Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Oktober 1914

In der zweiten Jahreshälfte 1914 wurde es für die Bibelforscher ernst. In doppelter Hinsicht. Einmal durch den Kriegsausbruch und zum zweiten durch ihr angefiebertes Datum 1. Oktober 1914. Zum Kriegsausbruch notiert der WT vom September 1914:
"Der Krieg ist plötzlich über die Welt hereingebrochen. Die lieben Leser des Wachtturms und der Schriftstudien von Bruder Russell haben diese Trübsal vorhergesehen und erwartet. Aus diesem Grunde müssen wir im Geiste frohlocken, aufsehen und unsere Häupter emporheben, von ganzem Herzen 'unseres Leibes' Errettung erwartend, nämlich das Ende der Laufbahn der letzten Glieder der Herauswahl im Fleische und ihre Verwandlung zur geistigen Stufe des Daseins mit neuen unverweslichen, herrlichen Leibern, gleichgestaltet dem Leibe der Herrlichkeit Christi Jesu, unseres Herrn."
Gleichwohl veröffentlichte der amerikanische "Watch Tower" vom 15. Oktober 1914 (in der deutschen "Wachtturm"-Ausgabe vom Dezember 1914 nachgedruckt), eine Solidaritätsadresse an die kriegführenden Nationen. In ihr konnte man lesen:
"In solchen Zeiten, wie sie jetzt sind, empfinden wir eine herzliche Teilnahme mit den obrigkeitlichen Gewalten, sintemal diese von Gott verordnet sind. Wir erinnern uns der Worte des Apostels Paulus: 'Ich ermahne vor allen Dingen, das Flehen, Gebete, Fürbitten, Danksagungen getan werden für alle Menschen für Könige und alle, die in Hoheit sind, auf daß wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und würdigem Ernst. Denn dieses ist gut und angenehm vor unserem Heiland-Gott, welcher will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen."
Der Kriegsausbruch wurde von den zeitgenössischen Bibelforschern besonders im Hinblick auf die Sozialdemokratie ausgedeutet. Die Spannungen zwischen Sozialdemokratie und den herrschenden konservativen Kräften, inspirierten auch die Wachtturmschreiber. So in einem Artikel vom Oktober 1914, der nachstehend zitiert sei:
"Die lange erwartete Erschütterung der sozialen Erde hat, wie wir glauben, bereits ihren Anfang genommen. Der große Krieg, für den Europa seine Truppen gedrillt, Schätze aufgespeichert und Waffen in Bereitschaft gehalten hat, erschüttert jede Nation in finanzieller, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht.
Während der vergangenen fünfzig Jahre sind die Massen der Menschheit insbesondere durch Bereicherung an Wissen gefördert worden, und ihre Macht ist dementsprechend gewachsen. In demselben Maße haben die Irrtümer, der Aberglaube und die Knechtschaft vergangener Zeiten das Feld räumen müssen. Es hat eine dementsprechende soziale Revolution stattgefunden, die sich ihrer Art nach von allem, was bisher dagewesen ist, unterscheidet. Der Sozialismus ist eine Revolution, die sich auf Vermehrung des Wissens gründet, obgleich, wie wir versuchen wollen darzutun, viele seiner Schlußfolgerungen Trugschlüsse sind und manche seiner Bestrebungen sich wahrscheinlich in der Zukunft als überaus schädlich erweisen werden. Wenn nicht schließlich das Königreich Christi die Regentschaft in die Hand nehmen würde, so würde alles durch die zum großen Teil irrigen Weltverbesserungspläne des Sozialismus benachteiligt werden.
Europa ist mit dem Sozialismus durchsetzt, der gleich einem Sauerteig das ganze Gebäude der gesellschaftlichen Ordnung in Gärung versetzt. Könige und Kaiser dürfen ihm nicht zu offenkundig entgegentreten, und alle ihre geheimen Pläne haben nicht vermocht, seine Entwicklung zu hindern. Der jetzt begonnene allgemeine Krieg hat von verschiedenen Seiten her seinen Anstoß bekommen. Die Politik hat insoweit mit ihm zu tun, als die verschiedenen Länder die Erweiterung ihrer politischen Einflusssphären erstreben.
Wir glauben, daß auch der Sozialismus einen nicht unwesentlichen Faktor in dem jetzt tobenden Kriege spielt, der der größte und schrecklichste und wahrscheinlich auch der letzte Krieg der Erde sein wird. Der Sozialismus steht insofern in Beziehungen zu dem Kriege, als die Könige und Kaiser hoffen, daß Patriotismus und Selbstverleugnung die Interessen und Sympathien ihrer Völker, die unter dem Einfluß des Sozialismus gelockert werden, zusammenschmieden. Sie riskieren lieber einen allgemeinen Krieg, um nicht einer sozialen Revolution ins Antlitz schauen zu müssen.
Während innerhalb der letzten dreißig Jahre der Sozialismus die politische Erde erschüttert hat, haben andere Kräfte mit großer Gewalt die kirchlichen Himmel erschüttert. Wo wir auch hinsehen mögen, überall finden wir, daß nicht nur Unwissenheit und Aberglaube jetzt nicht mehr bei allen Christen Fuß zu fassen vermögen, sondern überdies viele bekennende Christen in ihrem Glauben an eine göttliche Offenbarung und manche sogar in ihrem Glauben an einen persönlichen Gott erschüttert sind. Ja, es ist heute sogar an der Tagesordnung, daß christliche Geistliche sich in ihren Kreisen rühmen, den Glauben an die Bibel verloren zu haben - unter dem Einfluß dessen, was man als 'höhere Textkritik' bezeichnet und was man früher 'Unglaube' nannte."
Über den Oktober 1914 und seine Bewältigung durch Russell liegt ein verschiedentlich schon zitierter Bericht vor (Vgl. "Geschichte der Zeugen Jehovas" S. 553, 554). Er sei auch hier nachstehend wiedergegeben:
„Dann kam der 2. Oktober 1914. Wir, dass heißt die Bethelfamilie, saßen zum 1. Frühstück bereits am Tisch, als Bruder Russell den Raum betrat. Eine Stille trat ein, jeder war erwartungsvoll, was würde wohl Bruder Russell heute wohl sagen? Seine ersten Worte waren: 'Guten Morgen alle zusammen'! Danach klatschte er überraschend in seine Hände und sagte freudig: 'Die Zeiten der Nationen sind abgelaufen, die Tage ihrer Könige gezählt.' Natürlich klatschten wir ebenfalls über diese Mitteilung, aber wir erwarteten von Bruder Russell mehr. Leider, unsere Neugier wurde nicht gestillt.
Als Bruder Russell erkannte, dass wir mehr erwarteten, fragte er uns: 'Ist jemand enttäuscht? Ich nicht. Alles verläuft planmäßig.' Mir war als hätte mir jemand einen Stich ins Herz versetzt. Nachträglich erfuhr ich von meinen engsten Freunden, wie ihnen nach den Worten Bruder Russells zumute war. Es war bitter für uns. Selbst der engste Mitarbeiter Bruder Russells, Bruder Macmillan, war über die Ausführungen Bruder Russells niedergeschlagen.
Bruder Macmillan hatte doppelten Grund niedergeschlagen zu sein, denn er bekam von Bruder Russell den Auftrag, in einem Vortrag zur gegenwärtigen Lage Stellung zu nehmen. Dieser Vortrag war für Sonntag, den 4. Oktober … angesetzt. … Bruder Macmillan erzählte mir nachträglich, wie schwer ihm diese Ausarbeitung fiel; er sagte: …'In diesem Vortrag versuchte ich der Bethelfamilie klar zu machen, dass einige von uns wohl ein bisschen voreilig gewesen waren, als sie glaubten, im Oktober himmelwärts zu gehen. In Wahrheit belog ich mich selbst und andere. Was ich ausgearbeitet hatte, war praktisch leeres Stroh, geistloses Geschwätz, nur um Bruder Russell zufrieden zu stellen.'
Unser Bruder Macmillan hatte es in den darauffolgenden Wochen schwer. Ich selbst erlebte viel Unangenehmes im engsten Kreise. Auch Bruder Russell war niedergeschlagen, trotz seines Optimismus. Die wenigsten glaubten seinen Worten. Die Atmosphäre im Bethel war herzzerreißend. Verbitterung und Aufgabe waren die Folge. Viele verließen das Bethel und wollten erst einmal allein sein. Dieser Zustand verschlechterte natürlich die Krankheit von Bruder Russell, der dann Ende 1916 starb."
1914er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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