Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Wie das "Nadelöhr" sich wandelte

Gemäß der Neuen Welt Übersetzung liest man in Matthäus Kap. 19:

"Jesus aber sprach zu seinen Jüngern: „Wahrlich, ich sage euch, daß es für einen Reichen schwierig sein wird, in das Königreich der Himmel einzugehen. Wieder sage ich euch: Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen." Als die Jünger das hörten, zeigten sie sich höchst erstaunt und sprachen: „Wer kann dann wirklich gerettet werden?" Jesus schaute sie an und sagte zu ihnen: „Bei Menschen ist dies unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich."

Diese Aussage hatte wohl zu allen Zeiten den Sinn der Bibelausleger beflügelt. Auch Russell bildete keine Ausnahme von dieser Regel. So kam er etwa schon im Band 4 seiner "Schriftstudien" darauf zu sprechen, wenn er dort interpretiert:

"Wenn unter dem "Nadelöhr das Tor dieses Namens in Jerusalem gemeint ist, was wahrscheinlich ist, so besagt die Stelle, daß die Reichen, um ins Reich Gottes einzugehen, erst gebeugt und entlastet werden müssen wie die Kamele, die nachts, wenn die anderen Tore verschlossen waren, durch jenes "Nadelöhr eingelassen wurden."

In der Märzausgabe 1907 des "Zions Wacht Turm" wird das erneut von ihm thematisiert. Dort äußert er:

"Jesu Hinweis auf das Kamel und das Nadelöhr ist so zu verstehen, daß letztere eine kleine schmale Tür im Stadttor bedeuten soll. Dieses Pförtchen mannte man Nadelöhr. Wenn das Tor der Stadt bei Sonnenuntergang aus Furcht vor Räubern usw. geschlossen wurde, brauchte der Wächter nur das kleine Nadelöhr zu bewachen. Der Durchgang durch dasselbe war mit Absicht erschwert, damit das Eindringen von Feinden verhütet wurde. Es soll, wie man sagt, einem Kamel möglich gewesen sein, sich auf den Knieen hindurchzuquetschen, nachdem die Last von seinem Rücken entfernt war. Ob es sich in der Tat so verhält, läßt sich nicht mehr bestimmt feststellen. Jesu Gedankengang dabei ist wahrscheinlich folgender: Kein Reicher kann in das Reich eingehen. Das einzige Mittel, um hineinzukommen, ist arm zu werden und gar nichts mehr zu sein, - durch das Drangeben von allem. Und das schließt Reichtum aus, auch auf sozialem, politischen und finanziellem Gebiete. Also, was für eine Stellung man auch früher eingenommen hat, man muß aufhören, in seinem eigenen Namen, Würden und Besitz reich zu sein, ehe Gott einen würdig für Sein Reich erachten kann. Der Geist des Königlichen Priestertums ist der der Selbstentsagung, und nicht der Selbstsucht. …"

Russell zusammen mit seinem Sekretär Menta Sturegon beim ausbrüten seiner "Wahrheit"

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Schon seine Nachfolger Rutherford befand alsbald. Das mit dem "arm werden und gar nichts mehr zu sein." das wolle er doch lieber - zumindest für seine Person - schleunigst vergessen. 

Rutherford mit Cadilac in Positur vor Beth Sarim nach der Wiedergabe der polischen Bibelforscher-Zeitschrift "Swit"

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Offensichtlich verdrängte aber Rutherford den Widerspruch zwischen seinen Worten und seinen Taten. Einem Beleg dafür begegnet man denn auch im "Wachtturm" vom 1. Juli 1932 S. 198 wenn er dort schreibt (oder schreiben lässt):

"Manche haben gedacht, sie könnten fortfahren, Reichtum zu erwerben durch dieselben Methoden, die das Großgeschäft anwendet und trotzdem noch in das Königreich Gottes zu kommen; aber eine solche Sache ist eine absolute Unmöglichkeit: 'Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr eingehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes eingehe.' (Lukas 18:25). Es wäre nicht richtig, diese Worte Jesu nur auf das kleine Tor in der Mauer Jerusalems zu beziehen; die Worte meinen genau das, was sie sagen. Irgendein Mensch, der sich der Methoden des Großgeschäfts bedient, könnte unmöglich im Reiche Gottes sein."

Wohlweislich unterlässt es Rutherford aber jene nebulösen "Manche …" in seinem Text, die sich da vom "Grossgeschaft" aushalten lassen, näher zu lokalisieren. Durchaus nicht unwichtige Stimmen meinen; zu diesen "manchen" gehörte auch er selbst, höchstpersönlich, indem er sich sein Steckenpferd, eine umfängliche kommerzielle Radioverkündigung, eben von jenem "Grossgeschäft" maßgeblich finanzieren lies. Subventionsmechanismen begegnet man auch in der Gegenwart. Um nur ein Beispiel zu nennen. Die kostenlosen werbefinanzierten Zeitungsausgaben, die da allwöchentlich die Briefkästen zu verstopfen pflegen. Solche "Sponsoren" indessen handeln nicht uneigennützig. Das war auch bei Rutherford schon so.

Von Zeit zu Zeit wird da schon eine Kosten-Nutzen-Analyse durchgeführt. Offenbar fiel die für Rutherford zusehends ungünstiger aus; weshalb er denn auch in vorstehenden Worten seinem Frust einmal freien Lauf lies.

Es ist auch noch bemerkenswert, dass Rutherford, indem er sich von der Russell'schen Nadelöhr-Auslegung abwandte, diesem nicht einmal beim Namen nannte. Aber das kennt man ja auch aus anderen Beispielen; etwa seiner Kippung der Russell'schen Pyramidentheorien.

Nach 1945 war die Russell'sche Nadelöhr-Interpretation, wiederum ohne ihm beim Namen zu nennen, endgültig zu den Akten gelegt. Einem frühen Bespiel dafür begegnet man im "Wachtturm" des Jahres 1951 S. 272f. Dort liest man:

"Wir erinnern uns, dass man vor Jahren das 'Nadelöhr' so erklärte, als ob es eine kleine Tür in einem der grossen Tore Jerusalems bedeutete, so dass, wenn die Nacht hereingebrochen und die Tore verschlossen waren, man dieses Türchen öffnen und das Kamel von seiner Last befreien konnte, so dass es auf den Knieen und Schenkeln, anders gesagt: unter grossen Schwierigkeiten, durch die kleine Tür hindurchkriechen konnte.

Dann im Jahre 1940, gab George M. Lamsa seine Übersetzung 'Das Neue Testament, übersetzt aus aramäischen Originalquellen' heraus, worin Matthäus 19:24 wie folgt lautet:

'Wiederum sage ich euch: Es ist leichter für ein Seil, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen.'

In Lukas 18:25 aber wird in der Originalbibel ein anderes griechisches Wort benutzt, und die Neue-Welt-Übersetzung gibt somit diesen Vers wie folgt wieder:

'Es ist in der Tat leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Königreich Gottes eingehe.' Wir glauben, dass Jesus eine buchstäbliche Nahnadel und ein buchstäbliches Kamel meinte, um die Unmöglichkeit der Sache ohne die äusserste Hilfe Gottes darzustellen."

Auch bei späterer WTG-Thematisierung dieses Themas, gibt es keine Rückkehr zu Russell mehr. Etwa, wenn man in "Erwachet!" vom 22. 8. 1976 liest:

"Um zu veranschaulichen, wie schwer es ist, in das Königreich zu gelangen, sagte Jesus Christus: "Es ist leichter für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, als für einen Reichen, in das Königreich Gottes einzugehen" (Matth. 19:24). Was für ein Nadelöhr war das eigentlich?

Es war das Öhr einer gewöhnlichen Nähnadel. In dem Werk 'An Expository Dictionary of New Testament Words' heißt es: "Das ,Nadelöhr auf kleine Tore anzuwenden scheint ein neuzeitlicher Gedanke zu sein; in alter Zeit findet sich davon keine Spur. Der Herr wollte mit seiner Erklärung das menschlich Unmögliche an der Sache zum Ausdruck bringen, und man braucht nicht zu versuchen, die Schwierigkeit abzuschwächen, indem man das Wort Nadel so auffaßt, als bedeute es mehr als das gewöhnliche Werkzeug."

1907er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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