Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Auftritt in Wien

Während einer Europareise absolvierte Russell auch einen Auftritt in Wien. Schon im Vorfeld war dafür gesorgt worden, dass als beabsichtigtes Thema, der Zionismus, weitgehend bekannt gemacht wurde. Und so blieb denn jene Veranstaltung nicht ohne Resonanz. Die Tageszeitung "Neues Wiener Journal" berichtete unter der Überschrift "Skandalszenen während eines Vortrages" am 23. 11. 1911 darüber. Man konnte dort lesen:

"Im großen Saal des Hotels Continental erschien gestern der bekannte amerikanische Missionar Pastor Russell, um über das Thema 'Zionismus in der Prophezeiung' zu sprechen. Der Vortrag war schon für vorgestern angekündigt, Pastor Russell konnte aber wegen Zugverspätung nicht persönlich erscheinen. Für ihn trat sein Dolmetsch vor, um einige Aufklärungen über die Person des erwarteten Redners zu geben, wurde aber durch die zahlreich anwesenden Zionisten in lärmender Weise unterbrochen.

Die Skandalszenen wiederholten sich in nachhaltigerer Art während des gestrigen Vortrages. Abermals hatten sich schon vor 9 Uhr abends zahlreiche Zuhörer im Saal eingefunden, vor dessen Eingang Agitationsschriften in jüdischer Sprache verteilt wurden, die vom zionistischen Teil des Publikums in demonstrativer Weise zerrissen wurden.

Inzwischen hatte Pastor Russell, dessen ehrwürdiges typisch priesterhaftes Aussehen auffiel, auf dem Podium Platz genommen und begann mit seinem Vortrag in englischer Sprache. Ein neben dem Redner stehender Dolmetsch übersetzte die Rede satzweise.

Schon bei den ersten Worten entstand ein ohrenbetäubender Lärm. Die Zionisten, zumeist ganz junge Leute, opponierten durch laute Zurufe und Pfiffe gegen die Verquickung des Zionismus mit der Bibel und suchten die weiteren Auseinandersetzungen zu verhindern. Einige stimmten das jüdische Nationallied an, andere warfen die Stühle um. Nur mit größter Mühe verschaffte sich Pastor Russell für einen Moment noch Gehör, betonte, daß er als Philosemit gekommen sei und bat, ihn ruhig anzuhören.

Auch ein Zionist ergriff das Wort und wies darauf hin, daß der Vortragende ein Freund Dr. Theodor Herzls gewesen und deshalb schon auch von seinen Gegnern geachtet werden müsse. Der Lärm verstärkte sich aber immer mehr, so daß der Redner den Saal unter schützender Begleitung der besonneren Elemente verlassen mußte. Die Anwesenden verharrten jedoch weiter unter lärmenden und erregten Diskussionen, die nahezu zu einem Handgemenge führten. Erst beim Erscheinen einiger Wachleute verließ das Publikum langsam das Lokal.."

In Ergänzung dieses Berichtes notierte das "Neue Wiener Journal" am 24. 3. 1911 noch:

"In Ergänzung unseres gestern … gebrachten Berichtes über die Vorgänge während des von Pastor Russell gehaltenen Vortrages wird uns von zionistischer Seite mitgeteilt, daß sich die Opposition hauptsächlich gegen das frühere Vorgehen des Redners richtete. Pastor Russell wird von den Zionisten beschuldigt, die Herzlmarken des jüdischen Nationalfonds nachgebildet und auch durch sein sonstiges Vorgehen die zionistische Bewegung geschädigt zu haben. Die Demonstrationen im Vortrag waren lediglich ein Ausdruck dieser Erbitterung."

Dazu schrieb die Zeitschrift "Die Welt. Zentralorgan der Zionistischen Bewegung" schon in ihrer Ausgabe vom 22. 7. 1910:

"Wir erhalten ein in New York zur Verbreitung gelangtes Missionsflugblatt, das wieder einmal zeigt, daß die Devise 'Der Zweck heiligt die Mittel' bei den Herren Missionaren nach wie vor in Geltung ist. Dieses Flugblatt enthält auf der Titelseite das Bild unserer Herzlmarke in vergrößerter Form, was jedoch offenbar nur zur Irreführung der Juden bestimmt ist. Auf derselben Seite ist aber auch eine genaue Reproduktion der Marke enthalten, die statt des Bildes unseres verewigten Führers das Konterfei des Missionspredigers Pastor Russell aufweist. Diese Manipulation ist eine Fälschung, die in Europa schwer bestraft wird. Leider steht uns bei den mangelhaften Kunstschutzgesetzen in Amerika kein Mittel zu Gebote, um die frommen Herren gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Wir müssen uns daher darauf beschränken, dieses Vorgehen öffentlich zu brandmarken und die jüdischen Blätter in Amerika zu bitten, vorstehende Notiz abzudrucken."

Seitens der Bibelforscher wurde eine intensive Pressearbeit getätigt. So wurde dem "Neuen Wiener Journal" auch der volle Text jenes Russellartikels zugestellt. Eine ellenlange Abhandlung. Und die Bibelforscher konnten sich sicherlich nicht beklagen. Das "Neue Wiener Journal" druckte doch tatsächlich diesen Vortrag am 22. 3. 1911 im vollen Wortlaut ab. In geschönter Diktion, wie man beim lesen unschwer erkennen kann. Man kann die Sache aber auch anders bewerten. Darauf macht das Zentralorgan der Zionistischen Bewegung aufmerksam. Es verweist darauf, dass es sich bei dem ellenlangen Artikel um ein bezahltes Inserat der Bibelforscher handelt. Nachstehend auch noch dieser Text:

"Der Zionismus in der Prophezeiung

Pastor Russell (New York und London) erfreute sich gestern abend im großen Saal des Hotels Continental einer großen und intelligenten Zuhörerschaft. Er sprach im wesentlichen wie folgt über Jes. 40, 1 u. 2: 'Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott; redet zu Jerusalem freundlich und predigt ihr, daß ihre Bitterschaft ein Ende hat, denn ihre Missetat ist vergeben; denn sie hat Zwiefältiges empfangen von der Hand Jehovas für alle ihre Sünden.'

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich die Worte unseres Textes auf den Samen Jakobs beziehen, welcher jahrhundertelang schmerzliche Erfahrungen gemacht hat. Er bildete eine Nation ohne Land, ein Volk mit den wundervollsten Verheißungen, und doch im Besitze keiner derselben, ein Volk über die ganze Erde zerstreut, und doch nach Gottes willen und Verheißung getrennt von allen anderen Völkern.

Die Juden sind ein Wunder in sich selbst. Sie sind für diese zivilisierte Welt Zeugen von Gottes Verheißungen und seiner Macht. Wie die Schrift vorhergesagt hat, haben sie jahrhundertelang weder einen Propheten noch einen Priester gehabt, weder einen Leibrock mit Brustschild, noch Gesicht oder Offenbarung. Das Volk, welches zu einer Zeit allein die Ehre besaß, daß ihm Gottes Absichten kund getan wurden, ist seit mehr als 1800 Jahren verlassen und ohne Beweise göttlicher Gunst gewesen, außer in der einen Tatsache, daß seine Einheit als Volk bewahrt blieb.

Wir gehören nicht zu denen, welche über die Juden spotten und sie mit Schimpfnamen belegen. Wir sagen nicht, die Rache Gottes liegt auf euch, und das was ihr jetzt leidet, ist nur ein Vorgeschmack von schrecklichen Leiden, welche ihr in alle Ewigkeit erdulden müßt! Gott sei Dank, nein! Wir haben keine solch arge Gesinnung in unserem Herzen. Wir haben nur Mitgefühl mit den Juden, obwohl wir in ihm sowie in allen Adamskindern vieles sehen, was nicht empfehlenswert ist; trotz alledem sehen wir auch seine empfehlenswerten Eigenschaften. Unter anderem sehen wir die Eigenschaft, welche Gott an Abraham so sehr schätzte, nämlich den Glauben an ihn und seine Verheißungen. Solcher Glaube hat das auserwählte Volk all die Jahrhunderte hindurch begeistert, auf das verheißene Reich des Messias zu warten, trotz aller Entmutigungen und Verfolgungen.

Und jetzt haben wir nun beinahe die Zeit erreicht, in welcher nach den Prophezeiungen der jüdischen Schriften die Herrlichkeit des Herrn offenbart und von allem Fleisch gesehen werden soll. (Jes. 40,5). Die lang verheißene Zeit für Israels Erhöhung zum Kanal der messianischen Segnungen für alle Menschen ist nahe, sie eilet mit Macht. Was schadet es, daß in Verbindung mit der Einführung der neuen Ordnung noch eine große Zeit der Trübsal kommen soll! Hinter dem Seufzen und Weinen tagt der Morgen, der herrliche Tag, an welchem die Sonne der Gerechtigkeit alle Schatten des Todes und der Verzweiflung aus der Welt vertreiben wird, welche die Sünde und ihre Strafe auf das Menschengeschlecht gebracht haben!

Was liegt daran, daß nach der Schrift in Verbindung mit der Zeit der großen Trübsal für die Welt auch über Israel noch 'die Zeit der Angst Jakobs' kommen soll! Nichts von alledem soll uns daran hindern, uns über die neuen Himmel und die neue Erde zu freuen, welche Gott bald zu schaffen versprochen hat, um durch dieselben die Welt zu beherrschen. 'Sie werden sich ewiglich freuen und fröhlich sein über dem, was ich schaffe.' (Jes. 65,18).

'Neue Himmel' und eine 'neue Erde' sind nur symbolische Ausdrücke für das neue Zeitalter, in welchen eine neue soziale Ordnung sowie auch neue geistige Mächte, ewig in den Himmeln da sein werden.' Die Zeit ist gekommen, in welcher unser Text seine Erfüllung findet. Der helle Schein der Lampe der Wahrheit auf die prophetischen Blätter zeigt, daß die große Uhr des Weltalls die Stunde anzeigt wenn der, dessen Recht es ist, seine große Macht übernehmen und herrschen wird. Ja, wir erinnern uns, daß geschrieben steht, daß dann die Völker zornig sein werden und Gott seinen Grimm offenbaren wird; daß dann das Gericht der Toten und der Lohn für alle, Große und Kleine kommen wird. Dessenungeachtet freuen wir uns, daß die 'Zeiten der Heiden' bald zu Ende sind, und die Zeit der theokratischen Herrschaft des Messias nahe ist. Er muß herrschen, bis er alle Ungerechtigkeit und allen Widerstand unterdrückt hat, bis sich ihm jedes Knie gebeugt und jede Zunge ihn bekannt hat zur Ehre Gottes des Vaters.

Die erste Arbeit des Königreiches wird das Binden des Satans sein, das Werk eines himmlischen, nicht eines irdischen Königs. Nach und nach in den Gerichten, Befehlen, Belohnungen, Strafen der Menschen und in der Verbannung von Sünde und Tod, wird der große König der Gerechtigkeit seinen gnadenvollen Charakter und des Vaters Gerechtigkeit den Menschenkindern zeigen.

Ein König, aber zwei Königreiche

Die Christenheit im allgemeinen hat in der Vergangenheit übersehen, daß die an Abraham gegebenen Verheißungen durch seinen Samen erfüllt werden sollen, durch eine himmlische Klasse und durch eine irdische Klasse, mit dem Messias als Haupt über beide. Achtzehn Jahrhunderte lang hatte Gott Abrahams Samen, das Volk Israel, begünstigt. Sie erfuhren Strafen und Ermahnungen zur Gerechtigkeit, doch hatten sie während all dieser Zeit die göttliche Gunst im Gesetz und den Propheten, und in den Vorteilen, welche aus dem Gesetzesbund erwuchsen, wie zum Beispiel den jährlichen Versöhnungstag, durch welchen sie in der Gunst Gottes erhalten blieben. Diese Zeit der göttlichen Gunst fing mit dem Tode Jesu an abzunehmen, und kam im Jahre 70 nach Christi, als die römische Armee Jerusalem zerstörte, zum vollständigen Ende. Eine solch lange Zeit ist seither verflossen, welche unser Text das 'Zwiefältige' oder 'Doppelte' nennt, und nun kehrt Gottes Gunst wieder zu dem jüdischen Volke zurück.

Die Juden waren zu keiner Zeit während der verflossenen 1800 Jahre so behaglich und günstig gestellt wie jetzt. Ihr Segen hat eben nur erst angefangen. In Gottes eigener Zeit, welche nahe bevorsteht, wird er seinem auserwählten Volke all die herrlichen Verheißungen in dem Gesetz und den Propheten erfüllen. Die Juden fangen bereits an, diese Tatsachen wahrzunehmen. Die Zionistenbewegung, welche anfänglich eine politische war, fängt jetzt an, als eine religiöse Bewegung zu erblühen, und ohne Zweifel nach Gottes Vorsehung. Die Worte der Verheißung, welche so lange ohne Verständnis gelesen wurden, fangen an, leuchtend hell zu werden und weisen ihnen den Weg des Herrn, welcher zur Wiederaufrichtung Jerusalems und höherer Ideale unter dem jüdischen Volke führt. Eine Stimme wird gehört in der Wüste, und die Juden überall horchen auf dieselbe. Sie verlangt nicht von ihnen Christen zu werden, sondern Juden zu bleiben und als solche die Ideale zu erkennen, welche ihnen der Herr in den Propheten vorgestellt hat.

Alle, welche sich leiten lassen, werden in Kürze einen großen Segen empfangen, welcher sie für alle Leiden in der Vergangenheit entschädigen wird. Weder durch Schwerter noch Kanonen, weder durch Kriegsschiffe noch Luftschiffe oder Torpedos wird Israel den großen Sieg erlangen, weder durch Geldmacht, noch durch Anbeter des goldenen Kalbes der Finanzen noch durch den Arm des Fleisches, sondern dadurch, daß sie auf den Herrn schauen, von welchem die Hilfe kommt. Das geistige Weltreich des Messias, welches aufgerichtet wird, wird den Satan binden, das Böse hindern und die Richtschnur in Gerechtigkeit für die Menschen aufrichten; er wird das Volk Israel segnen und an stelle des alten Gesetzesbundes den Neuen Bund mit ihm schließen, durch den besseren Mittler, welcher mächtiger ist, als der große Moses war; der ein größerer König ist, weiser als Salomo und von Gott geliebter als David. Dieses große himmlische Reich wird in der Welt unter großer Trübsal aufgerichtet werden, einer Zeit der Angst und Not, welche die Propheten als sehr schrecklich beschreiben, eine Zeit anarchischer Herrschaft. Juden, Christen und Heiden, Arme und Reiche sind verantwortlich für das Hereinbrechen dieser Trübsalszeit, wegen der Selbstsucht, welche jetzt die Welt regiert, deren großartige Zivilisation der Herr in Kürze zerschlagen wird. Sozialistische Wortschlachten und kirchliche Vereinigungen werden den Kampf nur verschärfen.

Israels Hoffnungen - warum verzögert?

Der Gedanke, welche unsere jüdischen Freunde sowie auch die Christen quält, ist dieser: Wenn das Reich des Messias noch aufgerichtet werden soll, wie die Juden erwarten, und wenn es Gottes Absicht ist, die heiligen Männer des Alten Bundes und das bevorzugte Volk Israel in Zukunft als Werkzeuge zur Hinausführung seiner Segenspflichten zu gebrauchen, warum hat er diese Sache so lange verzögert?

Wie wir im 45. Psalm lesen: 'Anstatt deiner Väter werden (sie) deine Kinder sein, die wirst du (Messias) zu Fürsten setzen in alle Welt', zu Stellvertretern seiner Macht, Herrschaft und Autorität. Zu der Zeit wird der Segen zu Israel zurückkehren, welche Gott vor achtzehn Jahrhunderten von ihnen genommen hat. Unter ihrem Neuen Bunde sollen sie gesegnet werden.

Ich nötige niemals die Juden, Christen zu werden, aber ich zeige ihnen die göttliche Richtschnur, um sich für die Erfüllung der ihnen gegebenen göttlichen Verheißungen bereit zu halten. Daß die Zeit für die Erfüllung vorhanden ist, ist der Trost, welchen wir ihnen anbieten, gemäß unseres Textes. Der Prophet sagt, daß, wenn sie in ihr eigenes Land zurückgekehrt sein werden, und nachdem die große Trübsalszeit hereingebrochen ist, dann die Juden ihren großen Messias der Herrlichkeit erkennen werden, auf dessen Reich sie so lange gewartet haben. Der große 'Michael' in Daniel 12 ist kein anderer als der Mensch Christus Jesus, welcher sich vor nahezu 1900 Jahren gegeben hat zum Ersatzlösegeld für alle Menschen. Gott wird dann die Augen ihres Verständnisses öffnen, und der Prophet sagt: 'Sie werden sehen, welchen sie durchstochen haben', sie werden dann sehen, daß der Jesus, welcher für die Sünden Israels und der Welt geopfert wurde, und der Messias der Herrlichkeit, welcher unter seiner Herrschaft Israel zum Segen der übrigen Völker gebrauchen will, ein und derselbe ist.

Ausführlicheres über die prophetischen Studien Pastor Russells versendet gratis der Volkskanzelverlag in Barmen, Deutschland."

Einen zusammenfassenden Kommentar veröffentlichte die in Köln erscheinende Zeitschrift "Die Welt. Zentralorgan der Zionistischen Bewegung" in ihrer Ausgabe vom 12. 5. 1911. Unter der Überschrift "Die Tätigkeit des Pastor Russell" konnte man darin lesen:

"Das traurige Schicksal, das die mit so viel Hoffnung begonnene Missionsreise des Pastor Russell nach Europa erfahren hat, haben wir bereits mitgeteilt. Sowohl in Wien, als auch in Lemberg und an anderen Orten erheben die Zionisten energischen Einspruch gegen die Tätigkeit des amerikanischen Missionars, der sich unter dem Vorwand der Philozionismus mit der Seelenfängerei beschäftigt. Die Arbeitsmethoden dieses 'Freundes' sind recht sonderbare. Wir haben schon im Vorjahr auf seine Nationalfondsmarke aufmerksam gemacht, auf welcher der edle Pastor sein Konterfei an Stelle des Bildnisses Dr. Herzls eingeschmuggelt hat. Wir bezeichneten damals dieses Vorgehen mit dürren Worten als eine Fälschung. Pastor Russell gibt aber nicht nach, und dieselbe Marke, auf welcher Pastor Russell sinnend und würdevoll auf Jerusalem sieht, findet sich in Heft I und II (Januar/Februar) 1911 der in Barmen und Brooklyn erscheinenden Missionszeitschrift 'Der Wachtturm'. Von dieser Reproduktion abgesehen, bietet der sonstige Inhalt des Heftes, der in dem bekannten Traktätchenton geschrieben ist, die Gewähr, daß auf solche Weise Pastor Russell wohl keine Erfolge erzielen wird.

Dieser Agitationsschrift in deutscher Sprache reiht sich würdig eine andere in jüdischer Sprache abgefaßte an, welche den Titel 'Die Stimme' führt. Den Hintergrund für die Titelüberschrift bildet die Figur Moses, der mit ausgestreckter Hand auf Jerusalem deutet. Der Inhalt dieser ersten Seite ist recht harmlos und ganz so abgefaßt, wie er bei den amerikanischen Judenzeitungen zu sein pflegt.

Auf der zweiten Seite folgt dann die marktschreierische Abbildung des bekannten Massenmeetings im Brooklyner Hippodrom, auf welchem Pastor Russell eine Missionsrede hielt, an deren Schluß er durch einen Kirchenchor die Hatikwah anstimmen ließ. Es ist bekannt, daß die meisten der Anwesenden nach dieser Provokation zornig die Versammlung verließen, und daß am folgenden Tage die New Yorker Zionisten gemeinsam mit der Kehillah eine Flugschrift verbreiteten, in welcher vor Russell gewarnt wurde.

In dem vorliegenden Exemplar des Blattes wird dieses Meeting als ein 'historisch-jüdisches Massenmeeting von bedeutender Wichtigkeit' bezeichnet. Seite 3 enthält dann eine große Photographie Pastor Russells. Seite 4 verläuft langweilig wie alle Missionsschriften und Seite 5 reproduziert wieder 2 Bilder.

Mit diesen hat es seine eigne Bewandtnis. Die Bilder stellen beide einen Friedhof dar, auf dem zwischen Grabsteinen Ahasver sitzt. Auf dem einen Bild starrt er in Verzweiflung vor sich hin, auf dem zweiten Bild blickt er angenehm überrascht auf Pastor Russell, der ihm ein Blatt vorhält, auf dem verschiedene Prophezeiungen angegeben werden. Diese beiden Bilder sind dem New Yorker 'Big Stick' (der große Stock) entnommen, einem Jargon-Witzblatt, das die Bilder als eine Satire des Treibens Russells im September des vorigen Jahres gebracht hatte. In der 'Stimme' ist dieser Zweck verschwunden und die Bilder dienen zu einer Glorifizierung des Missionars. Diese Angaben genügen wohl, um ein Urteil über Pastor Russell zu ermöglichen. Wir glauben nicht, daß seine recht eigenartige Freundschaft für das Judentum, auf die wir gerne verzichten, viele Schafe in seine Hürde treiben wird."

Auch Franz Stuhlhofer hat sich in seinem 1990 erschienenen Zeugen Jehovas bezüglichen Buch mit der Publizistik im "Neuen Wiener Journal" auseinandergesetzt und kommt auch zu dem Resultat. Da wurde von WTG-Seite ein bezahltes Inserat lanciert, dass in seiner Aussage mit dem tatsächlichen Ablauf der Geschehnisse, keineswegs "harmoniert". Stuhlhofer notiert (S. 241f.)

Am Mittwoch, dem 22. März 1911, brachte das Neue Wiener Journal ein halbseitiges Referat über einen Vortrag Russells:

»Der Zionismus in der Prophezeiung. Pastor Russell (New York und London) erfreute sich gestern abend im großen Saal des Hotel Continental einer großen und intelligenten Zuhörerschaft. Er sprach im wesentlichen wie folgt ...«

(Dieser Vortrag hätte demnach am Dienstag stattgefunden.) Nach dieser Einleitung wird der Inhalt präsentiert, und das Ganze schließt mit dem Hinweis: »Ausführlicheres über die prophetischen Studien Pastor Russells versendet gratis der Volkskanzelverlag in Barmen, Deutschland.« (S. 14)

Unterhalb des Vertrages stehen Anzeigen verschiedener Firmen. Einige Gesichtspunkte sprechen dafür, daß es sich bei diesem Referat um eine bezahlte Anzeige handelt. Zum ersten der zitierte Schlußsatz. Zum zweiten, daß Russell den Vortrag am Dienstag gar nicht gehalten hat — der Zeitung muß der ganze Text also schon vorgelegen haben.

Am Tag darauf brachte dieselbe Zeitung einen Bericht über zwei Vorträge, vom Dienstag und vom Mittwoch: Für Dienstag war zwar Russell angekündigt, doch hatte sein Zug Verspätung, so daß lediglich dessen Dolmetscher versuchte, einiges über Russell zu sagen. Es gelang ihm aber kaum, da die Zionisten laut schrieen und ihn übertönten. Am Mittwoch erschien dann Russell persönlich, aber ihm erging es genauso ...

Dieser Bericht erstreckt sich etwa über ein Zehntel der Seite mitten unter anderen Kurznachrichten stehend (S. 8). Hätte das Neue Wiener Journal tatsächlich Russell und dessen Vortrag über den Zionismus derart wichtig gefunden, daß es ihm eine halbe Seite widmen wollte — warum wird dann der zionistische Widerstand gegen Russell und der tatsächliche Verlauf des Abends derart kurz abgefertigt? Auch die am folgenden Tag gebrachte Ergänzung darüber, wie der Widerstand zionistischerseits gerechtfertigt wurde, ist äußerst knapp gehalten. All das läßt vermuten, daß die Bibelforscher eine halbe Seite Anzeigenplatz kauften, und daß die Zeitung diese Anzeige (ohne Kennzeichnung als solche) brachte, obwohl der Abend ganz anders abgelaufen war.

1911er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

 

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