Der vorangegangene Jahrgang   1908

Vor (mehr als) 50 Jahren

Was 1909 Wahrheit war

Russell erweist einem Militär die letzte Ehre

Der deutsche "Wachtturm" (1909 S. 33) notiert:

"Nach Schluß seiner Ansprache teilte Bruder Russell der Zuhörerschaft mit, daß er nach St. Louis, Mo. gerufen sei, um dem geliebten Bruder A. P. Stewart die Begräbnisrede zu halten. Br. Stewart war seinerzeit in der Südstaaten-Armee General-Leutnant. Diese Begräbnisrede glauben wir, wurde in mehreren hervorragenden Zeitungen veröffentlicht".

Russell hatte überhaupt generell keine Probleme, sich in seinem Umfeld auch mit Militärs zu umgeben. Ein weiterer Fall war der des General W. P. Hall, der Russell als Mitglied eines "Komitees der sieben" auch auf einer Weltreise im Jahre 1911 begleitete.

Die den Umfeld der Bibelforscher zuzuordnende Zeitschrift "Die Aussicht" ihrerseits, druckte in ihrer August-Ausgabe 1909 (S. 685) auch einmal eine Ansprache dieses W. P. Hall ab. Zu W. P. Hall kann man auch vergleichen, den Jahresrückblick 1911 dieser Serie "Vor (mehr) als 50 Jahren".

Bitterer Rückblick

Noch heute ist das mittlerweile in mehreren Auflagen erschienene Lexikon "Die Religion in Geschichte und Gegenwart", eine zitierte und zitierensfähige Quelle.

In dessen erster 1909 erschienenen Auflage werden schon die Bibelforscher mit erwähnt. Man muss allerdings über einige Schönheitsfehler dabei hinwegsehen. So ist ihnen noch nicht ein selbstständiger Abschnitt gewidmet; sondern sie werden pauschal zu einer Untergruppe der Adventisten erklärt. Auch wird Russell darin gar zum "Professor" hochstilisiert, was er mit Sicherheit nicht wahr. Mit am interessantesten indes erscheint jedoch die Angabe der deutschen Bibelforscher-Zeitschriften. Und da wird auch eine genannt, die "Die Aussicht" betitelt ist.

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Hat die WTG sich je schon einmal über die "Aussicht" verbreitet? Sicherlich nicht. Ein diesbezüglicher Nachweis ist mir jedenfalls nicht bekannt. Einer von mehreren berüchtigten weißen Flecken bei ihrer Art der Geschichtsklitterung. Denn von Geschichtsschreibung kann man wohl kaum bei der WTG reden. Relativ lange Jahre erschien die "Aussicht" zumindest in den ersten Jahren, in Thun in der Schweiz. In späteren Jahren erfolgte dann noch eine Zusammenlegung mit anderen geistesverwandten Blättern. Und der allerletzte Jahrgang (in Königsberg, damals Deutschland) erscheinend, erschien 1940. Dann musste auch sie die Segel streichen. In jenen Jahren mussten aber auch andere religiöse Zeitschriften, im Zuge der staatlich angeordneten Papiereinsparung, ihr Erscheinen einstellen.

Immerhin ist es durchaus beachtlich, dass sie auch in den Jahren der Hitlerdiktatur erscheinen konnte. Selbstredend unter den geforderten Rahmenbedingungen, sich auf streng religiöse Belange zu beschränken. Diesem Kriterium wurde auch entsprochen.

Nicht so sehr die "Aussicht" der späteren Jahre soll hier einmal interessieren, sondern die "Aussicht" der frühen Jahre. Deren Jahrgang 1909 erscheint dabei besonders prädestiniert zu sein, wurde doch in ihm einmal ein umfänglicher rückblickender Artikel veröffentlicht. Aus ihm seien jetzt einmal nachfolgend einige wesentliche Passagen zitiert. Der Artikel war überschrieben "Rückblick und Ausblick" und erschien in der Oktober-Ausgabe 1909 der "Aussicht":

"Wenn unsere heutige Nummer die lieben Leser erreicht haben wird, werden es gerade 7 Jahre her sein, seit die 'Aussicht' ihre Reise zum erstenmal angetreten (Okt. 1902) und man wolle uns also in Anbetracht dieses Umstandes einen kleinen Rück- und Ausblick gerne gestatten.

Ein guter Teil unserer Freunde wird sich noch erinnern, wie die Brüder an der Thuner Hauptversammlung (Juli 1902) den Beschluß faßten, man wolle am Platze des damals nicht mehr erscheinenden deutschen 'Wachtturmes' ein entsprechendes Blatt herausgeben, um der Gemeinschaft und Auferbauung der Geschwister sowohl als auch der Verbreitung der uns lieb gewordenen Wahrheiten zu dienen.

Eine bei diesem Anlaß auftauchende Anregung, ob man nicht den Titel 'Zions Wachtturm' führen und die bezügliche Bedingung: n u r Produkte des englischen Z. W: T. verwenden zu dürfen - annehmen wolle, wurde abgelehnt, denn 'die meisten der dabei beteiligten Brüder erblickten darin eine Gefährdung der persönlichen Freiheit, indem man so leicht wieder ins System und geistige Knechtschaft geraten könne, unter welcher wir weiland in Babylon standen, nun aber durch Gottes Gnade davon frei geworden seien.' Man wolle niemandem 'blindlings nachfolgen, sondern sich die Freiheit wahren', alles was gelehrt werde 'an Gottes Wort zu prüfen.' (Protokoll der Konferenz vom 28. Sept. 1902).

Es entschieden sich also die Brüder einstimmig für die 'Aussicht' und bestimmten zugleich auch den Redakteur.

Einige Brüder deutscher Zunge ließen letzten Monat unter uns Schweizer Geschwistern, mit dem ausdrücklichen Wunsch, daß nur Wachtturmleser ihn lesen möchten, einen 'offenen Brief' zirkulieren… der (nach einer Einleitung) die deutsche Übersetzung je eines Briefes von Br. Burns-Liverpool und Br. Henninger-Melbourne enthält …

Br. Henninger, Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft in Melbourne (Australien, verzichtete anfangs laufenden Jahres auf diese Stellung, weil er mit einigen Auslegungen, die der 'Watch Tower' auf dem Gebiete der 'Sühnopfer' und der 'Bündnisse' gab, sich nicht einverstanden erklären konnte. Er gibt seither ein eigenes Blatt unter dem Titel 'The New Covenants Advocate' heraus, in welchem er u. a. die erwähnten Punkte zur Betrachtung zog.

Der 'Watch Tower' blieb die Antwort nicht schuldig und so erleben wir jetzt das bemühende Schauspiel, daß sich seit Monaten zwei Blätter - deren vornehmste Existenzberechtigung darin besteht, daß sie die zweite Gegenwart unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi verkündigen - ob der Verschiedenheit von Auslegungen befehden, die ihre Redakteure einigen Schriftstellen geben. Der deutsche Wachtturm schien nun hierbei nicht zurückbleiben zu wollen, sondern fing an, die polemischen Artikel seiner englischen Brüder ins deutsche zu übersetzen und trug damit den höchst unerquicklichen 'Hausstreit', ob dem die Freunde der Wahrheit tief betrübt sind, ohne zwingende Notwendigkeit ins deutsche Sprachgebiet hinüber. …

Von verschiedenen, besprochenen Lehrdifferenzen erwähnen wir hier einen Punkt vor allen, in welchem wir die Solidarität mit den jetzigen Lehren des 'Wachtturm' feierlich ablehnen müssen, nämlich darin, daß die Leiden des Leibes Christi (der Herauswahl), um der Gerechtigkeit willen, ein Teil des Lösegeldes für die Welt seien - daß Jesus nur für die Herauswahl geopfert worden sei, während die Auserwählten durch ihr Opfer die Sünden der Welt erst noch zu sühnen haben usw. …

Es wollte an erwähnter Konferenz geltend gemacht werden, daß die jetzigen Lehren des 'Wachtturms' sich vollständig decken mit dem, was wir in den Bänden von 'Tages-Anbruch' - die auch wir nach wie vor jedermann zum Studium empfehlen - enthalten sei, der 'Wachtturm' habe andere Lehren nicht geändert, an den Lehren von 'Lösegeld und Sündopfer' wenigstens gar nicht.

Wir können dem leider nicht zustimmen, überlassen es aber dem Leser, zu vergleichen …

Leider können wir uns nicht der Hoffnung hingeben, mit obigem dem erwähnten 'Hausstreit' ein Ende zu machen; wir bezwecken mit diesen Worten lediglich, unseren eigenen Standpunkt vor den Brüdern deutscher Zunge kurz darzulegen, damit sie nicht ob unserm Stillschweigen auf den Gedanken kommen, wir wüßten nichts von Lehrdifferenzen und der daraus entstehenden bedauerlichen Bruderfehde, die manchen die Freude an der so köstlichen gegenwärtigen Wahrheit zu vergällen droht.

Unsere Auffassung betreffend 'jenen Knecht', den klugen und treuen Verwalter als Klasse und nicht als einzelne Person haben wir bereits vor bald 5 Jahren in einem bezüglichen Artikel dargelegt …

Etliche erhoben in vergangenen Tagen diesen 'Verwalter' zum Stellvertreter Gottes, mit gottähnlicher Macht und Autorität, andere machten ihn zum wiedergekommenen Elias, zum Kanal für alle geistige Speise und erteilen ihm das Monopol über sämtliche fällige Wahrheit während der ganzen Erntezeit usw. Die einen wie die anderen befinden sich ohne Zweifel in der vom Herrn vorausgesehenen Gefahr, indem sie sich nicht mehr ausschließlich der Führung des allein guten Hirten anvertrauen, sondern Menschen über sich setzen oder setzen ließen. Diese alle bringen sich bis zu einem gewissen Grade um das köstliche Vorrecht direkt an der Quelle schöpfen zu dürfen und dafür um so ungetrübteres Wasser der Wahrheit zu empfangen. …

Mit Obigem wollen wir aber gar nicht sagen, daß wir uns nicht sollen dienen lassen; jawohl wir dürfen uns dienen lassen von Brüdern, welche Gaben und Erkenntnis haben. Aber wir dürfen nicht eines Bruders Schüler oder Anhänger, also nicht abhängig werden; wir dürfen von keinem noch so erleuchteten Bruder etwas annehmen, das wir nicht am göttlichen Wort geprüft und richtig befunden haben. …

Ergänzend auch noch ein paar Passagen die "Aussicht" betreffend aus der "Geschichte der Zeugen Jehovas"

In den frühen Jahren war die Russellbewegung noch nicht so straff zentralistisch organisiert, wie man das von den heutigen Zeugen Jehovas kennt. Es gab noch nationale Besonderheiten. Ein anpassen der Russell'schen Grundgedanken an die örtlichen Verhältnisse. Ein Symptom dafür war, dass Schweizer Bibelforscher in eigener Regie ab 1902 in Thun (Schweiz) eine eigene Konkurrenzzeitschrift zum Russell'schen „Wachtturm" herausgaben, betitelt: „Die Aussicht. Verkündiger der Gegenwart Christi". In ihr wurden auch seine „Schriftstudien" empfohlen. Schon bald stellte es sich jedoch heraus, dass der Brooklyner Leitung jene unabhängigen Kreise ein Dorn im Auge waren. [78]

Vor dem endgültigen Schisma der „Aussicht"-Gruppe in den Jahren 1909/10 von der Russellbewegung, vertrat diese in pointierter Form auch seine „sozialpolitischen" Thesen. Ein besonders herausragendes Dokument dazu ist ihre 1903 erschienene Schrift „Die alte Theologie. Unsere Zeit im Lichte der Bibel (Milleniumsschriften Nr. 5)". …

Um die Entwicklung dieser Gruppe zutreffend zu charakterisieren, sei hier aus einen „Rückblick" zitiert, den sie 1914 veröffentlichten:

„Zu Pfingsten des Jahres 1903 machten etliche der mit Russells Schriften bekannt gewordenen Bibelforscher in der Schweiz, auf einer Versammlung in Zürich persönliche Bekanntschaft mit ihm, der sie im Rahmen einer Europatour besuchte.

Am Bahnhof in Zürich erwartete uns Br. Russell, dessen Schriften unsere Herzen brennend gemacht hatten durch ihren Hinweis auf den bevorstehenden Zeitalterwechsel. Wir verstanden ja leider einander nicht, da wir kein Englisch und er kein Deutsch oder Französisch verstand, aber freuten uns gleichwohl, dass Angesicht dieses Gottesmannes kennen zu lernen. Das Nichtverstehen von damals war kein schmerzliches wie das seither eingetretene. Was der Mund nicht sagen konnte, sagten die Augen. Die redeten eine Sprache, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig ließ. …

Was wir durch Br. Russells Schriften gelernt hatten, haben wir bis jetzt festgehalten und Zeugnis dafür abgelegt. Darum haben wir ja auch die 'Aussicht' herausgegeben. Sie sollte der Bote unserer Freude darüber sein, dass unser Herr Jesus Christus sein Reich bald aufrichten werde auf dieser Erde. …

Br. Brenner war es, der damals den Nagel auf den Kopf traf für diejenigen Zuhörer, die möglicherweise noch darüber im Zweifel waren, ob Sie sich freuen oder ob sie erschrecken sollten, ob unserer Verkündigung: 'Der Herr ist nahe!' Auf die Zeichen der Zeit hinweisend, welche das Heraufdämmern des Tausendjahrtages verkündeten, sagte er mit Recht:

'Nicht darüber sollten wir erschrecken, dass diese Dinge anfangen zu geschehen. Wir hätten viel mehr Grund zu erschrecken, wenn diese Dinge nicht anfangen zu geschehen! Gewiss! Denn dann wäre es ja nichts gewesen mit unserer Hoffnung. Gott hätte uns zum Besten gehalten. Denken wir nur, was es für uns bedeutet hätte, an dem Worte der Verheißung Jehovas zweifeln zu müssen. Da wären wir für wahr die Elendesten unter allen Menschen gewesen." [7]

Im Februar 1920 schrieb die „Aussicht" dann resümierend:

„Dass die 'Aussicht' 18 Jahrgänge 'erleben' würde, hat von ihren Gründern damals gewiss keiner geglaubt! Wir waren alle der Meinung, dass die Jahre 1910-1914 die völlige Auflösung der bestehenden Weltordnung und besonders auch die Erlösung des Volkes Gottes (d. h. dessen Wegnahme von der Erde durch den Tod) bringen würde." [8]

Die geschichtliche Entwicklung dieser Gruppe stellte sich in deren Sicht so dar: „Im Jahre 1904 hatte zwar die 'Aussicht' einen Artikel über Bibel-Chronolgie zu veröffentlichen gewagt, der mit Russells Darstellungen etwas differenzierte. Darob große Entrüstung besonders bei einem W.T.-Freunde. … Solche Handlungsweise und auch das Gebahren eines inzwischen in Deutschland installierten Vertreters der W.T.-Gesellschaft überzeugten uns davon, dass es 'Brüder in der Wahrheit' gebe, die 'päpstlicher als der Papst' und das die Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft auf dem besten Wege sei, in eine Sekte auszuarten." [9]

Die weitere Entwicklung stellte sich aus der Sicht der „Aussicht"-Gruppe mit den Worten dar: „Mittlerweile dehnte sich das Werk der erwähnten Gesellschaft in vielen Ländern sehr aus, infolge Anwendung von Propagandamitteln freilich, die die Freunde der 'Aussicht' mit der früher gelehrten geistlichen Keuschheit nicht in Einklang bringen konnten und deshalb missbilligten. Mehr und mehr wurde auch der Verfasser der Bände 'Tages-Anbruch' zum Gegenstand eines intensiven Personenkultus gemacht; man stempelte ihn sogar zu dem persönlichen 'Haushalter' Gottes durch welchen die Rechtsgläubigen ausschließlich und alle und jede geistliche Speise (Bibel-Auslegung) empfangen dürften!

Die Aussichtsfreunde waren indessen zu wenig rechtsgläubig, um das annehmen zu können und es erlaubte sich eine Gruppe von Freunden, ein Protestschreiben an Br. Russell zu richten und ihn darauf aufmerksam zu machen, dass recht manches seiner nunmehrigen Praxis mit den in seinen ersten Bänden enthaltenen schönen Lehren nicht mehr übereinstimme.

Die Antwort war für alle Beteiligten eine Enttäuschung. Die einen ärgerten sich so sehr daran, dass sie nicht nur von Russell fortan nichts mehr wissen wollten, sondern auch ziemlich alles über Bord warfen, worüber sie sich vorher so sehr gefreut.

Unter ihnen waren (auch einige) von unseren liebsten Freunden, die in ihrer Leidenschaft gegen 'Tages-Anbruch' soweit gingen, dass sie auch die 'Aussicht' schwer anfeindeten und besonders deren Schriftleiter bekämpften, weil er mit den der 'Aussicht' treugebliebenen Freunden 'Das Kind nicht mit dem Bade ausschüttete.'" [10]

Mit anderen Worten. Die nicht erfüllten Russell'schen Endzeiterwartungen hatten auch ihre Rückwirkungen auf die Aussicht-Gruppe. Auch in der Aussicht-Gruppe gab es somit solche, die nach 1914 innehielten und sich fragten, ob eine solche Ideologie noch weitere Opfer an Zeit und Geld wert wäre. Aber auch dort gab es einige Unentwegte, die immer noch nicht die eigentliche Sachlage wahrhaben wollten. Und so fristete denn auch die „Aussicht", nach 1914 weiterhin, ihr zusehends kärglicher werdendes Dasein:

„So sehr uns der Verlust jener Freunde schmerzte, weil die entstandenen Feindseligkeiten auch in Ortsversammlungen betrübende Folgen hatten, so 'marschierten' andererseits die beiden 'Schwestern', 'Aussicht' und 'Zions Wachtturm' immer noch freundschaftlich nebeneinander; die Aussicht-Abonnenten waren größtenteils zugleich Wachtturm-Abonnenten und umgekehrt." [11]

Das Schisma zwischen Russell und Aussichtsgruppe, brauchte nicht bis 1914 zu warten. Es trat schon früher ein: „Leider sollte es aber schlimmer kommen. Infolge weiterer Publikationen Russells gab es neue Differenzen die Frage betreffs Wahl von Ältesten in den Versammlungen, die wir nicht bejahen, und mehr noch das aufnötigen eines sogenannten 'Gelübdes', dass nach unserem Dafürhalten einem Sekten-Credo…verzweifelt ähnlich sieht, erregten die Gemüter und wirkten nicht eben versöhnend.

Den Anlass zu einer eigentlichen Trennung gab aber erst einige besonders von 1908 an nachdrücklich veröffentlichte Glaubenssätze." [12]

Aus der Sicht des Außenstehenden kritischen Beobachters, erweisen sich die damaligen Differenzen als marginal. Es war eben auch in diesem Fall feststellbar, dass handfeste irdische Interessen, sich in vermeintlichen theologischen Differenzen verklärt, wiederfinden.

Letztendlich drehte es sich um die Frage: Besitzt die Russellgruppe einen Monopolanspruch, auf ihre Verkündigung? Ein solcher Monopolanspruch impliziert zugleich, dass wirtschaftlich von ihr unabhängige Gruppen nicht gern gesehen sind. Die unabhängigen Gruppen hingegen, erwiesen zwar Russell formal ihre Reverenz. Faktisch aber nahmen sie für sich zugleich auch in Anspruch, ggf. auch eigene Akzente zu setzen. Letztendlich ist dies die eigentliche Ursache des Konflikts. Natürlich wollte man dies so nicht wahrhaben und so versteckte man sich denn auch hinter vermeintlichen theologischen Differenzen:

Eine Brüderkonferenz in Bern (November 1909) führte auch äußerliche Trennung herbei, und so kam es, dass der 'Aussicht' nun die traurige Pflicht oblag, gegen Irrtümer Russells warnen zu müssen. Das dies keine dankbare Sache ist, brauchen wir wohl niemanden zu sagen." [13]

Aber man konnte sich auch trösten: „Wir waren aber auch nicht die einzigen Warner: Br. F. Kunkel in Königsberg und Br. E. C. Henninger in Melbourne (Australien) hatten die gleichen Erfahrungen gemacht und es decken sich unsere gegenseitigen Auffassungen im Wesentlichen auch heute noch. Die Zeugnisse ihrer Publikationen haben uns oft als Ansporn und Erquickung gedient und wir haben es zusammen auch 'verschmerzt', wenn unser gemeinsames Zeugnis vom W.T. als 'mitternächtliches Wolfsgeheul' gescholten und die unbequemen Warner ziemlich unverblümt - als dem 'Zweiten Tod' verfallen hingestellt wurden." [14]

Was für die „Aussicht" und die „Russell"-Gruppe dennoch als gemeinsames Fundament diente, war die Russell'sche Zeitrechnung.

Indem vorstehend zitierten Rückblick aus dem Jahre 1920 wird das mit den Worten charakterisiert: „Mit den vorrückenden Jahren hatte sich indessen manche Prophezeiung Russells nicht bestätigt, während wiederum der Ausbruch des Weltkrieges, hauptsächlich den Aussichts- und Wachtturmfreunden gemeinschaftlichen Erwartungen Recht gab." [15]

Zu diesem Punkt schrieb die „Aussicht" im Oktober 1913: „Was nun diesen Zeitpunkt anbelangt, so haben wir seiner Zeit gelernt, dass derselbe 1914/15 fällig sein würde. Den einen unter den lieben Geschwistern erscheint nun bei dem gegenwärtigen Gang der Ereignisse diese gestellte Frist als zu kurz. Es sehe alles so aus, als ob der Zusammenbruch der damaligen Weltordnung nicht innert anderthalb bis zwei Jahren stattfinden könne. Wir geben das ohne weiteres zu. … Andererseits aber möchten wir auch diesmal wieder, wie schon so oft, davor warnen, sich auf menschliche Rechnungen zu verlassen.

Das kritische Jahr 1914/15 kommt heraus, wenn wir, Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts, die in der hl. Schrift dargereichten Jahreszahlen auch richtig verstanden und richtig in Rechnung gestellt haben.

… Dass wir sie richtig verstanden und angewandt haben, scheint auch aus dem Zeugnis der großen Pyramide in Ägypten hervorzugehen. … Daraus ergibt sich nun … dass wir im Falle des Nichteintreffens der erwarteten Ereignisse im Jahre 1914/15, nicht an der Richtigkeit der biblischen Zeugnisse zweifeln, sondern zu glauben fortfahren sollen, dass ein Zeitalter der Wiederherstellung aller Dinge im Anzuge ist, dessen Anbruch zu bestimmen der allwissende Gott sich selber vorbehalten hat." [16]

Aufschlussreich sind auch die Ausführungen in der Januarnummer 1914 der „Aussicht": „Nun ist es eingetreten, dass für viele unserer Leser so viel bedeutende Jahr 1914! Ganz sachte ist es gekommen, ohne besondere, äußerliche Zeichen, ja viel ruhiger wurde die Jahreswende als vor einem Jahr, da die ganze zivilisierte Welt voll Spannung nach dem Balkan blickte und der Augenblick gekommen glaubte, da aus dem entzündeten 'Pulverfass' der große Völkerbrand entstehe. … Und wieder hat sich das drohende Gewitter verzogen. …

1914! Wie viele unser lieben älteren Leser, die wie wir die Brüder von Millenium-Tagesanbruch näher kennen lernten, haben nicht Jahre lang mit freudigen Erschauern vorwärts geschaut auf dieses Jahr, welches der Verfasser … als das wichtigste und hervorragendste Jahr der Welt- und Bibelgeschichte in den Vordergrund stellte. …

Mit viel Nachdruck wurde darauf hingewiesen, dass die 'Brautklasse'; die auf ihren Herrn wartende Gemeinde der Heiligen, bis zum Jahr 1910 vollständig von ihrem irdischen Schauplatz verschwunden und durch den 'Vorhang des Todes' (einer nach dem andern) zum Herrn hingerückt worden sei.

Nachdem die früher entschlafenen Heiligen bereits im Jahr 1878 die 'Erste Auferstehung' an sich erfahren haben und im Jahre 1881 die 'hohe himmlische Berufung' aufgehört habe. … Betreff 1881 hegten wir freilich von jeher Zweifel. …

Um so auffälliger musste nun aber das gänzliche ausbleiben aller auf 1910 geweissagten Ereignisse werden. Dieselben hätten ja von aller Welt wahrgenommen werden müssen. … Die Enttäuschungen des Jahres 1910 hat nun freilich der Verfasser der bezüglichen Prophezeiungen aus gutem Grunde seinen Lesern so unschuldig wie möglich hingestellt und dahin berichtigt, dass dieselbe wahrscheinlich nur ein Jahr dauern werde, wie die Sündflut in den Tagen Noahs; auch werde dieselbe erst 1914 beginnen und 1915 enden …

Ob nun Br. Russells Anhänger … diese neue Berichtigung ebenfalls als göttliche 'Speise zur rechten Zeit' hinnehmen, wie früher das Gegenteil?" [17]

Es ist bezeichnend, wie sich nun die „Aussicht", aus der Datenspekulationsaffäre herauszuziehen versucht. Man sei ja schon immer kritisch gewesen, man hätte ja schon früher anders akzentuierte Meinungen vertreten. Letztendlich ist dies nur ein Scheingefecht. Denn auch die Aussichtsgruppe hat „vor Tische", Russells Thesen in ihrer Hauptaussage in verschiedenster Form kolportiert. Um „nach Tische", ebenfalls wie die Russellgruppe, es schon immer „ganz anders" gemeint zu haben.

Ein Beispiel der müden Apologetik dazu:

„Wir haben allerdings in der August-Nummer 1904 eine von Br. Russells Datum um 19 Jahre abweichende Zeitrechnung von Br. Brenner veröffentlicht und daran anschließend gesagt:

'Uns hat diese Entdeckung den Glauben an die Zuverlässigkeit der Daten 1874 und 1914 wesentlich geschwächt; nicht, dass wir uns an die Daten 1893 und 1933 halten könnten; wir waren von jeher allen Zeitrechnungen gegenüber ziemlich skeptisch. … Nun haben wir keine Lust mehr, irgend ein Datum als 'unumstößlich' oder 'mehr als begründet' anzuerkennen und wir können nicht sagen, dass dadurch unsere Glaubenszuversicht hinsichtlich der nahe herbeigekommenen Aufrichtung des Königreiches unseres geliebten Herrn Jesu Christi beeinträchtigt worden wäre.

Dieses Zeugnis hat uns damals wenig Schmeichelei eingebracht; viele '1914-Treue' wiesen die Aussicht zurück und von leitenden Brüdern wurde uns ernstlich verwiesen, dass wir damit die Geschwister unsicher gemacht und Br. Russells, des 'Haushälters' Autorität untergraben hätten." [18]

Der Kreis um die "Aussicht" hat zeitweilig einen hohen Anteil jener um sich geschart, die in der Schweiz den Russell'schen Lehren zugetan waren, so dass die Organisation der Bibelforscher, in den Anfangsjahren, in der Schweiz (im Vergleich zu anderen Ländern) nicht recht vom Fleck fortkam. [19] Die "Aussicht"-Konkurrenz war dort, zumindest in den Anfangsjahren, für die Wachtturmgesellschaft spürbar. Der "Aussichts"kreis bestand diesen Konkurrenzkampf auf Dauer nicht, aber er hat dortige WTG-Fortschritte, zumindest, mit gebremst.

Zeitweilig gehörten zum "Aussichts"kreis auch Personen, die eine profilierte Entwicklung nahmen. Zu nennen ist da beispielsweise der Fall des Bibliothekars an der Schweizerischen Landesbibliothek Karl J. Lüthi. [20] In den Jahren 1908-1917 war er ständiger Mitarbeiter der "Aussicht" [21]

Die in Thun (Schweiz) erscheinende "Aussicht" konnte sich bis Ende 1921 halten, dann musste sie die Segel streichen, indem sie sich mit dem Blatt von Friedrich Kunkel „Die neue Zeit" (vormals: "Beiträge zum Schriftverständnis") vereinigte, als "Die Aussicht in die neue Zeit". Verlagsort war nunmehr Königsberg i. Pr. [22] …

Kunkel war ursprünglich auch mal WTG-Funktionär. Der "Wachtturm" (1905, S. 159) notiert über ihn:

"Unser lieber Bruder Kunkel hat nun in Königsberg einen sonst guten und festen Beruf niedergelegt, um ganz in das Erntewerk einzutreten, nachdem ihn Bruder Russell eingeladen, zum Teil in Elberfeld und zum Teil durch Kolportieren und Vorträge seine Kräfte in dem Dienste des Herrn zu gebrauchen."

Berner Schisma

"Wir haben einen Meister erhalten, der allein gehört werden soll …"

Ein in der "Aussicht" veröffentlichtes Zeitdokument ist auch jener Bericht über einen Besuch Russell's am 13. April 1910.

Die "Aussicht" gab ihm die Überschrift: "Enttäuscht!"

Auch daraus noch ein paar Passagen:

"Mit recht gemischten Gefühlen sahen die schweizerischen Geschwister dem auf obigen Datum angesagten Besuch von Br. C. T. Russell aus Brooklyn in Bern entgegen.

Die Berner Geschwister, denen die Organisation einer Begrüßungsversammlung oblag, hatten unlängst im englischen 'Watch Tower' gelesen, daß es um ihren Glauben leider schlecht stehe. Es war ihre Stellungnahme vom 7. November 1909, die ihnen dieses Kompliment zugezogen hatte, und nun sollten sie gleichwohl für eine Bewillkommnung ihres Richters sorgen. Sie taten es in durchaus loyaler Weise und scheuten keine Mühe, das ihre dazu beizutragen, daß die Geschwister im Lande herum von der Durchreise Bruder Russells hörten und Gelegenheit erhielten, ihn - wie sie glaubten - begrüßen zu können. Auf der anderen Seite aber galt es für sie, den Standpunkt, auf den sich die Berner Versammlung stellt, ihrem Richter und würdiger Weise und Sprache bekannt zu geben, wobei natürlich auch das Gastrecht nicht verletzt werden durfte. Sie war mißbilligt worden, ohne gehört worden zu sein; d. h. der Gast war nur von denen benachrichtigt worden, welche die Stellungnahme der Berner Geschwister nicht begreifen, und nun sollte dieser auch die andere Glocke vernehmen. Eines Mannes Red 'ist keine Red. Man soll sie hören alle boad'.

Mit Rücksicht auf die kurze, zur Verfügung stehende Zeit und das ziemlich umfangreiche Material wurde beschlossen, Br. Russell in einem Briefe die Stellung der Berner klarzulegen und ihn so auf alle diejenigen Punkte aufmerksam zu machen, in denen sie nicht mit ihm einig gehen können. Ein Bruder wurde beauftragt, den Brief zu verlesen als ein Zeugnis für die einmal erkannte Wahrheit ....

Er (der Brief) konnte nämlich trotz rechtzeitig erfolgter Anmeldung nicht verlesen werden. Br. R. gewährte nicht eine Minute zu einer freien Aussprache der Brüder, um so, aus ihrem eigenen Munde, ihre Meinung zu hören, was die Berner Versammlung nötigt, den Brief der Redaktion der 'Aussicht' zur Veröffentlichung zu übergeben ....

Die Enttäuschung der Berner war die, konstatieren zu müssen, daß auch bei uns für eine gegenseitige Aussprache nicht mehr Raum ist. Wir haben einen Meister erhalten, der allein gehört werden soll. … Den Bernern war aber daran gelegen, Br. R. Persönlich ihre biblischen Gegenbeweise darlegen zu können. Einwände und Widersprüche will er aber, wie es scheint, überhaupt nicht hören, darum ließ er auch nicht einen Bruder zum Worte kommen. Nach seiner Meinung soll man sich ohne 'Murren' oder Widersprüche mit seinen Erklärungen zufrieden geben, sonst ist man ein widerspenstiger Abgefallener.

Für manche unter uns war Br. Russells Verhalten freilich keine Enttäuschung; sie hatten das Gefühl schon lange, daß dem so sei, und da war die Erfahrung vom 13. April für sie bloß eine handgreifliche Bestätigung von dem, was sie sich längst mit trauerndem Herzen gesagt, daß in der Behandlung der Geschwister durch die Wachtturm-Gesellschaft eine Wandlung eingetreten sei. Enttäuscht wären wir aber in weit höherem Maße gewesen, wenn wir zu derjenigen Gruppe der Schweizer Geschwister gehört hätten, welche sich außerordentlich viel von dem kurzen Berner Besuch von Br. Russell versprochen hatte. …

Sie hatten angekündigt im französischen 'Wachtturm' und auf einer hektographierten Briefkarte von Zürich aus, der Besuch werde Gelegenheit zur Fragestellung an den verehrten Bruder bieten, und hofften, daß durch die Stellung und Beantwortung dieser Fragen das Unrecht der Mehrheit der Schweizer Geschwister so gründlich klar gelegt werden könnte, daß auch wir, die irrenden Brüder nämlich, von dem Irrtum unseres Weges zurückgeführt werden könnten. Allein die Gelegenheit, Fragen zu stellen, kam nicht, und als ein lieber Bruder aus Russells ergebenem Anhängerkreise dem verehrten Gaste mitteilte, es seien einige Fragen notiert worden, auf die man gerne seinen Bescheid hören würde, wurde der betr. Bruder benachrichtigt, er kenne ihre Fragen schon und habe sie den ganzen Tag beantwortet, im übrigen werde er seinen Begleiter (!) da lassen, der könne ihnen dann antworten.

Wir hatten längst das Gefühl, daß in der Wachtturm-Gesellschaft Leute mitzureden angefangen hatten, denen wir nicht das gleiche Maß Zutrauen wie dem Verfasser von 'Tagesanbruch' zuzuerkennen entschlossen waren. Die Verweisung von Br. Lauper an einen dieser bisher unbekannten Mitarbeiter bestätigte uns unseren Verdacht in vollem Umfang.

Wir müssen ferner darauf aufmerksam machen, daß die 'loyalen' Brüder, d. h. diejenigen uns, welche noch auf die Worte des 'Meisters' schwören, um kein Haar besser behandelt wurden, als wir Opponenten, indem Br. Russell dem Zusammensein mit denselben sowohl auf der Herreise wie beim Essen auswich. …

Enttäuscht war endlich auch der Gast. ´Beim Eintritt in den Saal sprach er seine Verwunderung darüber aus, daß in Europa der Wahrheit so wenig Interesse entgegengebracht werde. In Amerika sei das ganz anders. Diese Äußerung hat uns bewiesen, daß Br. Russell nicht weiß, was unter uns Schweizern vorgeht. Uns verwunderte, daß noch so viele Geschwister trotz der herrschenden Krise und obwohl es Werktag war, die Reise nach Bern unternommen hatten … Unter den obwaltenden Umständen bedeutete eine Präsenz von ca. 60 Geschwistern (allerdings ca. 1/3 Nichtschweizer) sehr viel."

Licht und Leben

So der Titel einer heute noch erscheinenden Zeitschrift. Inhaltlich den sogenannten "Landeskirchlichen Gemeinschaften" innerhalb der Evangelischen Kirche nahestehend. Das sind vielfach Gruppen mit einer Art "Zwitterstellung". Die "Großkirchen" sind ihnen zu weltlich. Den Absprung zur Gründung einer eigenen Kirchenorganisation ausserhalb der Evangelischen Kirche indes scheuen sie. Sie beobachten aber aufmerksam das Spektrum sogenannter Freikirchen und sonstiger Religionsgemeinschaften, die die "Nabelschnur" zu den "Großkirchen" bereits gekappt haben. Inhaltlich sind alle drei (Freikirchen, Sekten, Landeskirchliche Gemeinschaften) eigentlich ziemlich nahestehend. Das schließt nicht aus, gerade in ihren Kreisen besonders ausgeprägte Polemiken gegen die Geistesverwandten die sich in dem anderen Lager befinden, vom Zaune zu brechen. "Sieben Sekten des Verderbens" titelte mal eine frühe Flugschrift aus dem Umkreis von "Licht und Leben". Da wurde die Konkurrenz nach allen Regeln der Kunst madig gemacht. Und schon zu einem Zeitpunkt abgehandelt, wo die eigentlichen "Großkirchen" es noch vorzogen, auf die Sekten lieber mit Stillschweigen zu reagieren.

In gewisser Hinsicht haben auch die "Landeskirchlichen Gemeinschaften" besonderen Grund, "sauer" auf die Sekten zu sein. Denn eine extrem hoher Prozentsatz in der Gründungsphase von Sekten, erweist sich bei Lichte besehen, als aus dem Kreise der Landeskirchlichen Gemeinschaften stammend. Später "verschwimmt" diese Wurzel zwar wieder etwas; indem einmal etablierte Sekten, auch einen wesentlichen Teil ihres Zuwachses über die eigene Jugend zu realisieren sich bemühen. Aber hat man nur die Anfangstage einer Sekte im Blick; erweist sich nicht selten. Die "Landeskirchlichen Gemeinschaften" waren ihre unfreiwilligen Ziehväter- und Mütter. Verständlich schon das da auch mal rauhe Worte fallen.

Dies ist auch im Falle der Bibelforscher auf deutschem Boden nachweisbar.

Sofern beide Gruppen miteinander noch "kommunizierten" war es vielfach in der Art und Weise, dem Widerpart per Einschreibebriefe Gegendarstellungen "abzutrotzen". Da dies in der Praxis jedoch nicht im gewünschten Sinne gelang; hiess die nächste Stufe Polemik nach allen Regeln der Kunst. So beklagt sich der Wachtturm (1907 S. 105) beispielsweise:

"Wir warten schon längere Zeit darauf, daß 'Der Gärtner' von Witten, 'Licht und Leben' von Schwerte, der 'Brüder-Bote' von Bayern, der 'Zionspilger' von Langnau, der 'Wahrheitszeuge' von Kassel, 'Der Saemann' von Elberfeld, 'Philadelphia' von Stuttgart, das 'Allianzblatt' von Blankenburg, das 'Barmer Sonntagsblatt', 'Das Volk' von Siegen und Berlin, der 'Christliche Volksbote' von Basel und das 'Berner Tageblatt' eine … Berichtigung bringen."

Offenbar war in Bibelforschersicht "Licht und Leben", dabei als besonders "verstockt" anzusehen; was auch die Bemerkung im "Wachtturm" (1907 S. 140) deutlich macht:

"'Licht und Leben' hingegen, redigiert von Pastor Dr. Wilh. Busch, hat in schändlicher Weise in der Mainummer die Sache nur zu verschlimmern versucht."

Ein Beispiel diesbezüglicher Polemik auch im "Wachtturm" 1908 (Dezemberausgabe).

"Herrn Pastor Gauger, Elberfeld.

Geehrter Herr: - in der Nummer 43 von 'Licht und Leben' erlauben Sie sich wieder einmal, eine Kritik über 'Milleniumstages-Anbruch' zu bringen. Das können wir Ihnen nicht verdenken; das mögen Sie ruhig noch mehr tun, wenn Sie sachlich bleiben. Wenn Sie aber behaupten, daß diese Schriften 'mit unlauteren Mitteln' verbreitet werden, dann läuft das auf eine Verleumdung hinaus, denn das ist eine Behauptung, die sie nicht beweisen können, weil sie völlig unwahr ist.

Wer gibt Ihnen das Recht, unseren Glauben öffentlich als 'Torheiten' zu stempeln, dem 'ein vernünftiger Mensch keinen Glauben schenken könne' - und uns als 'unvernünftige Menschen' zu schelten, und nicht allein uns, sondern sehr viele Gotteskinder, von deren Aufrichtigkeit und gesundem Menschenverstand wir die beste Überzeugung haben? Bedenken Sie nicht, das Sie denjenigen gleichen, die unsern Herrn Beelzebub hießen?

Wenn Sie uns besuchen wollen, sind wir gerne zu einer persönlichen Aussprache bereit, oder wir können auch zu Ihnen kommen. Falls Sie nicht antworten - in acht bis zehn Tagen -, werden wir andere Schritte tun müssen.' …

Hochachtungsvoll mit christlichem Gruß zeichnet,

Wachtturm, Bibel- und Traktat-Gesellschaft.

O. A. Koetitz.

Pfarrer Gaugers Antwort ist folgende:

Elberfeld, am 2. November 1908.

An die 'Wachtturm'-Gesellschaft in Barmen

Auf Ihren Brief vom 27. Oktober erwidere ich zunächst, daß ich nur einen Zeitverlust in persönlicher Aussprache sehen kann. Verständigen werden wir uns schwerlich.

Der Ausführung Ihrer Drohung sehe ich mit Ruhe entgegen.

Hochachtungsvoll Pfr. Gauger."

Dann gab es noch einen Nachsatz in jener Wachtturm-Replik. Ein Nachsatz, dass muss allerdings deutlich gesagt werden, der sich erheblich von der heutigen Praxis der WTG und ihres Anwaltes unterscheidet. Aber bekanntlich ist nichts so alt, wie "der Schnee von gestern". Damals jedenfalls meinte man noch erklären zu können:

"Da es sich für Christen nicht geziemt, vor der Welt 'wider einander' zu klagen, so haben wir nur diese Rechtfertigung und private Beantwortung von Briefen mittels oben gegebener Korrespondenz als 'Schritte' zu Gebote, um Römer 14,16 zu erfüllen. Wir alle aber, liebe Geschwister, wollen uns mit Jakobus 5, 8 trösten und aufmuntern: 'Habt auch ihr Geduld, befestigt eure Herzen, denn die Gegenwart des Herrn ist nahe.'"

Der Streit eskalierte dahingehend, dass "Licht und Leben" in seinem Jahrgang 1909 einen sich über diverse Ausgaben hinziehende Artikelserie des Heilbronner Stadtpfarrers Robert Geiges veröffentlichte. Friedrich Loofs erwähnt diese frühe Veröffentlichung auch; allerdings ohne sie einer näheren Kommentierung für wert zu befinden. Warum wohl? Nun Loofs als Theologieprofessor, in der Kirchengeschichte durchaus bewandert, stand eben nicht auf dem Boden des "Landeskirchlichen Gemeinschaften". Nicht zu unrecht drängte sich wohl schon Loofs die drängende Frage auf. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen denen und den Sekten? Sicherlich verfassungsmäßige, organisatorische Dinge - unbestritten. Inhaltlich jedoch stehen sie beide einander nahe und sind zugleich doch, vielleicht auch wegen ihrer Nähe, in heftigstem Bruderstreit verwickelt.

Und auch dies gilt es noch zu sagen. Durchaus nicht jeder, konnte sich auch in "Licht und Leben" artikulieren. Symptomatisch dafür ist auch die nachfolgende redaktionelle Antwort in "Licht und Leben" (1909 S. 336):

"Lehrer em. B. in M.

Sie schicken uns einen 'Offenen Brief an Herrn Stadtpfarrer Geiges in Heilbronn' und schreiben dazu:

'Den mitfolgenden offenen Brief hatte ich an die Wachtturm-Gesellschaft in Barmen geschickt. Ich habe aber die Nachricht erhalten: 'Für die Antwort an den Herrn Stadtpfarrer Geiges haben wir leider keine Verwertung. Wir halten es nicht für weise, soviel Notiz von dieser Kritik zu nehmen. Wir fahren ruhig fort, die Wahrheit zu verkündigen und 'wer Ohren hat zu hören, der höre.'

Da Sie die Aufsätze von Herrn Pastor Geiges angenommen haben, so meine ich, daß auch mein Brief in 'Licht und Leben' abgedruckt wird.'

Wir bitten Sie, lieber Herr B., uns nicht gram zu sein, daß wir anderer Ansicht sind als Sie. Erstlich haben wir hinsichtlich des 'Wachtturms' eine bestimmte Tendenz, nämlich, vor den Irrtümern des Wachtturms zu warnen. Schon aus diesem Grund können wir Ihre Erwiderung nicht aufnehmen. Zum anderen ist unser L. u. L. überhaupt kein Sprechsaal. Wir lassen gerne recht viele Stimmen zum Wort kommen; aber Voraussetzung ist immer, daß, wer spricht, auf unserer Grundlage steht.

Was würden Sie sagen, wenn wir heute den Professor Haeckel zum Wort kommen ließen, morgen den Sozialdemokraten Bebel, übermorgen einen liberalen Theologen, dann einen Monisten und so weiter?

Zum dritten: Wer das Wort nimmt, muß kurz sein. Ihre Einsendung ist aber so lang, daß selbst wir uns verwundert haben, obwohl wir an manches gewohnt sind, und wir haben Ihren ungeheuren Fleiß bewundert. Nach einem groben Überschlag haben Sie etwa 16000 Silben geschrieben. Damit könnten wir - ganz eng gedruckt - 11 Briefkastenseiten füllen. Wer nähme sich die Zeit, das zu lesen!! Und so wichtig ist die Milleniumssekte doch nicht, daß man unsern Lesern nun wieder 5 bis 6 Nummern durch Milleniumsartikel vorsetzen müßte. Es muß genügen, daß wir die Augen aufmachen und vor dem 'Zions Wachtturm' warnen."

Natürlich hatte "Licht und Leben" schon vor der Geiges'schen Artikelserie eine dezidierte Meinung in Sachen Bibelforscher. Im Jahre 1908 (S. 574) brachte man diese einmal in der Form eines Zitates aus einem anderen Presseorgan zum Ausdruck. Man konnte da lesen:

"Der Wachtturmgesellschaft wollen wir einstweilen noch zu bedenken gaben, was wir jüngst im 'Saemann' (1908, Nr. 30, S. 236f.) lasen:

'Das vergangene Jahr brachte wieder allerlei in mannigfachen Zeitströmungen; da möchten wir, daß manche unserer Geschwister noch vorsichtiger wären mit der Aufnahme von Leuten und Schriften unbekannter Herkunft.

Wo man hinkommt, wenn man sich mit geriebenen, unbekannten Leuten abgibt, lehrt folgende Geschichte. Eine Frau ließ sich - in Abwesenheit des Mannes, der zur Stadt war - von einem unbekannten Menschen, der vorgab Uhrmacher zu sein, bereden, die stillstehende alte Hausuhr reparieren zu lassen.

Da ging's an die Arbeit: es währte lang, indessen mußte tüchtig aufgetischt und hernach ordentlich gezahlt werden. Als der Fremde fort war, hatte die Frau natürlich eine rappelige Uhr und - zwei Rädchen, die nach dem Vorgeben des Uhrmachers zu viel im Uhrwerk gewesen, die er aber nicht mehr auf die rechte Stelle hatte bringen können.

Solche 'Uhrmacher' ziehen schon seit Jahren durch die Lande, wenden sich hauptsächlich an das unerfahrene, gutmütige Geschlecht; können bei schlechtem Verkauf sehr aufdringlich und dreist werden! Sie haben ihr Hauptbureau meist in Amerika, diesem Tummelplatz der schrankenlosen Freiheit und Wunderlichkeit. Wenn da irgend eine Person oder Richtung Einfluß und Geldmittel erreicht hat, gehört es zum Ehrenstand, auch in der alten Welt Europas Anhang zu haben. Also mit Seelenheil hat das nichts zu tun! Ehre bei den Großen und Geldgier bei den Kleinen ist der Beweggrund. Es ist alles Geschäft; die gute Meinung einiger einfältiger Leute, die mitlaufen, ausgenommen!

Und eine gewisse Richtung will uns, wie jener Uhrmacher auch erzählen, daß gewisse, bis dahin nötige Rädchen überflüssig, ja hinderlich seien, wie die Lehre von der Hölle, von dem unmittelbaren Fortleben nach dem Tode, von der ewigen Gottheit Christi usw. -

Wir verwerfen natürlich alle Übertreibung dieser ernsten und hohen Wahrheiten, wie sie hier und da im 'Volksmund' zuweilen vorkommt, brechen aber keinem Menschen zuliebe etwas von dem Ernst des Wortes Gottes ab: 'Nur, wer den Sohn hat, der hat das ewige Leben!'

Wir geben diese Worte dem Zionswachtturm einstweilen zur Überlegung."

Zwei weitere Leserbriefe in Sachen Bibelforscher, die in "Licht und Leben" veröffentlicht wurden und deren redaktioneller Intention im wesentlichen entsprachen, noch nachstehend:

("Licht und Leben" 1909 S. 156):

N. N. in H. schreibt: Was mir L. u. L. besonders lieb und wert macht, ist dieses: Es ist nicht nur ein Erbauungsblatt, sondern gibt z. B. auch Bericht über weltbewegende Fragen der Gegenwart. Es ist traurig, daß gerade besonders fromme Christen für öffentliche Angelegenheiten auf politischem und besonders sozialem Gebiet so wenig Verständnis haben. An den lieben Herrn und Bruder O. A. Koetitz möchte ich nun als Glied der evangelischen Landeskirche die Frage richten:

Entspricht es denn dem Sinn und Geist Jesu, wenn in 'Zions Wachtturm' die Landeskirche als Babel behandelt wird? Ist das brüderlich? Sind nicht auch in der Landeskirche noch genug Seelen, die ihre Kleider helle gemacht haben im Blut des Lammes? Hat oder haben die Landeskirchen nicht eine ganze Wolke von Zeugen in der Vergangenheit gehabt, und haben solche in der Gegenwart noch? Worum droht sich denn aber die Gegnerschaft zwischen L. u. L. und Z. WT?

Zwei Punkte möchte ich nur berühren. Zunächst woher nimmt oder nehmen die Verfechter der Milleniumslehren die Berechtigung, alle Andersdenkenden und Glaubenden als nicht mit der Schrift übereinstimmend zu behandeln und solche den Weltkindern gleichzustellen?

Was wird nicht in unserer Zeit den Christen alles zugemutet, als biblische Wahrheit anzunehmen. Man könnte dann wohl alle Monate zu einer anderen Gemeinde, Gemeinschaft oder Kirche gehen. Gilt denn aber nicht die Meinung des Apostels Paulus: Lasset euch nicht von jeglichem Wind der Lehre umtreiben? Eine neue, wenn auch alte Lehre ist es aber auch nur, was Tagesanbruch und Z. WT. Lehren.

Alle Landeskirchen sind geschichtlich gewordene Institutionen und Früchte der Reformation und haben jede ihre Blutzeugen. Unsere Väter haben widerstanden bis aufs Blut. Es ist wirklich viel verlangt, wenn von Leuten, die die Kirchen als Babel, ja nur als Babel behandeln, uns zugemutet wird, das Erbe unserer Väter, zu dem auch die Landeskirchen gehören, so gering zu bewerten und sich von ihr zu scheiden. Es ist heilige Pflicht gerade eines gläubigen Dieners der Kirche, gegen Irrtümer zu zeugen und die Stimme zu erheben. In der Form mag ja wohl manchmal gefehlt werden; aber die sich beleidigt fühlenden mögen an das alte wahre Sprichwort denken; was du nicht willst, was dir geschehe, das tu auch einem andern nicht.

Wer selber so oft zu Gericht sitzt über die Landeskirchen, hat wahrlich nicht Ursache, empfindlich zu sein, wenn er auch gerichtet wird.

Der Seelenschlaf ist die Hauptlehre vom Tagesanbruch. Der Mensch ist also nach dem Tode ganz tot, auch der HErr Jesus soll's gewesen sein die Zeit nach seinem Verscheiden bis zur Auferstehung. Dann müßte doch Mose, der Mann Gottes, noch heute im Todesschlaf liegen. Nun berichtet uns aber die Taborgeschichte: Es erschienen ihm aber Mose und Elia und besprachen sich mit Ihm (Jesus), was es mit Ihm sollte für einen Ausgang nehmen zu Jerusalem.

Zweitens: Der HErr Jesus ist doch hingegangen im Geist und hat den Geistern im Gefängnis gepredigt, die etwa nicht glaubten zu den Zeiten Noahs, da Gott Geduld hatte. Wie kann man angesichts solcher klaren Schriftzeugnisse, so ohne weiteres verlangen, diese neue oder auch alte Lehre anzunehmen, und die Lehre, zu der unsere Väter mit Verlust ihres Lebens und Hab und Gut sich bekannt haben, uns als Irrtümer und Schriftwidrig bezeichnen und behandeln zu lassen.

Nein und abermals nein. - Alle großen treuen Zeugen der Vergangenheit und Gegenwart haben gelebt und leben ihres Glaubens. Wer bist du, daß du einen fremden Knecht richtest? Muß man doch immer wieder fragen. Wer die reformatorischen Lehren verwirft und die neueren als Schriftgemäßer hinstellt, richtet die alten Gotteszeugen aller Zeiten und mag zusehen, daß er nicht gerichtet wird. Hat Luther den Geist Gottes nicht gehabt?

Wenn die Lehre vom Todesschlaf wahr wäre, kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, so wäre das fast ein Evangelium für die Gottlosen zu nennen. Nach Milleniumslehre wird im tausendjährigen Reich allen, die schon einmal auf Erden gelebt haben, Gelegenheit gegeben werden, unter besseren Verhältnissen sich für oder wider Gott zu entscheiden. Wer dann nicht für Gott und seinen Gesalbten sich entscheidet, soll dem zweiten Tode anheimfallen und von Gott vernichtet werden.

Wäre das aber so, wäre doch die Strafe für ihre jetzige Gottlosigkeit keine große. Ein Gottloser, der jetzt hier nach seinen Herzensgelüsten lebt, läßt doch ja schon den lieben Gott einen frommen Mann sein. Solche Leute würden dann wohl noch leichtsinniger freveln und denken: nun werde ich einmal bloß von Gott vernichtet werden, was liegt daran? Dann bin ich doch nicht mehr, und von der Strafe ist nicht die Rede; dann nehme ich das Gewisse fürs beste und halte mich jetzt an das, was ich habe.

Die Gottlosen sagen doch bekanntlich: Es ist kein Gott. Nun, und wenn ja ein Gott sein sollte und er mich dann vernichtet, so ist eben alles aus, was mach ich mir daraus, ich will lieber das Leben hier in vollen Zügen genießen.

Ganz anders liegt doch aber wohl die Sache, wenn der volle und ganze Ernst einer Ewigkeit dem Sünder bezeugt wird. Doch genug, Bände ließen sich darüber schreiben; ich wollte nur damit andeuten, wie gerecht es ist, vor solchen Lehren zu warnen.

Im übrigen will ich nur noch bemerken, daß ich selber auch ein Anhänger der Lehre vom tausendjährigen Reich bin und auf die Wiederkunft des HErrn Jesu zur Aufrichtung dieses seines herrlichen Königreiches warte und darum bete, aber doch in ganz anderer Weise."

Der zweite Leserbrief ("Licht und Leben" 1909 S. 190):

"Pastor Gieseke in Solingen teilt uns mit:

In Ergänzung der trefflichen Milleniumsaufsätze von Stadtpfarrer Geiges möchte ich noch kurz an einem besonders drastischen Beispiele das oberflächliche und unlogische der Russellschen Bibelauslegung aufweisen.

Bekanntlich leugnet Russell nicht bloß die Hölle und ihre Qual, sondern er behauptet auch: in der Heiligen Schrift werde eine solche nicht gelehrt; das Wort Scheol bzw. Hades bedeute nichts weiter als Tod, Grab.

Da steht ihm nun unter anderm die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus entgegen. Wie wird er damit fertig? Höchst einfach! Die Geschichte ist halt ein Gleichnis.

Der reiche Mann ist die jüdische Nation, die von Gottes Gnade im Alten herrlich und in Freuden lebte, d. h. einen Weg zur Gerechtigkeit hatte; Lazarus sind die Zöllner und Sünder sowie etliche gottsuchende Heiden, die solches Segens entbehren. Daß Lazarus in Abrahams Schoß kommt, bedeutet das 'Evangeliums-Zeitalter' mit seiner apostolischen Einladung zum Heil; die Hölle und die Qual des reichen Mannes ist die Auflösung der jüdischen Nation seit der Zerstörung Jerusalems und ihre Leiden in der Zerstreuung unter die Völker.

Das klingt ja nun ganz schön, solange man nicht nachdenkt. Sobald man das tut, kriegt die Sache ein böses Loch.

Das Wesen des Gleichnisses nämlich besteht doch darin, daß etwas Unbekanntes, Neues, Verborgenes deutlich und anschaulich gemacht wird durch Vergleichung mit etwas Allbekanntem. Also selbst angenommen Russells Auslegung wäre richtig, so würde die Geschichte gerade als Gleichnis den klaren Beweis erbringen, daß Jesus eine Hölle, in der man nicht tot ist, sondern Qualen empfinden, um sich sehen und reden kann, als etwas vorausgesetzt hat, das seinen Zeitgenossen aus den Heiligen Schriften des Alten Testaments ganz geläufig war!

(Es wäre doch auch ein zu großer Unsinn: von einem den man - wenn auch nur gleichnisweise - im Grabe liegend und seelentot sich denkt, kann man doch wirklich nicht sagen: er leidet Qual und schaut sich um, redet mit andern Leuten und denkt an seine Brüder)

Item: Russell schlagt sich mit seiner Auslegung selbst."

Robert Geiges

Über diverse Fortsetzungen verteilt, veröffentlichte die Zeitschrift "Licht und Leben" in der Zeit zwischen 24. Januar - 7. März 1909 eine "Millenium-Tages-Anbruch" betitelte Abhandlung von Robert Geiges, der als Stadtpfarrer in Heilbronn bezeichnet wird.

Vom Umfange her, hätte das auch eine Broschüre sein können. Es gab diese Abhandlung aber nur als Fortsetzungsserie in genannter Zeitschrift. Wie das so mit Fortsetzungsserien ist; sie laufen doch Gefahr nicht richtig zur Kenntnis genommen zu werden. Das es davon keine Broschürenvariante gab, zeugt auch gleichzeitig davon, wie man in den herausgebenden Kreisen jenes Thema einschätzte. Man glaubte wohl, aktuellem Informationsbedürfnis entsprochen zu haben und wähnte weiter, damit sei das Thema wohl endgültig "abgehakt".

Die Rechnung hätte auch fast aufgehen können, aber nur fast. Denn etwas (was dem Autor keineswegs anzulasten ist) war bei dieser Rechnung nicht mit berücksichtigt. Der Umstand, dass einige wenige Jahre später, auch Deutschland maßgeblich vom ersten Weltkrieg betroffen sein würde. Und nach dessen Ende war die Welt in der Tat nicht mehr die, welche sie davor einmal war. Auch die "Stadtpfarrer" usw. sollten noch am eigenen Leibe erfahren, dass eine Konsequenz hiess. Es gibt - zumindest auf dem Papier - in der Nachkriegszeit kein Staatskirchentum in Deutschland mehr. Und so wurde denn auch Geiges, weil er die neuen, von ihm nicht voraussehbaren Entwicklungen, nicht berücksichtigen konnte, alsbald inhaltliche Makulatur.

Selbst Friedrich Loofs, der die erste bedeutsame Schrift zum Bibelforscherthema nach dem ersten Weltkrieg verfasst hatte. Selbst Loofs bewertete nunmehr Geiges, den er inhaltlich durchaus kannte, als eine Randnotiz, die es nicht wert ist, weiterhin sonderlich beachtet zu werden. Dies alles hätte anders sein können; hätte es eben nicht jene Entladung gegeben, die auch die "Stadtpfarrer" nicht verhindert hatten, sich auch nicht ernsthaft darum bemüht hatten, muss man wohl hinzufügen. Hätte es nicht den ersten Weltkrieg gegeben.

Unbeschadet dieser Sachlage kann man Geiges aber als ein frühes Dokument auf deutschem Boden bewerten; zudem auch als eine der umfangreichsten Abhandlungen im hiesigen Kulturkreis, zur Bibelforscherfrage in der Vor-Kriegs-Zeit.

Nachstehend einmal die wesentlichen Aussagen der Geiges'schen Ausführungen, in "einem Abwasch" zusammengefasst:

"Zu den vielen religiösen und kirchlichen Neubildungen unserer Tage ist in letzter Zeit eine neue Gemeinschaft gekommen, die, aus Amerika stammend, auch da und dort in Deutschland von sich reden macht. Es ist nichts weniger als eine Neuentdeckung des Evangeliums, was sie zu bringen verheißt: eine Neuentdeckung nicht etwa im Sinn einer Reformation, eine Reinigung des bisherigen Glaubens von menschlichen Zutaten, vielmehr eine erstmalige Entdeckung des wahren Sinns der Heiligen Schrift, die bisher der 'Namenskirche' dunkel und selbst den Verfassern der Schriften Alten und Neuen Testaments, die eben als Propheten, als 'Mundstücke Gottes', redeten und schrieben, in seiner vollen Bedeutung verborgen geblieben war. Die Überlegenheit mit der die neue Erkenntnis auftritt, offenbart sich am deutlichsten in dem Anspruch, den vollständigen Plan Gottes mit der Welt zu enthüllen, der bis auf diese Zeit nach Gottes Willen verborgen gewesen sein sollte. Daß sich daraus eine vollständige Ablehnung sämtlicher Kirchen und Gemeinschaften ergibt, ist nur folgerichtig, denn wer die rechte Quelle kennt, wird nicht mehr zu löcherichten Brunnen gehen, die kein Wasser geben.

Es mag genügen, das Charakteristische der neuen Lehre aus den oftmals sehr breit geschriebenen, sich immer wiederholenden Abhandlungen herauszuheben und mit einigen kritischen Bemerkungen zu beleuchten.

Wie so manche andere religiöse Gemeinschaft, verdankt auch diese Bewegung ihre Entstehung Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch auf dem Gebiet der Religion.

Dem Adventismus verdankte er (Russell) es, daß sein erschütterter Glaube an die göttliche Eingebung der Bibel wieder gefestigt wurde und diese Berührung mit den Adventisten ist später für ihn von Bedeutung geworden.

Berührten sie sich in diesen Spekulationen mit den Adventisten, so standen sie doch mit deren Erwartung der sichtbaren Wiederkunft Christi im Jahre 1874 im Widerspruch, und beurteilten diese Erwartung als einen Irrtum, da der HErr unsichtbar als ein Geistwesen erscheinen und die Spreu von dem Weizen scheiden werde, ohne daß es die Welt gewahr würde.

Eine Broschüre mit dem Titel: Der Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn ist schon damals in 50.000 Exemplaren verbreitet worden. Das Jahr 1874 ist dann verflossen, ohne daß etwas Bemerkenswertes eintrat, nur daß die Anhänger dieses Zweiges der Adventisten, die sich mit solchen Berechnungen abgaben, sich zu verlaufen begannen. Russell, der sich seinerseits von der Richtigkeit der Zeitberechnung der Adventisten überzeugte, wurde jetzt in seiner eigenen Erkenntnis bestärkt; einige Adventisten schlossen sich ihm an.

Er begründete 1881 die Wochenschrift 'Zions Wachtturm und Verkündiger der Gegenwart Christi'; die er längere Zeit mit seiner Frau, seit seiner Ehescheidung aber allein als Redaktor leitet. (Sie ist 1905-06 erfolgt. Nach der Darstellung Russells in 'Zions Wachtturm' 1907, 4 hat das Gericht den schweren sittlichen Anschuldigungen seiner Frau gegen ihn keine Folge gegeben, die Ehe aber getrennt, weil keine Hoffnung auf Wiederaussöhnung vorhanden sei. Russell gibt als Grund die Herrschsucht und die Intrigen seiner Frau an, die von falschen Freunden noch gegen ihn aufgehetzt wurde).

Zugleich ist er der Verfasser des 'Millenium-Tages-Anbruch', eines umfangreichen Werkes, in dem der Welt bis jetzt in 6 Bänden noch in den letzten Tagen ein 'Schlüssel zur Bibel' und ein 'vollständiger Kursus in der Theologie' geboten wird.

(Der 7. Band ist englisch erschienen [Fehlinterpretation von Geiges], bis jetzt aber noch nicht ins Deutsche übersetzt. Er soll auch nicht übersetzt werden. Warum nicht? Wegen der Nähe des Endes? Oder lohnt es sich für Deutschland nicht? Auch Band 6 ist nur im 'Wachtturm' abgedruckt.)

Wenn man hört, daß von dem ersten Band fast zwei Millionen abgesetzt sind, so läßt dies auf eine weite Verbreitung schließen. Ob aber die Kenntnis der neuen Lehre ebenso weit reicht, ist nicht, gleichermaßen sicher, da der Buchhandel an diesem Absatz so gut wie nicht beteiligt ist, die Verbreitung vielmehr von den Anhängern durch Verteilen besorgt wird, die große Zahl also mehr ein Gradmesser für den Eifer der Verteiler, als für das Interesse der Empfänger ist. Die Opferwilligkeit der Russellianer für ihre Sache scheint in Amerika nicht gering zu sein, da auch der deutsche Zweig durch amerikanisches Geld erhalten wird. Der Prophet Russell verfügt selber über nicht unbedeutendes Vermögen.

Es ist immer wieder bloß der Name Russell zu nennen. Er ist der Verfasser der Milleniumsbücher wie sämtlicher religiöser Leitartikel des 'Zions Wachtturm'. Von anderen Mitarbeitern finden sich fast keine Beiträge, sie beschränken sich auf die Übersetzung. Das gibt von vornherein zu denken. Nirgends ist das Papsttum schrankenloser als in solchen kleinen Sekten.

Auch in Deutschland hat diese Traktatgesellschaft eine Filiale, bisher in Elberfeld, Mirkerstraße 45 (neuerdings Barmen, Wertherstraße; nicht zu verwechseln mit der alten Wuppertaler Trakatgesellschaft in derselben Straße) von wo aus sie durch Bücherverbreitung und reisende Brüder ihre Mission treibt. Daß wir hier eine Pflanze englisch-amerikanischen Ursprungs vor uns haben, spürt der deutsche Leser nicht bloß an dem englischen Deutsch der Übersetzung; noch unmittelbarer kommt es ihm zum Bewußtsein an der echt amerikanischen Art der Reklame auch für religiöse Dinge:

Die Briefumschläge und Postkarten der Gesellschaft sind mit Bibelstellen, sozusagen einem Kompendium ihrer Lehre bedeckt und mit dem 'Plan der Zeitalter' geschmückt.

Während Russell in Amerika mit mehr als 30 Gehilfen und etlichen Reisepredigern mit Vorträgen, Predigtreisen und Beantwortung von Briefen ein ausgedehntes Arbeitsfeld besitzt, ist die Verbreitung seiner Gedanken oder 'die Sammlung der dem Herrn Geweihten' in Deutschland noch in den Anfängen.

Die Abonnenten des 'Wachtturms' betragen etwas über 1000 und zur Aufbringung der Kosten ist amerikanisches Geld erforderlich. Durch Predigtreisen in Nord- und Mitteldeutschland und in der Schweiz (Geschäftsstelle Yverden) wird diese 'Speise für denkende Christen' verbreitet. Nicht durch Kollekte, sondern durch freiwillige Beisteuer erwarten sie die Deckung der Kosten und machen davon ihren Besuch abhängig; irgendwelche Bezahlung erhalten die Diener an diesem Werke nicht.

Zur eigentlichen Gemeindebildung ist es noch nicht gekommen. Dazu ist das Ende zu nahe. Außerdem fehlt es zur Zeit jedenfalls an entschiedenen Anhängern; denn die Versammlungen sind weder in Wuppertal noch sonst stark besucht, vielleicht ein Zeichen dafür, daß derartige Spekulationen doch für die meisten der deutschen Christen aller Schattierungen nicht zum Kern des Glaubens und zur Bedingung der Seligkeit gehören.

Wer die Kirchengeschichte kennt und besonders mit den auf diese Bücher sich gründenden chiliastischen Berechnungen bekannt ist, die im Lauf der Jahrhunderte die Menschen beschäftigen und in Atem hielten, nur um immer wieder ihre Haltlosigkeit zu erweisen, der wird auch diese neueste Blüte an dem Baum der endgeschichtlichen Spekulation mit der Reserviertheit betrachten, die in diesem Fall die von Russell so oft ins Feld geführte Vernunft gebietet.

Wir glaubten freilich bisher, die Schrift recht zu verstehen, wenn wir in dem durch Christus eingeleiteten Zeitalter des Evangeliums die Zeit erkannten, in der die Predigt von der Vergebung der Sünden in Christus den Menschen Gottes Liebe zu offenbaren und sie auf den rechten Weg zu weisen bestimmt ist. Allein die Christenheit ist hier nach R. in einem völligen Irrtum gewesen. In Christus ist verheißen Freude allem Volk (Luk. 2, 10). Er ist gestorben für die Sünden der ganzen Welt (1. Joh. 2, 2). In Ihm soll die Verheißung an Abraham zu ihrer vollen Erfüllung kommen: In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden (Gal. 3,8). Wer will behaupten, daß dem tatsächlich so sei? Ist auch in den herrschenden Kirchen ein Volk Gottes, das erlöst wäre? Bei dieser Gelegenheit wird scharfe, oft nicht unberechtigte Kritik an den bestehenden Kirchengemeinschaften geübt, an der Katholischen, die die Seligkeit an den Gehorsam gegen den Papst bindet - ein für den Amerikaner höchst befremdender Gedanke, - an der reformierten (kalvinisch-presbyterianischen), weil sie mit dem Glauben an die Vorherbestimmung (Prädestination) den Gott der Liebe zum grausamen, willkürlichen Herrscher macht; an der 'arminischen' (gemeint sind alle nicht durch kalvinsche Gnadenwahl beeinflußten Demoninationen), die Gott wohl die Absicht zutraut, alle selig zu machen, wobei aber der Erfolg in dieser Weltzeit doch nur ein äußerst bescheidener genannt werden kann.

Wie steht's vollends mit den Unzähligen, die vor Christus und seither, ohne Ihn zu kennen; gestorben sind, mit den 142 Milliarden Menschen, die der Tod so verschlungen hat? Ist's nicht als ein Fehlschlag anzusehen, wenn von den Vielen, zu denen die Predigt vom Evangelium gelangt, doch nur ein kleiner Prozentsatz zum Glauben kommt, sowohl draußen in der Mission wie in der alten Christenheit?

Wie darf angesichts dieser Erwägungen, Gott die Liebe genannt werden, da doch zum mindesten zu erwarten wäre, daß Gott wenigstens Vorkehrungen getroffen hätte, damit alle das Evangelium hören könnten?

Alle diese Rätsel werden gelöst, sobald wir den Schlüssel in die Hand bekommen, der angedeutet ist in 1. Tim. 2, 5 u. 6:

Das sich Selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches zu seiner Zeit gepredigt würde. Gott hat für alles seine bestimmte Zeit. So ist jetzt für diese Offenbarung die Zeit gekommen. Das Evangeliumszeitalter ist nicht dazu bestimmt, die Völker zu bekehren, darum hat es dies auch gar nicht fertig gebracht. Erst im tausendjährigen Reich wird Christus für alle Menschen der Erlöser werden, als welcher Er für alle das Lösegeld gegeben hat.

Babylon ist die seit dem Mittelalter bei den Sekten übliche Bezeichnung der Kirche im Gegensatz zu der in ihr verkörperten Gemeinschaft der Heiligen.

Denn darauf legt Russell allen Nachdruck. Das tausendjährige Reich und die Gottesherrschaft findet statt auf dieser Erde; und den biblischen Beleg dafür gibt ihm die Stelle Pred. 1,4: Die Erde bleibet ewiglich. Wenn in der Schrift von einem neuen Himmel und einer neuen Erde die Rede ist, so deutet das Russell auf die Umgestaltung der gesamten irdischen, politischen und sozialen Verhältnisse, aber die Erde selbst, der Schauplatz der bisherigen Menschheitsgeschichte, ist für alle Ewigkeit auch der Schauplatz der göttlichen Herrlichkeit.

Die vorausgegangene Lehre vom Millenium fordert mit Notwendigkeit eine nähere Festsetzung der Zeit seines Eintritts. Diese ganze endgeschichtliche Spekulation wäre zwecklos, wenn nicht das alles in naher Aussicht stünde. Wo in der Geschichte schwärmerische chiliastische Hoffnungen aufflammen, verknüpfen sie sich mit genauen Berechnungen. Seit den Tagen des Montanus (ca. 160 n. Christus) haben sich diese Erwartungen um feste Zeiten bewegt, für deren Berechnungen man genügend Anhaltspunkte in der Bibel zu finden glaubte. Um nur ein Beispiel aus neuerer Zeit zu nennen, so verdankt die adventistische Bewegung ihre Zugkraft solchen Aufstellungen, und kein Fehlschlag ihrer Rechnung läßt sie an dem Rechte hierzu irre werden. Wer nun vollends, wie Russell, die ganze Bibel bloß darauf hin betrachtet, ja ihren eigentlichen Zweck eben darin erkennt, daß sie eine bis ins einzelne gehende Weissagung des Milleniums darstellt, für den trifft die Notwendigkeit gebieterisch hervor, auch Tag und Stunde zu bestimmen, und, soll seine Theorie nicht ganz erfolglos bleiben, den Eintritt der Endzeit nicht in eine allzuferne Zukunft zu verlegen.

In dieser Erwartung werden wir auch nicht getäuscht: im II. und III. Band des Millenium-Tages-Anbruch werden wir mit den mannigfaltigsten Berechnungen überrascht, und wohl kaum eine Zahl und Zeitangabe der Schrift, mag sie sich auf die Urzeit, auf das jüdische Reich oder die neutestamentliche Gemeinde beziehen, bleibt für diese Berechnung unverwertet. Das Bedenken des einfachen Bibellesers, der die Worte der Schrift nimmt wie sie lauten und über Mark. 13, 32 nicht so leicht hinwegkommt, weiß Russell - er folgt dabei freilich nur seinen Vorgängern - zu beschwichtigen, indem er ruhig erklärt: Von dem Tag und der Stunde weiß niemand, d. h. jetzt nicht, da Jesus mit seinen Jüngern redet, aber zu seiner Zeit wird es den Dienern Gottes geoffenbart, daß sie es verkündigen. Vielleicht, daß manchem diese Erklärung etwas gewagt erscheint; aber Russell bleibt für die Richtigkeit seiner Ausführung den ausführlichen 'biblischen' Beweis nicht schuldig.

Auch für ihn bildet die Grundlage die von den Kirchenvätern seit Barnabas festgehaltene Berechnung, daß in Anlehnung an Psalm 90,4, und 2. Petr. 3,8 - dem sechs Tagewerke der Schöpfung die Zahl der Jahrtausende des Weltbestandes entspreche, während der Sabbat, an dem Gott ruhte, das Vorbild für den Weltensabbat, das tausendjährige Reich (Offb. Joh. 20,4 ff.) abgab.

Mit dem Jahre 1872 fällt aber der Beginn des 1000jährigen Reiches nicht zusammen; unsere Zeit sieht ja auch für den größten Optimisten nicht danach aus, während Russell einer durchaus pessimistischen Betrachtung der Gegenwart huldigt. Der Termin für die Gottes- oder Christusherrschaft ist das Jahr 1914. Auch diese vor allem durch ihre bedrohliche - oder erfreuliche - Nähe frappierende Angabe ist das Resultat einer genauen Rechnung.

Es ist eine beliebte Methode Russells, die Stellen der Schrift bald eigentlich wörtlich, bald bildlich und symbolisch zu fassen, je nachdem sie einen Sinn geben oder - man wird kaum zu viel sagen - ihm zu seinem System passen. Er findet, daß zuweilen Tage in prophetischer Redeweise auf Jahre hinweisen; demnach ist eine Zeit soviel als 360 Jahre, und als einfaches Rechenexempel ergibt sich somit die Zahl 2520 für die obengenannten Zeiten der Heiden. Ihr Abschluß ist das Jahr 1914, da sie von einem feststehenden Anfangspunkt an zu rechnen sind. Das ist das Jahr 606. Dieses Datum aber gewinnt Russell, indem er von dem ersten Jahr des Cyrus (Kores) und der Heimkehr der Gefangenen 536 v. Chr. ausgeht und die 70 Jahre der babylonischen Gefangenschaft dazu zählt. An anderer Stelle aber rechnet er die Zeiten der Heiden von der Zerstörung Jerusalems durch Nebukadnezar und der Entthronung des letzten Königs, Zedekias. Dies geschah aber 586. So lernen wir es in der Schule; Russell aber scheint das nicht zu wissen. So hat er also das angeblich so wichtige Jahr 1914 gefunden!!

Auf wen eine solche, vollständig in der Luft stehende Berechnung Eindruck machen kann, verdient nach unserer Meinung nichts anderes, als irregeführt zu werden.

Die Zeit zwischen 1872 und 1914 ist die Zeit der Ernte. In diesen Zeitraum fallen die letzten endgeschichtlichen Ereignisse: die Wiederkunft Christi, die Sammlung der kleinen Herde aus der Namenschristenheit (die Sichtung des Weizens vom Scheinweizen), die großen Katastrophen vor der Milleniumsherrschaft, der Sturz des Satans und der Beginn der Auferstehung.

Das Jahr 1874 ist das Jahr der Wiederkunft Christi!!

Wie für Jesus von der Zeit seines Auftretens bis zu seinem Einzug in Jerusalem stark drei Jahre verflossen sind, so übernimmt der seit 1874 gegenwärtige Christus nach der entsprechenden Zeit seine Herrschaft. Seine erste Tat ist die Auferweckung der Seinigen, der Herauswahl, der Braut des Lammes: alle die Geweihten, die seit Jesu Erdenleben entschlafen sind, werden aus dem Schlaf erweckt und nehmen als Geistwesen gleich dem HErrn an der Durchführung seiner Herrschaft teil! Wie ergeht es aber denen, die noch am Leben sind? Mußten sie nicht gleichzeitig mit verwandelt werden? Allerdings eines ist seit 1878 anders geworden. Die Geweihten werden nicht mehr entschlafen, wie in früherer Zeit, sondern unmittelbar mit dem Tode in das Leben der Herrlichkeit übertreten, als unsichtbare Geistwesen, die Arbeit der geistigen Welt fortzusetzen! Wer an der Herrlichkeit der Unsterblichkeit teilhaben will, muß vorher eingesammelt sein. Freilich, es ist die letzte Stunde. Schon seit 1881 ergeht der Ruf zu der hervorragenden Gnade nicht mehr. Doch ist es denen, die bisher für den Herrn gelebt haben und die gegenwärtige Wahrheit beherzigen, noch möglich, aufgenommen zu werden.

Für die Welt aber kommt innerhalb der vierzig Jahre der Ernte der Tag des HErrn, der Tag der Rache. Eine Zeit großer Trübsal wird anbrechen, ein völliger Umschwung aller politischen, kirchlichen, sozialen Verhältnisse findet statt. Am Ende wird das, was heute Christentum heißt, nicht mehr sein: Babylon stürzt zusammen, nachdem die kleine Herde sich davon getrennt hat. Die ganze gegenwärtige Gesellschaftsordnung ('Himmel und Erde') werden vergehen; nicht mit einem Male im lauf von vierundzwanzig Stunden, aber doch mit rapider Schnelligkeit im Vergleich mit der langdauernden Herrschaft der bisherigen politischen und kirchlichen Ordnung. Das alles ist bereits am Werke; Russell erkennt auch die Anzeichen des Endes in den Bewegungen in der heutigen Völkerwelt auf den verschiedensten Gebieten; 'einige weitere Jahre' - so schreibt Russell im Jahre 1899 - 'müssen jene Kräfte zur Reife bringen, welche jetzt auf die Herbeiführung der großen Trübsal hinarbeiten, und die gegenwärtige Generation wird Zeuge sein der schrecklichen Krise und den Entscheidungskampf durchzumachen haben.'

Wir werden später noch auf diese Umwälzungen zu sprechen kommen.

Der vierte Band des Millenium-Tages-Anbruchs mit dem Titel: 'Der Tag der Rache', der davon ausführlich handelt und die ganze moderne Welt nach ihren politischen, kirchlichen, sozialen und technischen Seite unter diesem endgeschichtlichen Gesichtspunkt bespricht, entbehrt nicht des Interesses auch für den, der den Milleniums-Spekulationen keinen Geschmack abgewinnen kann.

In dieser letzten Zeit wird aber noch eine andere Weissagung in Erfüllung gehen: Die Wiederherstellung Israels in Palästina. Im Alten Testament ist an vielen Stellen von der glorreichen Wiederherstellung des Volkes in seinem Lande die Rede, aus dem es dann nicht mehr herausgerissen werden soll. Russell weist auf die Vorbereitungen hin, die hierfür bereits gemacht werden; die Scheidung der orthodoxen, am Glauben der Väter festhaltenden Juden von den indifferenten Reformjuden, die Bewegung der Zionisten, den Berliner Kongreß von 1878, der durch die Abmachungen der Mächte über die Türkei den bisher übel geplagten Juden in Palästina Erleichterung verschaffte. Besonderen Wert legt Russell darauf, daß auf diesem Kongreß ein geborener Jude, der englische Lord Beaconsfield, die Hauptrolle spielte. Ein merkwürdiges Zusammentreffen!

Seit dem Jahre 1878 datiert der Umschwung, also seit demselben Jahr, da Christus die Herrschaft übernahm. Bereits sieht er auch den Beginn der Rückwanderung der Juden nach Palästina und erkennt in den Missionserfolgen den ersten Anfang der Bekehrung Israels.

Bei der Aufrichtung der Milleniumsherrschaft wird dann Israel seine große Rolle spielen. Wenn im Oktober 1914 der Tag der Rache über die Nationen fällig ist, wird Gott seine Regenten einsetzen. Als solche kommen gemäß dem Bunde Gottes mit Abraham nur Israeliten in Betracht, die frommen Väter, die ohne weitere Probezeit zu Beginn des Milleniums als vollkommene, gottebenbildliche Menschen auferstehen und durch ihre vollkommene Intelligenz rasch alle Kenntnisse und Fortschritte der Gegenwart nachgeholt haben werden. Israel wird dann seine auferstandenen Väter erkennen und durch sie sich zu Christus führen lassen. Während die Völker zuerst über sie als Schwindler spotten, wird Israels Wohlfahrt unter ihrem Regiment sich so wunderbar rasch heben, daß die unter den anarchischen Zuständen seufzende Welt sich sehnt, unter ihre Herrschaft zu kommen und an der Wohltat der von ihnen durchgeführten moralischen und gesellschaftlichen Reformen (Aufhebung der Schnapsbuden, Brauereien, Cafes, Bordelle, Spielhäuser, Resulierung des Privatkapitals und des Bodenbesitzes usw.) teilzunehmen.

Es trennen uns noch fünf Jahre von dem Ende, an dem alle diese Anfänge zur Vollendung gekommen sein müssen. Und der Verlauf der Geschichte spricht nicht eben zu Russells Gunsten: Wir sind heute kaum weiter als im Jahre 1878. Von einer Auswanderung des jüdischen Elements ins Land der Väter ist, wenigstens in Deutschland, noch wenig zu spüren.

Die adventistische Bewegung des Farmers William Miller, der die Wiederkunft Christi auf das Jahr 1844 voraussagte, bezeichnet Russell trotz seines Irrtums als den Anfang des rechten Verständnisses der Weissagung. In dieser Täuschung und der darauffolgenden Enttäuschung der Millerianer sieht er eine gottgewollte Beleuchtung des Wortes: der Bräutigam verzog. Aber es ist auch unschwer zu sehen, daß Russells Gedanken nichts anderes als adventistische sind. Einmal übernimmt er nicht nur die adventistische Zeitberechnung, sondern treibt auch die adventistische Betrachtung der Bibel durch die Hervorhebung der endgeschichtlichen Weissagung als ihres einzigen Zwecks, auf die Spitze. Und mag er gleich in der Bestimmung der Zeit, sowie in der Auffassung der Wiederkunft Christi und der Art der letzten Umgestaltung der Welt sich von seinen Lehrmeistern unterscheiden, ja scheinbar in letzterem Punkt - unsichtbare Gegenwart Christi, nicht sichtbare Wiederkunft; politische und soziale Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung, nicht Verbrennen der Welt durch Feuer - in einem diametralen Gegensatz zu ihnen stehen: das Russellsche System ist doch in seinem Kern nichts als eine Abwandlung der adventistischen Gedanken. Zu dieser Abwandlung war er genötigt. Stand ihm die Richtigkeit der Berechnung des Jahres 1874 fest, so mußte er angesichts der Sachlage zu einer unsichtbaren Gegenwart greifen.

Die Nähe des Eintritts erkennt er an den Zeichen der Zeit, die er einzeln in der Schrift vorgebildet findet. Damit ergibt sich eine dritte Reihe von Motiven: die gesamte kirchliche, politische und soziale Lage der Welt weist auf das Ende hin. Alle die hin und her in der Schrift verstreuten Hinweise auf den Zusammenbruch dieser Welt vor der Aufrichtung des Gottesreiches zeigen auf unsere Zeit. In der Beurteilung der Kirche stellt sich Russell als ein würdiger Vertreter alten sektiererischen Gedankens dar: die Christenheit, die Kirche, ist Babylon, und ihre wahre Not kommt immer mehr zum Ausdruck. Russell entpuppt sich hier als ein Feind jeder kirchlichen Organisation, nicht bloß der evangelischen Landeskirchen in ihrer eigentümlichen Verbindung mit dem Staat - wir können das dem Amerikaner nicht übel nehmen und nicht erwarten, daß er für dieses bei uns geschichtlich gewordene Verhältnis irgend welches Verständnis besitze; wir sind selbst keine uneingeschränkten Bewunderer dieses Systems, ohne doch auch seine Vorteile zu übersehen. Aber sein Urteil trifft ebenso alle die Freikirchen und Gemeinschaften, die, wie die methodistische oder die anderen Denominationen, eine Art Organisation für nötig erachtet und den Inhalt des Glaubens in einzelne Sätze gefaßt haben, seien diese auch nur als allgemeine Richtlinien gemeint. Jede Organisation der Kirche in der Welt verurteilt er als Abfall, er ist ein angesagter Feind aller Glaubenssätze - und was mutet er dabei seinen Gläubigen alles zu! Eine Reformation wie zu Luthers Zeit, dem er ein gewisses Verdienst auf Reinigung der Kirche durch Zurückgehen auf die Schrift nicht aberkennen will, ist nicht mehr möglich; jene geheimnisvollen Worte an der Wand des Königspalastes zu Babylon: 'Mene mene tekel upharsin!' werden auf die heutige Christenheit angewendet, und es gibt keine andere Rettung als auszuwandern aus Babel, als sich loszumachen von jeder Teilnahme an ihrer bürgerlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Organisation. Aber nicht eine neue Sekte soll gegründet werden, vielmehr suchen die, welche die Verderbtheit der Kirche dank der neuen Erleuchtung erkannt haben, ihre Zuflucht unmittelbar unter dem Schirm des Höchsten. Noch eine kurze Zeit.

Mit dem Jahr 1914 wird auch das, was sich jetzt Christenheit nennt, nicht mehr sein. Der Mangel des geschichtlichen Sinnes tritt in diesen Erörterungen über die Kirche trotz aller Belesenheit allzu deutlich hervor; Russell ist ein Vielwisser, der im Bann seiner Idee nicht imstande ist, die Geschichte richtig zu würdigen. Er kennt wohl die Schattenseiten solcher Organisationen; aber er übertreibt sie einseitig, ohne die Notwendigkeit solcher Ordnungen zu erwägen oder gar etwas Gutes auf der anderen Seite zu sehen. Neben der Beschränkung der individuellen Freiheit sieht er nur die Verweltlichung und Veräußerlichung der Kirche, ihr Streben nach Macht und Einfluß und die Vernachlässigung ihrer eigentlichen Aufgaben. Allein ersteres ist nicht unter allen Umständen ein Nachteil. Wir sind mit Russell einig in der Verurteilung der Ketzerpresse, auch ihrer modernen Erneuerung; aber daß das Denken der einzelnen sich der Zucht des göttlichen Wortes zu unterwerfen hat, nicht schrankenlos dem eigenen Geiste folgen darf, das sollte uns wiederum die Geschichte gelehrt haben. Gegen die Gefahr der Verweltlichung und Veräußerlichung ist man auch in kirchlichen Kreisen nicht blind; aber die Meinung ist verkehrt, als ob die Organisation an sich schon ein Abfall von den Ideen des Christentums bedeutet. Sie ist vielmehr eine geschichtliche Notwendigkeit, und als solche nicht ohne Gottes Willen.

Wie die kirchlichen Zustände der Gegenwart, so erkennt Russell auch die soziale und politische Lage deutlich als den Anfang vom Ende. Alles bereitet sich vor für den Tag der Rache, der der Aufrichtung des Gottesreiches vorausgeht. Im Recht seiner Anschauung bestärkt ihn die Beobachtung der zunehmenden Kriegsrüstungen, der Völkerbündnisse, der Verbrüderung der proletarischen Massen, die nur eine Vorstufe der letzten Revolution ist, schrecklicher als die französische, die ihm die Farben zu seinem Zukunftsbilde liefert. Die Zeugnisse der Schrift werden hier noch gestützt durch die Aussprüche von Gelehrten und Politikern, die ängstlich und besorgt in die Zukunft schauen, weil sie das Heilmittel für alle diese Übel nicht erkennen, das tausendjährige Reich.

Noch mehr als die politische Konstellation sind ihm die wirtschaftlichen und sozialen Zustände und Spannungen ein Beweis der nahen Katastrophe. Die Erfindungen der Neuzeit, Eisenbahn, Post, Telegraph, Telefon, die die Völker einander näher gebracht haben, sind die Erfüllung der Weissagung Zeph. 3,8f. Von der Versammlung der Nationen; die Eisenbahnen insbesondere findet er angedeutet in dem Hin- und Herlaufen der Menschen in der Endzeit. Wie wird Russell erst das lenkbare Luftschiff Zeppelins in der Schrift vorgebildet finden (Jes. 14, 29 ?) und mit Genugtuung in seine endgeschichtlichen Beweise einrangieren! Auch in dieser Deutung der modernen Erfindungen ist Russell keineswegs original. Die Eisenbahnen haben es seit ihrem Bestehen auf sich gehabt, als Vorläufer des Endes angesehen zu werden; und bei der Erfindung des Leuchtgases haben ängstliche Gemüter den Gasflammen geradezu ihren satanischen Ursprung angesehen.

Mehr Zustimmung wird Russell finden, wenn er auf die sozialen Spannungen der Gegenwart zu sprechen kommt. Hier hat er ja auch auf amerikanischem Boden das beste Feld der Beobachtung und findet ausgiebigste Nahrung für seine pessimistische Betrachtung. Die rapide Zunahme der großen Vermögen, die ebenso rasch sich steigernde Armut, die brutale Macht des Reichtums, der sich in der Hand weniger zusammenhäuft, die Ring- und Trustbildung, die Organisation der Arbeiter für den Kampf um die Existenz übertrifft an Großartigkeit und Furchtbarkeit alles bis jetzt dagewesene, auch die Bildersprache der Weissagung, und in Amerika erscheint das alles noch grotesker als in der alten Welt. Hier findet denn auch Russell Gelegenheit, alle möglichen Fragen zu behandeln und von seinem Standpunkt aus zu beleuchten. In breiter Ausführlichkeit bespricht er die Frage der Frauenarbeit, das Problem von Angebot und Nachfrage, die Arbeiterbewegung, die 'gelbe Gefahr', daneben Ausführungen über deutsche soziale Verhältnisse, immer in der Beleuchtung, wie er sie brauchen kann; weiter die Bauernfrage, Gold, und Silberwährung - die Abschaffung der Silberwährung 1873 und der darauf zurückzuführende Ruin des Bauernstandes ist schon Jak. 5,1 ff. geweissagt! - und die Bedeutung der Maschine, Temperenzbewegung und Frauenstimmrecht: in zwangloser Folge ziehen diese bunten Bilder an uns vorüber, und über dem Interesse, mit dem sie behandelt werden, vergißt man ganz, daß in all diesen Fragen immer nur die Hilflosigkeit der gegenwärtigen Welt zum Ausdruck kommt und gebieterisch die Neuordnung des tausendjährigen Reiches fordert. Vollends aber wird die Lage verschärft und ihre Unhaltbarkeit muß sich jedem Einsichtigen nach Russell offenbaren, seit die allgemeine Aufwärtsbewegung der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum Stillstand gekommen, eine allgemeine Überproduktion und völlige Lahmlegung mancher Industrien durch den Mangel an geeigneten Absatzgebieten zutage getreten ist.

Wie es nun vollends zum letzten Schlag kommt, gesteht Russell nicht vorauszusehen. 'Unleugbar ist, daß die seit 1874 dem Beginn der Ernte und des Tages der Rache verstrichenen 26 Jahre - Russell schreibt das im November 1899 - die großen Ereignisse, von denen die Schrift spricht, auf allen Gebieten vorbereitet haben. Sie werfen schon ihre Schatten voraus und kommen so sicher, als sie prophezeit sind. Und 14 Jahre reichen vollauf hin zu ihrer Abwicklung.' 'Die Gesellschaft gleicht einem Pulverfaß, in das nur ein Funke zu springen braucht, einem schlagfertigen Heer, das nur auf ein Kommando wartet, um loszuschlagen. Aber Gott ist es, der die Zeit bestimmt.'

'Jedoch der große Herzog versichert seiner Garde, der Kirche, daß die Katastrophe … Doch so lange hintangehalten werden wird, bis alle, die des Königs sind, zur kleinen Herde, zur Auswahl gehören, versiegelt und versammelt sind.' Sie werden vorher von dieser Erde weggenommen, verwandelt, denn wenn dieser letzte Streit beginnt, ist ihre Mission zu Ende.

Wie manche Pflanzen, auf dem Boden abgeschnitten, nur um so üppiger treiben, so hat auch kaum je ein Schwärmer darum seine Hoffnungen aufgegeben, weil seine Berechnungen ihn betrogen haben. Man könnte ja ruhig die Kritik der Milleniumslehre der Zeit überlassen, um so mehr als der Termin doch bald fällig ist, an dem die Herrschaft des wiedergekommenen Christus nicht bloß den Geweihten, sondern auch der Welt, zu der wir uns in diesem Fall rechnen müssen, erkennbar sein wird. Es ist ein gefährliches Gift, diese schwärmerische eschatologische Spekulation. Wer einmal daran gewöhnt ist, läßt nicht mehr davon, und ist zum mindesten in Gefahr, den Blick für das Nächstliegende zu verlieren.

Russell will den Materialismus bekämpfen; ob er ihm nicht mit solchen ethischen Grundsätzen nicht eher Vorschub leistet?

Der die Diktatur überwaltende Herr

Über ein bedeutendes Ereignis des Jahres 1909, konnte man im Rückblick im "Jahrbuch 1933 der Zeugen Jehovas" (S. 9) lesen:

"Im Jahre 1909 wurde das irdische Hauptquartier des Werkes des Herrn nach Brooklyn verlegt.

Dies geschah, und Charles T. Russell veranlaßte, dass die Volkskanzelvereinigung organisiert wurde, und ersuchte einen Juristen (Rutherford), die Gründungsurkunde dieser Körperschaft abzufassen. Gerade um jene Zeit versuchten Feinde des Werkes des Herrn, die gegen Bruder Russell waren, ihn hinauszudrängen und einige ihrer Günstlinge in das Amt von Leitern der Körperschaft und des Werkes der Gesellschaft zu bringen. Der mit der Abfassung der Körperschafts-Gründungsurkunde beschäftigte Jurist wurde gebeten, wenn möglich zu verhindern, dass die Gegner das in Zukunft von der Volkskanzelvereinigung verrichtete Werk behindern können. Das Ergebnis war, dass die Gründungsurkunde der letztgenannten Körperschaft so aufgesetzt wurde, dass sie vorsah, der Präsident solle sein Amt auf Lebenszeit innehaben. Der eigentliche Zweck dieser Bestimmung der Gründungsurkunde war, die damaligen Feinde des Werkes des Herrn daran zu hindern, sich in das Besitztum der Gesellschaft hineinzudrängen, dass zur Fortführung des Werkes des Herrn auf Erden benutzt wurde. Offenbar überwaltete der Herr diese Handlungsweise."

Dies war sozusagen Rutherford's erstes großeres "Kabinettsstückchen". Nicht so sehr Russell sollte der eigentliche Nutznießer dessen sein, sondern er selbst in dessen (ungeahnter) Nachfolge. Kein Kritiker konnte Rutherford je gefährlich werden, nachdem er einmal fest im Sattel saß. Denn er war ja lebenslang Präsident der "Volkskanzelvereinigung", die ohnehin nur ein Aushängeschild für die eigentliche WTG war und später auch formell selbiger zugeschlagen wurde. Über diese unterschiedlichen Namen, um inviduelle Gesetzeslagen zu berücksichtigen, heisst es klar in "Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben" (S. 49):

"Doch vertreten im Grunde genommen alle die Watch Tower Bible and Tract Society … an die alle Spenden überwiesen werden sollten."

In der deutschen "Wachtturm"-Ausgabe (1909 S. 21) wurde für die Verlegung des Hauptbüros von Allegheny, Pennsylvanien nach New York noch ergänzend auf den größeren Bekanntheitsgrades letzterer Stadt hingewiesen. Wörtlich schreibt der "Wachtturm", dass diese Stadt "wo eine große Bevölkerung des Mittelstandes wohnt, eine Stadt, die wegen ihrer vielen 'Kirchen' sehr gut bekannt ist. Dies schien uns für unsere Arbeit in den wenigen übrigen Jahren ein guter Mittelpunkt zu sein."

Mit Zins- und Zinzeszins

Las man eben die Floskel von "wenigen" Jahren, so ist das wohl auf die dem Endzeitdatum 1914 zufiebernde Bibelforschergemeinde abgestimmt. Ernsthaft daran geglaubt haben die WTG-Funktionäre wohl selbst nicht daran. Man sollte mal als Vergleich das Beispiel der "Katholisch-apostolischen Kirche" heranziehen. Das war eine, einige Jahrzehnte früher in Europa gegründete Religionsgemeinschaft, deren Wesenskern ebenfalls die Endzeitlehren sind. Sie glaubten, dass zu diesem Zwecke die Ausrufung neuer Apostel notwendig sei. Aber sie lehnten es strikt ab, nachdem die Apostel allmählich wegstarben, Nachfolger dafür zu ernennen. Das machten zwar nicht alle so mit. Die sich daraus abspaltende "Neuapostolische Kirche" handhabte das grundsätzlich anders. Aber die Stammgemeinde, die Katholisch-apostolische Kirche, wollte de facto lieber aussterben, als Ersatz für wegsterbende Apostel zu benennen. Da war offensichtlich noch wirklicher Glaube an solche Endzeitthesen vorhanden.

Ganz anders bei den Bibelforschern. Die entwickelten sich zunehmend zu einem Geschäftsunternehmen. Für Expansion wurde anfänglich sogar investiert. In der Gewissheit. Die Gelder kehren später mit Zinseszins zurück.

Belegt ist dies auch am "Wachtturm"-Jahrgang 1909.

Für jenes Jahr wurde der deutsche Gesamthaushalt der Bibelforscher auf 41.490 Mark beziffert. Davon 9.841 Mark selbst erwirtschaftet und 31.648 Mark aus Brooklyn zugeschossen.

Für das Vorjahr 1908 lauteten die gleichen Zahlen.

Deutscher Gesamthaushalt: 27.259 Mark.

Davon 7.451 Mark Eigenerwirtschaftung, und Zuschuss aus den USA, 19.451 Mark.

Die Ziffern für 1907

39.928 Mark deutscher Gesamthaushalt.

Davon 6.034 Mark Eigenerwirtschaftung und 32.883 Mark Zuschuss aus den USA.

1906:

Deutscher Gesamthaushalt: 9.515 Mark. Davon 7.251 Mark Eigenerwirtschaftung und 2,264 Mark Zuschuss aus den USA.

Bezüglich des Jahres 1905 waren die Zahlen

Deutscher Gesamthaushalt 19.185 Mark.

Davon 3.125 Mark Eigenerwirtschaftung und 16.185 Mark Zuschuss aus den USA.

Die monatliche Gesamtauflage des deutschen "Wachtturms" wurde im Jahre 1908 auf 1.800 Exemplare beziffert.

Summa summarum. Zu Zeiten wo das Geschäft noch nicht so florierte, wo Subventionen aus den USA noch nachweisbar waren, da wurden auch entsprechende Zahlen im deutschen "Wachtturm" veröffentlicht. Nachdem sich jedoch zunehmend der Selbsttrage-Effekt eingestellt hatte, unterblieb bis heute auch die Veröffentlichung entsprechender Bilanzdaten.

Der nächste Jahrgang   1910

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