Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Berner Schisma

"Wir haben einen Meister erhalten, der allein gehört werden soll …"

Ein in der "Aussicht" veröffentlichtes Zeitdokument ist auch jener Bericht über einen Besuch Russell's am 13. April 1910.

Die "Aussicht" gab ihm die Überschrift: "Enttäuscht!"

Auch daraus noch ein paar Passagen:

"Mit recht gemischten Gefühlen sahen die schweizerischen Geschwister dem auf obigen Datum angesagten Besuch von Br. C. T. Russell aus Brooklyn in Bern entgegen.

Die Berner Geschwister, denen die Organisation einer Begrüßungsversammlung oblag, hatten unlängst im englischen 'Watch Tower' gelesen, daß es um ihren Glauben leider schlecht stehe. Es war ihre Stellungnahme vom 7. November 1909, die ihnen dieses Kompliment zugezogen hatte, und nun sollten sie gleichwohl für eine Bewillkommnung ihres Richters sorgen. Sie taten es in durchaus loyaler Weise und scheuten keine Mühe, das ihre dazu beizutragen, daß die Geschwister im Lande herum von der Durchreise Bruder Russells hörten und Gelegenheit erhielten, ihn - wie sie glaubten - begrüßen zu können. Auf der anderen Seite aber galt es für sie, den Standpunkt, auf den sich die Berner Versammlung stellt, ihrem Richter und würdiger Weise und Sprache bekannt zu geben, wobei natürlich auch das Gastrecht nicht verletzt werden durfte. Sie war mißbilligt worden, ohne gehört worden zu sein; d. h. der Gast war nur von denen benachrichtigt worden, welche die Stellungnahme der Berner Geschwister nicht begreifen, und nun sollte dieser auch die andere Glocke vernehmen. Eines Mannes Red 'ist keine Red. Man soll sie hören alle boad'.

Mit Rücksicht auf die kurze, zur Verfügung stehende Zeit und das ziemlich umfangreiche Material wurde beschlossen, Br. Russell in einem Briefe die Stellung der Berner klarzulegen und ihn so auf alle diejenigen Punkte aufmerksam zu machen, in denen sie nicht mit ihm einig gehen können. Ein Bruder wurde beauftragt, den Brief zu verlesen als ein Zeugnis für die einmal erkannte Wahrheit ....

Er (der Brief) konnte nämlich trotz rechtzeitig erfolgter Anmeldung nicht verlesen werden. Br. R. gewährte nicht eine Minute zu einer freien Aussprache der Brüder, um so, aus ihrem eigenen Munde, ihre Meinung zu hören, was die Berner Versammlung nötigt, den Brief der Redaktion der 'Aussicht' zur Veröffentlichung zu übergeben ....

Die Enttäuschung der Berner war die, konstatieren zu müssen, daß auch bei uns für eine gegenseitige Aussprache nicht mehr Raum ist. Wir haben einen Meister erhalten, der allein gehört werden soll. … Den Bernern war aber daran gelegen, Br. R. Persönlich ihre biblischen Gegenbeweise darlegen zu können. Einwände und Widersprüche will er aber, wie es scheint, überhaupt nicht hören, darum ließ er auch nicht einen Bruder zum Worte kommen. Nach seiner Meinung soll man sich ohne 'Murren' oder Widersprüche mit seinen Erklärungen zufrieden geben, sonst ist man ein widerspenstiger Abgefallener.

Für manche unter uns war Br. Russells Verhalten freilich keine Enttäuschung; sie hatten das Gefühl schon lange, daß dem so sei, und da war die Erfahrung vom 13. April für sie bloß eine handgreifliche Bestätigung von dem, was sie sich längst mit trauerndem Herzen gesagt, daß in der Behandlung der Geschwister durch die Wachtturm-Gesellschaft eine Wandlung eingetreten sei. Enttäuscht wären wir aber in weit höherem Maße gewesen, wenn wir zu derjenigen Gruppe der Schweizer Geschwister gehört hätten, welche sich außerordentlich viel von dem kurzen Berner Besuch von Br. Russell versprochen hatte. …

Sie hatten angekündigt im französischen 'Wachtturm' und auf einer hektographierten Briefkarte von Zürich aus, der Besuch werde Gelegenheit zur Fragestellung an den verehrten Bruder bieten, und hofften, daß durch die Stellung und Beantwortung dieser Fragen das Unrecht der Mehrheit der Schweizer Geschwister so gründlich klar gelegt werden könnte, daß auch wir, die irrenden Brüder nämlich, von dem Irrtum unseres Weges zurückgeführt werden könnten. Allein die Gelegenheit, Fragen zu stellen, kam nicht, und als ein lieber Bruder aus Russells ergebenem Anhängerkreise dem verehrten Gaste mitteilte, es seien einige Fragen notiert worden, auf die man gerne seinen Bescheid hören würde, wurde der betr. Bruder benachrichtigt, er kenne ihre Fragen schon und habe sie den ganzen Tag beantwortet, im übrigen werde er seinen Begleiter (!) da lassen, der könne ihnen dann antworten.

Wir hatten längst das Gefühl, daß in der Wachtturm-Gesellschaft Leute mitzureden angefangen hatten, denen wir nicht das gleiche Maß Zutrauen wie dem Verfasser von 'Tagesanbruch' zuzuerkennen entschlossen waren. Die Verweisung von Br. Lauper an einen dieser bisher unbekannten Mitarbeiter bestätigte uns unseren Verdacht in vollem Umfang.

Wir müssen ferner darauf aufmerksam machen, daß die 'loyalen' Brüder, d. h. diejenigen uns, welche noch auf die Worte des 'Meisters' schwören, um kein Haar besser behandelt wurden, als wir Opponenten, indem Br. Russell dem Zusammensein mit denselben sowohl auf der Herreise wie beim Essen auswich. …

Enttäuscht war endlich auch der Gast. ´Beim Eintritt in den Saal sprach er seine Verwunderung darüber aus, daß in Europa der Wahrheit so wenig Interesse entgegengebracht werde. In Amerika sei das ganz anders. Diese Äußerung hat uns bewiesen, daß Br. Russell nicht weiß, was unter uns Schweizern vorgeht. Uns verwunderte, daß noch so viele Geschwister trotz der herrschenden Krise und obwohl es Werktag war, die Reise nach Bern unternommen hatten … Unter den obwaltenden Umständen bedeutete eine Präsenz von ca. 60 Geschwistern (allerdings ca. 1/3 Nichtschweizer) sehr viel."

1909er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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