Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Russells Politik

Man macht immer wieder eine bemerkenswerte Erfahrung. Etliche religiös orientierte Menschen glauben, Politik ginge sie nichts an. Wie dies kann man da nur zurückfragen. Wenn Ihr keine Politik treibt, dann werden andere es tun. Und sie werden das durchsetzen, was sie aus ihrer jeweiligen politischen Erkenntnissicht als angemessen erachten. Widerstand brauchen sie nicht zu fürchten, da ja die vorgenannten Religiösen sich selbst "entmannt" haben und sich faktisch die Politik die andere für richtig halten, diktieren lassen.

Nun mag man im Falle Russells und seiner Nachfolger einwenden, ihre politische Entmannung hat ihre Wurzel in der akuten Endzeiterwartung: "Gott wird's schon richten". Wie aber wenn Gott in diesem Fall überhaupt nicht zu diesen Wunschthesen steht?! Dies ist doch gerade am Falle der Bibelforscher/Zeugen Jehovas mit ihrer langen Kette von Endzeitspekulationen nachweisbar.

Aber auch in ihrem Falle gilt. Auch durch ihre Versagung betreiben sie Politik. Die Frage ist lediglich die, ob sie mit ihren ureigensten Interessen wirklich konform geht?

Da gab es im Jahre 1911 seitens der Bibelforscher eine Flugschriftenreihe (speziell auch für die Öffentlichkeit gedacht), die nannte sich "Die Volkskanzel". Sieht man sich diesen Jahrgang 1911 näher an, so sind darin sehr wohl politische Aussagen nachweisbar. Etwa jenes ganzseitiges Inserat, worin der "Wachtturm"-Redakteur Koetitz am 20. 10. In Dresden über das Thema sprechen wollte: "Unsere gegenwärtige Weltlage im Lichte der Bibel."

Etwa jene Referierung eines geschichtlichen Ereignisses. Und zwar des Opiumkrieges, den England gegen China angezettelt hatte. Oder auch jener Satz der da klar behauptet:

"Die Bibel sagt uns, daß die Welt einer Monarchie bedarf, - einer starken, zentralisierten Regierung, in der die Massen keine Stimme haben dürfen, denn in ihrem gefallenen Zustand wissen sie nicht, was zu ihrem eigenen Besten dient."

Dieser Satz erweist sich in der Tat als ein Schlüsselsatz zum Verständnis der Zeugen Jehovas in Vergangenheit und Gegenwart. Eine Führungsclique bestimmt. Wohnhaft in Brooklyn, New York, inklusive ihrer regionalen Statthalter. Alles hat sich dieser Clique, angeblich von Gott geleitet, unterzuordnen. Ihre Entscheidungen sind "unfehlbar". Da kann in der Tat selbst der Papst in Rom noch neidisch werden, ob solcher glashart formulierten Machtansprüche.

Bleiben wir noch einen Moment bei der in jenem "Volkskanzel" referierten Opiumkrieg in China. Um es vorweg zu sagen, was die Darstellung seiner Geschichte anbelangt, habe ich keinen wesentlichen Dissenz. Allerdings werde ich mir noch erlauben im Anschluß daran, noch einen kommentierenden Satz hinzuzufügen. Beginnen wir also mit der Darstellung, was die "Volkskanzel" diesbezüglich ihren Lesern mitteilt:

"Der größte Fluch Chinas ist das Opium. Vor einem halben Jahrhundert versuchte China, der Lage Herr zu werden und sich gegen alles ausländische Opium zu schützen. Es kamen aber reiche Engländer in Betracht, die in Indien große Interessen hatten, wo die Mohnblume üppig wächst, aus welcher das Opium gewonnen wird. Die Folge davon war ein Krieg, in welchem die heidnischen Chinesen, die keine modernen christlichen (?) Kanonen und Schiffe besaßen, einen schweren Verlust erlitten. Die Engländer setzten sich in China fest, nahmen ein ansehnliches Stück Land in Besitz und stellten einen Vertrag auf, welchen die Besiegten anzunehmen gezwungen wurden. Der Vertrag schreibt die Einfuhr des Opiums nach China vor. China kann den Handel nicht verwehren, ohne einen Krieg mit dem mächtigsten Königreich Christi (?) auf Erden, soweit die Flottenstärke in Betracht kommt heraufzubeschwören.

Die jungen Männer des heidnischen China haben eine Riesen-Petition in Angriff genommen, um der Opiumeinfuhr ein Ende zu bereiten. Die Unterschriften sollen 200 000 betragen, um die 400 000 000 Menschen Chinas zu vertreten. Die Petition richtet sich an die Adresse Seiner Majestät des Königs Georg von Großbritannien und Irland und Kaisers von Indien und der Inseln des Meeres und Hauptes der Kirche Englands - des mächtigsten Königreiches Christi(?) auf Erden.

Der Wortlaut dieser Petition ist schon im New-York-Herald vom 17. Februar ds. J. erschienen. Sie erwähnt, daß schon einmal im Jahre 1858 eine ähnliche Petition, aber ohne Erfolg, an die Königliche Großmutter des Königs eingereicht worden sei, als sie die Vertreterin dieses Zweiges des Königreiches Christ(?) war.

Ist dies alles nicht sehr ungereimt! Sehr sonderbar? Welche Heuchelei haben wir verübt! Wie sollten wir uns alle dessen schämen! Bedenken wir doch - eine der hauptsächlichsten Nationen der Erde sendet mit der einen Hand Bibeln und Missionare zu den Heiden, und Branntwein und Opium mit der anderen. Ist es da Wunder, daß die Heiden unsere Falschheit erkennen und unsere Anträge, so gut sie eben können, zurückweisen? Ist es zu verwundern, daß das 'gewöhnliche Volk' Großbritanniens nicht imstande ist, es mit der Religion ernst zu nehmen, und von jeder Verbindung mit der Kirche ab- und in den Unglauben fällt?

Es ist kein Wunder! Kehren wir zurück zur Ehrlichkeit und Wahrheit. Räumen wir ein, daß Großbritannien eines der Reiche dieser Welt ist. Legen wir die Fehler unserer Selbstsucht nicht Gott und dem Königreiche Christi zur Last. Befürworten wir das Bestmögliche in weltlichem Regiment und fahren wir fort, zu beten und zu hoffen und zu warten - auf das Königreich, das da kommen soll, damit Gottes Wille auf Erden geschieht wie im Himmel, entsprechend dem Gebete unseres teuren Erlösers und Herrn!"

Es wurde bereits gesagt. Was die Darstellung der geschichtlichen Fakten in diesem Vergleichsbeispiel anbelangt, so habe ich da keinen wesentlichen Dissens. Aber am Ausklang dieses Berichtes klang es wieder an. Gemäß Jehovas Zeugen könne die Devise nur lauten: Warten auf Gottes Königreich. Selbst wenn ringsum alles in Scherben fällt! Dieser Grundsatzthese vermag ich nicht beizupflichten. Mir drängt sich eher ein anderer Vergleich auf. Das die Brooklyner Führungscrew hier den Part Großbritanniens übernommen hat. Sie will auch, um jeden Preis, ihr Opium verbreitet wissen. Der Hauptkern ihrer Ideologie. Der Verzicht auf Politik zugunsten des imaginären "Königreiches Gottes" ist nicht mehr oder weniger als wie im übertragenem Sinne Opium!

1911

ZurIndexseite