt darauf zu reagieren. Auch die deutschen Bibelforscher wurden durchaus einmal über einige der diesbezüglichen Kontroversen informiert. Und zwar in der 1915 erschienenen Flugschrift "Der Bibelforscher" 6. Jg. Nr. 5. Aus ihr sei nachfolgend zitiert:

"Was Pastor Russell den Kritikern erwidert.

Ich bin selbst wohl mit den verleumderischen Artikeln bekannt, die von Pastor J. J. Roß veröffentlicht werden. In Kanada gibt es in Bezug auf Verleumdung nur zwei Gesetze. Das eine Gesetz ist das einfache Statut über Lügen und falsche Darstellungen; die Strafe dafür lautet auf Belastung mit den Unkosten und Schadenersatz. Der andere Artikel nimmt Bezug auf Kriminalverleumdung, und dafür ist eine Gefängnisstrafe vorgesehen.

Auf Anraten meiner Anwälte verklagte ich Pastor Roß unter dem Kriminalakt.

Das Kreisgericht sprach ihn der Verleumdung schuldig, als der Fall aber vor den Oberverwaltungsrichter kam, berief sich derselbe auf einen englischen Präzedenzfall, der lautete, daß Kriminalverleumdung nur dann vorläge, wenn die Geschworenen überzeugt wären, daß die Gefahr des Aufruhrs und der Gewalttätigkeit vorhanden sei. Da indessen keine Gefahr vorlag, daß entweder meine Freunde oder ich zu einem Aufruhr Zuflucht nehmen würden, so wurde die Klage abgewiesen. Ich konnte zwar noch eine Klage zum Schadenersatz einreichen, doch wäre das kostspielig für mich gewesen, hätte dagegen bei Pastor Roß nichts ausgerichtet.

In Bezug auf meine Ausbildung in der griechischen und hebräischen Sprache möchte ich erwähnen, daß ich keinen Anspruch auf genaue Kenntnis dieser Sprachen erhebe. Auch behaupte ich, daß unter tausend Geistlichen nicht einer eine besondere griechische oder hebräische Sprachkenntnisse besitzt. Einige griechische Worte buchstabieren zu können, hat nicht den geringsten Wert. Auch bedarf es heute nicht mehr dieser Sprachkenntnisse, um die Bibel verstehen zu können....

Diese Werke ermöglichen eine genaue und wissenschaftliche Auskunft über den Urtext der Bibel. Ich besitze alle vier Werke und habe sie gewissenhaft gebraucht. Nur wenige Universitätsprofessoren würden es wagen, eine genaue Übersetzung eines Bibeltextes zu geben, ohne die obengenannten maßgebenden Referenzwerke zu Rate zu ziehen. Einfach Griechisch und Hebräisch lesen zu lernen, ohne die Grammatik wenigstens sechs Jahre lang zu studieren, ist für wahres Bibelstudium eher hindernd als förderlich. Viel besser ist es, die anerkannten und zuverlässigen Werke … zum Nachschlagen zu gebrauchen.

Außerdem möchte ich noch auf die vielen jetzt vorhandenen Bibelübersetzungen aufmerksam machen. Ich besitze sie alle und finde sie sehr wertvoll beim vergleichenden Studium eines Textes, da die eine Übersetzung manchmal einen Gedanken gibt, der in einer anderen nicht zum Ausdruck kommt. Vor einigen Tagen zählte ich zufällig die in meiner Bibliothek befindlichen Bibelübersetzungen und fand, daß ich im Besitze von zweiunddreißig verschiedenen Übersetzungen bin."

Jener kanadische Pastor J. J. Ross, offenbar ein erbitterter Gegner Russell's wurde schon genannt. Auch Rutherford geht in seiner 1915 erschienenen Verteidigungsschrift "Ein großer Kampf in den kirchlichen Himmeln" auf diese Kontroverse ein. Nach Rutherford stellt sich die Sachlage wie folgt dar:

"Reverend J. J. Ross aus Hamilton, Ontario, veröffentlichte ein beleidigendes Pamphlet gegen Pastor Russell. Es entging ein Haftbefehl gegen Ross. Er entging dem Vollstreckungsbeamten für einige Zeit und hielt sogar seine Berufung an seiner Kirche nicht ein, um zu verhindern, dass der Beamte ihn in Gewahrsam nahm. Schließlich wurde er unter der Anklage der strafbaren Beleidigung vor George E. Jelfs, den Friedensrichter, gebracht. Nach einer Verhandlung wurde er dem Gericht überstellt. Auf Antrag lehnte das Obergericht die Einlieferung wegen eines Verfahrensfehlers ab. Ross wurde wiederum vor dem Friedensrichter gebracht.

Als der Fall zum zweitenmal zur Verhandlung kam war Pastor Russell der ein notwendiger Zeuge war, auf einer ausgedehnten Reise in Panama und anderen Teilen des Südens und kam Terminen nach, die kurz zuvor vereinbart worden waren. Ihm war das Datum der Verhandlung nicht bekannt. Ross und sein Anwalt versuchten den Eindruck zu erwecken, Pastor Russell wolle sich dem Verfahren entziehen. Sobald Pastor Russell nach Brooklyn zurückkehrte und hörte, dass er benötigt wurde, gab er dem Friedensrichter sofort bekannt, dass er bereit war, nach Kanada zu kommen. Er fuhr auch dorthin und machte seine Aussage. Wiederum verpflichtete der Friedensrichter Ross dazu, vor dem Hohen Gericht zu erscheinen, um auf eine Anklage zu antworten, die vor der Grand Jury vorgebracht werden sollte. Als der Fall zur Verhandlung vor diesem Gericht anstand, sagte der Richter, als er die Grand Jury über ihre Pflichten belehrte, unter anderem: "Wenn die Jury nicht findet, dass diese angebliche Beleidigung den Rechtsfrieden in Kanada stört, dann sollte keine Anklage erhoben werden, die Parteien sollten vielmehr einen Zivilprozess um Schmerzensgeld führen." Die Jury nahm die Anklage nicht an, und es ist offenkundig, dass sie unter dieser Anklage des Gerichts nicht anders hätte handeln können, denn Pastor Russell lebte in Brooklyn, New York, und Reverend Ross lebte in Hamilton, Ontario, Kanada, und es wäre physisch unmöglich, dass die Verleumdung den Rechtsfrieden störte, wenn die Parteien so weit voneinander entfernt lebten.

So ist zu erkennen, dass die Streitpunkte nie zu einem Prozess führten und nie in der Sache entschieden wurde. Pastor Russell machte nicht von einer Zivilklage um Schmerzensgeld Gebrauch, weil man ihn darauf hingewiesen hatte, dass dies sinnlos sei, weil Ross zahlungsunwillig sei und durch ein solches Vorgehen nicht dazu gezwungen werden konnte, einen Widerruf zu veröffentlichen.

Danach veröffentlichte Reverend Ross ein weiteres Pamphlet gegen Pastor Russell, das wegen seiner totalen Unwahrheiten und Verdrehungen der Tatsachen seinesgleichen sucht. Er suchte sich hier und da vereinzelte Absätze aus den Prozessberichten heraus, verdrehte sie, fügte etwas hinzu, stellte sie falsch dar und ließ sie als völlig anders als in ihrer wirklichen Bedeutung erscheinen. Das konnte von seiner Seite nicht unbeabsichtigt gewesen sein. Beispielsweise erhebt er unter anderem die Beschuldigung: 'Er (Pastor Russell) versuchte, einer vom Gericht festgesetzten Zahlung zu entgehen, indem er von einem Staat in den anderen floh und es für seine Frau notwendig machte, einen Auslieferungsbefehl zu erwirken, was sie auch tat und was zu einer Verurteilung des gerissenen Pastors durch ein drittes Gericht und zu einer Erhöhung der Unterhaltszahlungen führte.'

Reverend Ross wusste wahrscheinlich nicht, dass man nicht zu Auslieferungsbefehlen greifen kann, um ein Urteil durchzusetzen, in dem es um Zahlungen geht. Es wurde kein "Auslieferungsbefehl" verhängt, es gab auch kein Auslieferungsverfahren. Aber wahrscheinlich dachte Reverend Ross, die Leute würden seiner Aussage glauben, auch wenn sie falsch ist, weil er doch als Geistlicher anerkannt ist.

In dem Verfahren, in dem es um die Unterhaltszahlungen ging, urteilte das Gericht, dass Frau Russell die Summe von $ 100 pro Monat von ihrem Mann erhalten sollte. Dieses Urteil erging am 4. März 1908. Der Unterhaltsbetrag wurde niemals erhöht.

Anfang Winter 1908 wurden Vorkehrungen getroffen, das Hauptbüro für das Werk der Bibelgesellschaft … nach Brooklyn, New York, zu verlegen. Für dieses Vorhaben wurde einige Zeit benötigt, aber der Umzug, der öffentlich war, war im März 1909 vollendet. Die Pittsburgher Zeitungen erwähnten den Umzug. Pastor Russell verblieb in Pittsburgh, bis der ganze Umzug über die Bühne gegangen war; er war die letzte Bürokraft, die Pittsburgh verließ. Niemand versuchte, dem Umzug ins Gehege zu kommen, wie es ja auch tatsächlich keinen erfolgreichen Versuch in dieser Richtung hätte geben können.

Im Dezember 1908 erhob Frau Russell bestimmte Klagen, um die Besitzübertragung, die ihr Mann an die WATCH TOWER BIBLE AND TRACT SOCIETY vorgenommen hatte, für ungültig erklären zu lassen und die Zahlung von Unterhalt zu erzwingen. Zuvor, bei der Zeugenvernehmung zur Unterhaltsseite des Verfahrens auf gesetzliche Trennung, hatte Pastor Russell ausgesagt, dass sowohl er als auch seine Frau vor der WATCH TOWER BIBLE AND TRACT SOCIETY bezeugt hatten, dass sie ihren ganzen Besitz dem religiösen Werk geweiht hätten, in dem sie dem Herrn dienten, und dass man überein gekommen sei, dass der ganze Besitz der WATCH TOWER BIBLE AND TRACT SOCIETY ZU DIESEM ZWECK übertragen werden sollte. Dass der Besitz ihm gehörte und er das Recht hatte, damit nach Belieben zu verfahren. Dass er nach ihrer Trennung in gutem Glauben und in Übereinstimmung mit besagter Übereinkunft den Besitz auf die besagte Gesellschaft übertragen habe, und dass er nicht über die Mittel verfüge, den Unterhaltsbetrag zu bezahlen, den das Gericht festgesetzt hatte. Die Gelder waren bereits von der Gesellschaft aufgebraucht worden, und die Immobilien waren belastet.

Anfang April 1909, nachdem die besagte Gesellschaft und Pastor Russell nach Brooklyn umgezogen waren, wurden die besagten Fälle verhandelt, und Herr Carpenter und ich erschienen im Interesse der besagten Gesellschaft und Pastor Russells. Nach Anhörung der Anträge beriet sich das Gericht über die Angelegenheit und entschied dann, dass Herrn Russells Besitzübertragung an die Gesellschaft ein Betrug an seiner Frau sei und dass der Unterhalt zu zahlen sei. Wohlverstanden: Jemand kann einen Betrug im Sinne des Gesetzes begehen, obwohl er in völlig gutem Glauben handelt. Nebenbei bemerkt sind Entscheidungen von Gerichten nicht unfehlbar, wie wir alle wissen, denn sie werden von unvollkommenen Menschen getroffen. Zu der Zeit, als das Urteil erging, hatte Pastor Russell seinen Wohnsitz in Brooklyn, aber er war damals in Europa auf seiner halbjährlichen Vortragsreise durch Großbritannien. Man hatte ihm die Entscheidung des Gerichtes zu diesem Punkt nicht mitgeteilt. Zuvor hatte er zu mir gesagt, er werde gerne Zahlungen an Frau Russell leisten, aber er habe kein Geld, was, wie ich wußte, den Tatsachen entsprach.

Während der eben erwähnten Abwesenheit von Pastor Russell bestimmten fünf Männer, seine persönlichen Freunde, ohne sein Wissen den Geldbetrag, der benötigt wurde, um das Unterhaltsurteil zu erfüllen. Sie trieben mehr als den notwendigen Betrag unter sich selbst auf, übergaben ihn mir und schickten mich nach Pittsburgh, um gemäß dem Urteil zu zahlen. Ich fuhr nach Pittsburgh und legte mit Frau Russells Anwälten die Sache bei und zahlte ihr jeden Cent einschließlich Zinsen, den das Gericht festgesetzt hatte, zusammen mit allen Kosten des Verfahrens."

Nachdem man vorstehend die Verteidigungsrede Rutherfords zur Kenntnis nehmen konnte, sei noch eine Gegendarstellung zitiert. In Missouri, USA erschien zur fraglichen Zeit auch eine deutschsprachige Zeitschrift unter dem Titel "Der Lutheraner". Nachstehend ihr diesbezüglicher Bericht aus der Ausgabe vom 26. Mai 1914:

"Der vielgenannte Lügenapostel 'Pastor' Charles T. Russell strengte letztes Jahr einen Verleumdungsprozeß an gegen Rev. J. J. Roß einen Baptistenprediger in Hamilton, Ontario, Canada. Rev. Roß hatte folgende Behauptungen aufgestellt: daß Russell nie eine höhere Schulbildung genossen habe; daß er in der Philosophie und Theologie fast gänzlich unbewandert sei; daß er von den alten Sprachen nichts wisse, obgleich er behauptet hatte, er kenne sie; ferner, daß er nie als Prediger ordiniert worden und mit keiner kirchlichen Benennung verbunden sei; daß er zu keiner evangelischen Kanzel, weder in Amerika noch in irgend einem andern Lande zugelassen werden könnte, wo man ihn und seine religiösen Schriften kenne; daß seine Frau sich von ihm habe scheiden lassen müssen wegen nachgewiesener ungebührlicher Verhältnisse mit andern Frauen; und daß er ein Eigentum im Werte von 35 000 Dollar für 50 Dollars veräußert habe, um die Ansprüche seiner geschiedenen Frau darauf zu verhindern.

Auf diese Aussagen hin verklagte 'Pastor' Russell den Baptistenprediger vor dem canadischen Gericht. Die Klage kam auch zur Verhandlung; doch geht aus den Berichten über den Prozeß hervor, daß 'Pastor' Russell auf jede mögliche Weise dem Verhör, das er selbst geleitet hatte, auszuweichen suchte, daß er aber, als er schließlich auf dem Zeugenstande auftrat, verschiedene frühere Aussagen, die er gemacht hatte, als unwahr widerrufen mußte, und daß die verschiedenen Gesellschaften, die er gegründet hat, nur von ihm selbst kontrolliert werden. Dieses Verhör fand in Hamilton, Canada, statt. Die Großgeschworenen haben am 1. April 1913 eine Entscheidung gegen Russell abgegeben. Alle Behauptungen des Rev. J. J. Roß gegen ihn sind aufrechterhalten worden. 'Pastor' Russell hat aus wohlweislichen Gründen den Fall in den canadischen Gerichtshöfen nicht weitergeführt."

In der Ausgabe Nr. 4/1915, zitierte der "Lutheraner" einige weitere Details aus der Schrift des J. J. Ross. Bezeichnenderweise hat die WTG bis zum heutigen Tage dazu nicht im Detail Stellung genommen. Ergo, hat Ross diesbezüglich nicht "nur auf den Busch geklopft", sondern offenbar den Nagel auf den Kopf getroffen, namentlich was die finanziellen Transaktionen betrifft. In der genannten Ausgabe des "Lutheraners" kann man noch lesen:

"Nachdem das weltliche Gericht Frau Russell Scheidung gewährt und Russell zu fernerer Versorgung seiner geschiedenen Frau verpflichtet hatte, machte er den Versuch, sie für irrsinnig erklären zu lassen. Als ihm das mißlungen war, verkaufte er sein Eigentum, ein Gebäude an der Arch-Straße, Allegheny, Pa., das sogenannte 'Bible House', das einen Wert von $ 30 000 hatte für $ 50 an die 'Watch Tower Bible and Tract Society', die er selbst kontrolliert.

Wieder verklagte ihn seine Frau, und der Richter erklärte: 'Der Zweck dieser ganzen Transaktion war, seine Frau um ihren Vermögensanteil zu bringen, und war ein an ihr geübter Betrug … Er hat mit der Veräußerung des Eigentums die Rechte seiner Frau in betrügerischer Weise geschädigt.'

Als auch dieser Versuch, der Zahlung des Unterhalts zu entgehen, fehlgeschlagen war, verlegte er seinen Wohnsitz in einen anderen Staat, nach Brooklyn, N. Y. Russell wohnt jetzt Nr. 122-124 Columbia Heights, New York, N. Y. Seine Hauptkirche und Verlagshaus ist das sogenannte Brooklyn Tabernacle, 13-17 Hicks-Straße, Brooklyn, N. Y.

Darauf verklagte ihn seine Frau zum drittenmal, und zum drittenmal wurde Russell verurteilt, und zugleich wurde der Betrag des ihr zu gewährenden Unterhalts erhöht. Seine Frau lebt seither von ihm getrennt in Nr. 449 North School-Straße, Avalon, Pa. …

Im Jahre 1912 wurden der Kasse der Watch Tower Bible and Tract Society in barem Gelde $ 202 000 geschenkt … In dieser Gesellschaft allein, deren Haupt 'Pastor' Russell ist, sind zwischen vier und fünf Millionen Dollars angelegt. … Nachdem er es vorher geleugnet hatte, gestand Russell es später zu, daß er ein Aktieninhaber (Stockholder) der Pittsburgh Asphaltum Co. sei, die später die California Asphaltum Co. wurde, daß er außerdem der Gründer der Selica Brick Co. sei, die ganz und gar von dem Bible House in Philadelphia aus geleitet wird, sowie Gründer der Brazilian Turpentine Co., die er kontrolliert, der Cemetry Co. in Pittsburgh und der United States Coal and Coke Co., die mit $ 100 000 kapitalisiert ist. … Wir haben in Erfahrung gebracht, daß die United States Investment Co., die niemand anders als Russell selber ist, 28 Häuser und Bauplätze in Binghamton, N. Y., andere Bauplätze in Tacoma, Wash., eine Farm bei Rochester, N. Y. und einen Bauplatz in Buffalo, eine Farm in Oklahoma, 100 Bauplätze in Texas, ein Haus und einen Bauplatz bei Pittsburgh und 5500 Acker Land in Kentucky eignete. Dieses ist nur ein kleiner Teil des Besitztums dieser Gesellschaft."

Es folgt dann die bedeutsame Aussage: 'Obwohl Russell vielfacher Millionär sein soll, hat er doch nicht einen Cent auf seinen eigenen Namen. Wenn die von ihm geschiedene Frau nicht lebte, würde dieses der Fall sein? Die Frage beantwortet sich selbst."

 

Der König ist tot

Nun weilte er also nicht mehr unter den Lebenden. Der von seinen Anhängern vielfach gerühmte Pastor Russell. Schon in den ersten Tagen nach seinem Ableben, stellte sich die Frage: Wie soll es eigentlich weitergehen? Auch personell? Zwar existierte ein Testament Russell's. Aber das warf eigentlich mehr Fragen auf, als es löste. So hatte Russell (ausgehend von der Sachlage: Die Stimmberechtigung in der WTG hängt von der Höhe der eingezahlten Gelder ab) seine Stimmberechtigungen verhältnismäßig unbekannten Schwestern vermacht. Jedenfalls waren die von ihm benannte E. Louise Hamilton, Almeta M. Nation Robinson, J. G. Herr, C. Tomlins und Alice G. James, weder davor, noch danach, in der WTG-Geschichte sonderlich in Erscheinung getreten.

Zweite Rätselfrage: Zu seinen Lebzeiten war Russell als Wachtturmredakteur der "starke Mann". Was er sagte hatte Gewicht. Übergeordneten Gremien war er keine Rechenschaft schuldig. Auch das hatte sich nun geändert. Statt einen, gab es nun fünf Wachtturmredakteure, die zusehen sollten, wie sie auch miteinander klar kämen. Die Chance in einer längeren Anlaufphase, noch zu seinen Lebzeiten, sich auf diese Aufgabe vorzubereiten hatte er ihnen nicht gewährt. Zu seinen Lebzeiten waren sie nur Statisten. Was waren sie jetzt?

Wer sollte denn wenigstens in repräsentativer Hinsicht die WTG vertreten? Auch da fehlen eindeutige Aussagen Russells. Zwar hatte er zu seinen Lebzeiten schon, den Alexander H. Macmillan in gewisser Hinsicht bevorzugt. Jedoch die Frage stellt sich: War Macmillan überhaupt aus dem "Holz geschnitzt" um auch in kontroversen Situationen Standvermögen an den Tag zu legen? Rückblickend wird man diese Frage eindeutig verneinen müßen. Macmillan machte keinerlei sonderliche Anstrengungen für sich den Führerposten zu reklamieren. Im Gegenteil. Als er mitbekam woher "der Wind weht", war er es der sich mit wehenden Fahnen dem neuen starken Mann unterordnete.

Wer der neue starke Mann sein würde, war zwar von vornherein noch nicht eindeutig klar. Aber es stellte sich zunehmend deutlicher heraus. Schon anlässlich der Beerdigungsansprache für Russell, waren die Weichen im Prinzip schon gestellt. Zwei Redner besaßen anlässlich dieser Veranstaltung nur noch wesentliches Gewicht: Macmillan und Rutherford. Macmillan spielte zwar in seiner Ansprache auch noch mal (zum letzten mal) den "starken Mann". Aber doch wohl mehr in verbaler, kaum aber in substanzieller Hinsicht, wenn Macmillan bei diesem Anlass verlautbarte:

"Wir fragen uns, ob das Werk wohl in Zukunft ebenso weitergehen wird, wie bisher, ob die Wasser des Jordans noch geschlagen werden sollen, wer den siebenten Band schreiben wird, an wen wir uns jetzt wenden sollen mit all unseren verwirrenden Prüfungen und Schwierigkeiten, sowohl den persönlichen, als auch den die Herauswahl angehenden?

Der Herr hat unseren irdischen Führer hinweggenommen und einige mattherzige Arbeiter können denken, daß jetzt die Zeit gekommen ist, unsere Erntewerkzeuge hinzulegen und zu warten, bis der Herr uns heimruft. Jetzt ist nicht die Zeit, auf solche zu hören, die matt sind. Jetzt ist eine Zeit zum Handeln, zu einem entschiedeneren Handeln denn je zuvor.

Aus ganz "anderem Holz" hingegen war bei diesem Anlass die Ansprache von Rutherford geschnitzt. Klang bei Macmillan durchaus so etwas wie Resignation im Hintergrund mit, so nicht bei Rutherford. Bei letzterem kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, als wollte er schon mit dieser Rede eine Art "Vision" entwerfen. Wer sein späteres Buch "Die Harfe Gottes" kennt, der weiß, dass da in Sonderheit der Aspekt den wissenschaftlich-technischen Fortschritt im Sinne der Endzeittheorien zu deuten, einen herausgehobenen Platz einnimmt. Den heutigen mag die diesbezügliche Argumentation in der Tat lächerlich vorkommen. Wie man weiß, hat er seine Lächerlichkeit selbst noch gesteigert, insbesondere indem er später noch das Radio in das Kaleidoskop seiner Bibelauslegungen mit einbaute. 1917 war noch nicht vom Radio die Rede. Aber schon damals erfüllte er alle einschlägigen Kriterien diesbezüglich. Ohne Zweifel muss man sagen, Haupttenor von Rutherford's Begräbnisansprache stellte das Thema wissenschaftlich-technischer Fortschritt dar. Er hat sich damit zwar - historisch betrachtet - selbst zum Clown degradiert. Allein 1917 wollte man das so noch nicht sehen. Damals war das als bitterer Ernst verstandene Wahrheit. Nachstehend einige Auszüge aus dieser Rutherford-Rede:

"Es mögen einige überrascht sein, wenn ihnen gesagt wird, daß die vergangenen zweiundvierzig Jahre mehr für die Welt bedeuten in bezug auf die Zunahme der Erziehung, des Reichtums, aller Arten arbeitssparender Erfindungen und Bequemlichkeiten mehr in bezug auf Zunahme der Schutz- und Sicherheitsvorrichtungen für das menschliche Leben, als es in den ganzen sechstausend vorhergegangenen Jahren der Fall war.

Die Welt hat wahrscheinlich während dieser zweiundvierzig Jahren soviel Reichtum hervorgebracht, wie sie es während der ganzen vorhergehenden sechstausend Jahre getan hat, doch sind diese Veränderungen so allmählich gekommen, daß nur wenige sie beachtet haben.

Vor zweiundvierzig Jahren arbeiteten die Menschen von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, heute gehen wir mit schnellem Schritt dem achtstündigen Arbeitstage entgegen. Vor zweiundvierzig Jahren wurde fast alle Arbeit in der Welt im Schweiße des Angesichts verrichtet, heute geschieht sie fast ausschließlich durch Maschinen. Vor zweiundvierzig Jahren erreichte die Sämaschine gerade ihre Vervollkommnung, heute ist sie überall unentbehrlich. So ist es auch mit den tausend Bequemlichkeiten für den Haushalt. So ist es mit beinahe allen unseren sanitären Einrichtungen und Wasserleitungseinrichtungen. So ist es mit den landwirtschaftlichen Geräten, Schneide-, Binde- und Mähmaschinen, Automobile, Gasmaschinen usw. usw. In unseren Großstädten sind die modernen Bequemlichkeiten wunderbar. Salomo in aller seiner Pracht träumte nicht einmal von den Dingen, deren sich jetzt das ärmste menschliche Wesen in Amerika erfreuen kann!

Prophezeiungen, daß Ströme hervorbrechen sollen in der Wüste, und daß die Einöde blühen soll wie eine Rose, haben jetzt ihre Erfüllung, nicht durch ein Wunder, aber in Harmonie mit der göttlichen Anordnung vermehrter Klugheit unter den Menschen. Artesische Brunnen werden gebohrt, Bewässerungskanäle werden angelegt, nicht allein in dem westlichen Teil der Vereinigten Staaten und Kanadas, sondern auch in dem fernen Mesopotamien. Die Resultate sind wunderbar. Ländereien, die früher das Umzäunen nicht wert waren, haben heute einen Wert von 50 M das Ar. Das Wachsen der Erkenntnis ist vermehrt worden durch Einrichtungen der Regierung, um Kenntnisse unter dem Volke zu verbreiten. Der Boden verschiedener Gegenden soll auf öffentliche Kosten eingeteilt werden, und den Bebauern des Bodens wird kundgetan, welche Düngemittel sie anwenden müssen, um befriedigende Resultate zu erzielen.

Unter diesen Umständen überrascht es uns nicht, zu hören, daß 156 Scheffel Korn von einem Acker geerntet worden sind, und daß eine Ernte von 600 Scheffel Kartoffeln und mehr pro Acker nichts Ungewöhnliches ist. Ist nicht die Bibel erfüllt? Wer kann diese Tatsachen bestreiten? Was zeigen sie uns? Wir antworten, daß sie genau den göttlichen Erklärungen entsprechen, welche unsere Tage beschreiben. Viele sollen hin- und herlaufen, die Erkenntnis soll vermehrt werden, die Verständigen, die zum Volke Gottes gehören, sollen es verstehen. 'Und es wird eine Zeit der Drangsal sein, dergleichen nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht bis zu jener Zeit.' (Daniel 12, 4. 10. 1)

Bibelforscher sehen, daß diese große Zeit der Drangsal schon anfängt mit dem loslassen des Zornwindes in Europa. Im Lichte der Bibel bemerken sie, daß das Resultat des jetzigen Krieges eine große Schwächung der Nationen sein wird, der Regierungen der Erde und ein vermehrtes Wissen und verstärkte Unzufriedenheit unter den Völkern.

Die nächste Phase der Drangsal wird gemäß der Bibel das große Erdbeben sein desgleichen nicht geschehen, seitdem die Menschen auf der Erde waren, solch ein Erdbeben, so groß (Offenbarung 16, 18). Es ist das kein buchstäbliches, sondern ein symbolisches, Revolution.

Dann wird die dritte Phase dieses Unglücks eintreten, die dunkelste von allen; sie wird das symbolische Feuer der Anarchie sein, das unsere jetzige Zivilisation vollständig vernichten wird. Dann wird mitten in dieser furchtbaren Zeit der Drangsal, der Messias, der große König, seine große Macht an sich nehmen und sie ausüben mit dem Resultat, daß die wütenden Wogen des Meeres menschlicher Leidenschaft gestillt werden. Das Feuer der Anarchie wird gelöscht werden, und das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens wird seinen Anfang nehmen...."

1916er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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