Annotationen zu den Zeugen Jehovas

„Bei Wind und Wetter"

In ihrem Buch „Hirten ohne Erbarmen" (S. 91) berichtet Josy Doyon auch die nachfolgende Episode:

„Für mich kam auch bald die Gelegenheit, mich heftig zu schämen, weil ich mich derart gesträubt hatte, an dem Kongress (Nürnberg 1955) teilzunehmen. Da wurde nämlich laut verkündet, dass fünf Zeuginnen in Nürnberg während des Kongresses ihre Babys zur Welt gebracht hätten. Diese Zeuginnen hätten die wahre Wertschätzung für den wunderbaren Kongress 'triumphierendes Königreich' bekundet, denn sie hätten in ihrem Zustand die Mühen einer weiten Reise nicht gescheut".

An diesem Bericht wird man erinnert, wenn man in der CV 176 (März 1984) auch den folgenden kommentierten Erlebnisbericht liest:

WENN man von Jugendproblemen spricht, darf man keinesfalls die Eltern vergessen, die das Erziehungsrecht ihrer Kinder haben. Die Autorität von Vater und Mutter ist, wie schon erwähnt, naturgemäß im Kindes- und frühen Jugendalter sehr groß.

Aus dieser Tatsache .heraus erwächst den Eltern aber auch eine hohe Verantwortung für das physische und psychische Wohl ihrer Kinder! Und welche Mutter möchte: nicht das Beste für sie?

Die Situation in den Versammlungen´

WIEVIEL unverantwortliche Vorkommnisse mußte ich aber in den vielen Jahren meines ZJ-Lebens bei Eltern von unmündigen Kindern erleben. Und das schlimmste ist: Vielen Zeugen waren diese Fehler auf Grund ihrer Wachtturm gemäßen Erkenntnis gar nicht bewußt.

EINES Tages bekamen wir beim WT-Studium Besuch eines Ältesten. Unseren 7-Monate alten Säugling legten wir während dieser Zeit in sein Laufgitter. Am Schluß der Zusammenkunft berichtete der Bruder uns stolz, daß seine drei Kinder in diesem Alter schon dem Studium beigewohnt hätten. Er hatte sie auf die Couch gesetzt; damit sie nicht umfallen, hätte er auf beiden Seiten ein Kissen gelegt. .Natürlich sollten wir uns dieses Beispiel als Vorbild nehmen! Wie oft mußten wir miterleben, wie Zeugen ihre Kinder im Vorschulalter noch abends um 20.00 Uhr in die Stunde mitnahmen, die bis 21.30 oder sogar länger ging! Bei Wind und Wetter nahmen sie ihre Sprößlinge mit. Zunehmende Nervosität, Schlafstörungen und andere Krankheiten konnten sie nicht von ihrer Methode abbringen.

Die Haltung der WTG

KEIN Wunder - die Gesellschaft unterstützt ja auch diese Handlungsweise. Da wird in ihren Publikationen berichtet, wie Eltern ihre Säuglinge zu Kongressen mitschleifen, wie sie ihre Kleinkinder in den Predigtdienst mitnehmen. Damit wird nur ein Ziel verfolgt: Von frühester Jugend an sollen die Kinder im WTG-Glauben erzogen werden. Schließlich sind die Kinder von ZJ die bedeutendste Kaderreserve der Organisation. Was kümmert sie schon die Gesundheit ihrer Anhänger, auch wenn es Kleinstkinder sind. Daß ein Säugling, der 7 Monate alt ist noch nicht 1 ½ Stunden sitzen kann und darf, weil das Rückgrat eine solche Belastung nicht aushält, was kümmert es die Gesellschaft? Daß ein Kleinkind um 20.00 Uhr ins Bett gehört, was kümmert es die Gesellschaft? Nein, im Gegenteil. Solche Marter von Kindern werden im „Wachtturm" und „Erwachet!" als besondere Loyalität der Eltern noch hervorgehoben. Welche Menschenverachtung steht doch dahinter!

Der Zwang zur Passivität

UND noch etwas mußten wir erleben: Da werden Kinder im Vorschulalter in die Versammlungen mitgenommen, obgleich dort Themen durchgenommen werden, die manch Erwachsener noch nicht einmal versteht. Da hagelt es Ohrfeigen, weil das Kind nicht still sitzt. Da fließen die Tränen, weil es nicht mehr in der Lage ist, eine Frage zu beantworten, die es nach Meinung der Erwachsenen beantworten könnte. Noch manch ein Erwachsener erinnert sich der Torturen, die er als Kind. über sich ergehen lassen mußte. Und für manchen graben sich diese Erinnerungen so tief ein, daß er, volljährig geworden, sein Heil auf keinen Fall bei den Zeugen Jehovas sucht.

Was kümmert es die Organisation, daß Psychologen wissenschaftlich bewiesen haben, 4 bis 5jährige Kinder- können sich noch nicht länger als etwa 30 Minuten lang konzentrieren. Aber die Interessen der Gesellschaft stehen ja erhaben über solchen „banalen" Erkenntnissen.

Exemplarisch für die Problemlage ist auch das Kapitel „Dressierte Kinder" in dem Buch von Rolf Nobel „Falschspieler Gottes. Die Wahrheit über Jehovas Zeugen". Nobel als „Stern"-Reporter „Undercover" bei den Zeugen eingestiegen, sich formal auch von ihnen taufen lassend, bewahrte sich den Blick für die Realitäten. In seinem Fall wirkte die Kombination von. Position des Außenstehenden, der aber gleichzeitig Insiderwissen erwarb. Nobel notierte:

Zeugen-Kinder werden schon im Kinderwagen in die Versammlungen geschoben. Vom Babyalter an müssen sie die Marathonsitzungen ihrer Eltern mitmachen. Während der viertägigen Bezirkskongresse sitzen sie nicht selten acht Stunden auf den Bänken — von den Eltern zu ununterbrochenem Stillsitzen und Schweigen verdonnert. Werden sie unruhig, beschweren sich Glaubensbrüder, die sich in ihrem Studiereifer gestört fühlen. Damit die Kongresse nicht vom Kinderlärm gestört werden, sagt das »Organisationsbuch« den Ordnern, »die selbst Erfahrung darin haben, wie man mit Situationen fertig wird, die im Familienleben auftreten«: »Da sich das Benehmen der Kinder innerhalb und außerhalb des Königreichssaales günstig oder ungünstig auf die Versammlung auswirken kann, können die Ordner, wenn nötig, Eltern ermahnen, ihre Kinder richtig zu beaufsichtigen, damit sie nicht im Gelände herumlaufen, besonders wenn sich die Anwesenden nach der Zusammenkunft miteinander unterhalten.«

Natürlich funktioniert das nicht so reibungslos, wie sich die Wachtturm-Schreiber das vorstellen. Elke Kurz, ehemalige Zeugin und Mutter von drei Kindern: »Wenn mein Kind mal laut war, wurde ich umgehend hinausgeschickt. Andere Schwestern schlugen ihre Kinder dann, damit sie ruhig waren. Ich wollte meine Kinder aber nicht mit Gewalt dressieren. Als ich das deutlich sagte, vurde ich hinterher in der Versammlung schief angesehen.«

Das Lesen lernen die Kinder aus Wachtturm-Schriften. Sogar die Gute-Nacht-Geschichten werden aus Sektenbüchern vorgelesen. Märchen oder Abenteuerromane bleiben ihnen unbekannt. Während die Altersgenossen aus »Lederstrumpf«, »Die Schatzinsel« oder »Robinson Crusoe« vorgelesen bekommen, müssen sie den Bibelgeschichten von David und Goliath oder Daniel in der Löwengrube zuhören. Im »Familienstudium« trichtern die Eltern ihren Kindern erste Sektengrundsätze ein. Und sie achten genau darauf, daß der Umgang mit »Kindern aus der Welt« auf Schule und Kindergarten beschränkt bleibt. Als Begründung dient eine Bibelstelle aus den Korintherbriefen: »Schlechte Gesellschaft verdirbt nützliche Gewohnheiten.«

An Schulfesten, Sportveranstaltungen oder Freizeitgruppen dürfen sie nicht teilnehmen. Sie sind ausgeschlossen, wenn Ostereier bemalt, Weihnachtssterne gebastelt oder Karnevalsverkleidungen entworfen werden. »Ich kann mein Kind doch nicht an der Vorbereitung heidnischer Feste teilnehmen lassen«, erklärte mir eine Zeugin.

Zeugenkinder sind unter ihren Klassenkameraden bald als Sonderlinge verschrien, werden ständig verspottet und gehänselt. Ihnen bleibt nur die Hoffnung auf das »neue System«. Wer nicht pariert, kriegt Prügel, frei nach dem Bibelvers: »Wer sein Kind liebt, der sucht es sicherlich heim mit Züchtigung.«

In den Methoden, ihre Kinder auf »Linie« der Wachtturm-Gesellschaft zu bringen und zu halten, sind Zeugen-Eltern oft nicht gerade zimperlich. Helmut Kurz wurde schon als Junge von seinem Vater in die Versammlung geschleppt. Aber er wehrte sich dagegen, entwickelte heimlich ein Eigenleben abseits der Sekte, diskutierte mit Freunden »aus der Welt« und war sogar Mitglied der Schülermitverwaltung. Der Vater kam dahinter. Als er eines Tages von der Schule kam, wurde er von seinem Vater und einem Versammlungsaufseher empfangen. Auf dem Küchentisch standen Tonbandgerät, Mikrofon und eine Tischlampe. »Setz dich!« befahl man ihm. Die Schreibtischlampe strahlte direkt auf sein Gesicht. Dann wurde der 15jährige bei laufendem Tonband über seinen Flirt mit »den Verlockungen und Sünden der Welt« ausgefragt. Es war eine Szene wie in einem Krimi.

Um unverständigen Lehrern die Zwänge von Zeugen-Kindern plausibel zu machen, hat die Wachtturm-Gesellschaft die Broschüre »Jehovas Zeugen und die Schule« herausgebracht. Im Vierfarbendruck und mit den üblichen »biblischen Beweisen« erklärt die Zeugen-Postille, warum deren Nachwuchs keinen Klassensprecher wählen, geschweige denn selbst dafür kandidieren darf, beim Schulgebet mitbeten nicht erlaubt ist (nicht einmal beim Vaterunser), ihnen Schülerbälle und Partys vorenthalten werden, sie nicht an Sportgruppen außerhalb des Stundenplans teilnehmen sollen, das Mitwirken in einem Schulorchester nicht erlaubt wird, genausowenig wie das Mitspielen im Schultheater.

Rotes Tuch sind den Eltern der Zeugen besonders der Naturkundeunterricht und die Sexualerziehung. In beiden Fächern wittern Zeugen-Ideologen die Verderblichkeit »der Welt« und verlangen von den Lehrern, »daß die Lehrer die biblische Überzeugung jugendlicher Zeugen Jehovas respektieren«. Im Fach Naturkunde stört sie vor allem, daß die »Evolutionstheorie oft als wissenschaftliche Tatsache hingestellt wird«. Verständlich, lehren doch die Zeugen ihre Kinder, daß Adam der erste Mensch war und Eva aus einer Rippe gemacht wurde. Wer hat es da schon gern, wenn so ein Lehrer »aus der Welt« daherkommt und ihren Kindern beibringt, daß der Mensch vom Affen abstammt.

Das Fach Sexualkunde muß allein vom Namen her schon den Argwohn der verklemmten Zeugen-Gemeinde hervorrufen. Wurde auf Versammlungen, beim Buchstudium oder in Gesprächen mal über Sex gesprochen, dann nur über Zeugen-Visionen von ausschweifenden Sexorgien, sexuellen Perversionen oder Gruppensex. Das Wort Sex beflügelte ihre Phantasie, wofür die sekteninterne Behandlung des Themas verantwortlich ist, die den Zweck der Sexualität im »Jugendbuch« wie folgt erklärt: »Die Sexualität stammt von unserem Schöpfer. Sie ist dafür gedacht, daß ein Mann zeigen kann, wie sehr er eine Frau liebt und damit sie gemeinsam Kinder zeugen können. Gott legt aber Regeln in bezug auf die Sexualität fest, die besagen, daß ein Mann und eine Frau nur dann Geschlechtsbeziehungen haben dürfen, wenn sie miteinander verheiratet sind. Dies deshalb, weil Gott wollte, daß jedes Kind, das auf die Welt kommt, sowohl einen Vater als auch eine Mutter haben sollte, die die volle Verantwortung dafür übernehmen würden, es aufzuziehen. Aus diesem Grund ist es in Gottes Augen verkehrt, wenn Menschen, die nicht miteinander verheiratet sind, Geschlechlechtsbeziehungen haben. Für Verheiratete aber bieten die Geschlechtsbeziehungen eine wundervolle Möglichkeit, ihre Liebe zueinander zu zeigen. Dabei legt sich der Mann so eng an seine Frau, daß sich sein Geschlechtsorgan ganz natürlich in ihre Geburtswege einfügt.«

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. In den Aufklärungsmärchen der Wachtturm-Gesellschaft ist das männliche Glied natürlich »Geschlechtsorgan«, die weibliche Scheide »Geburtsweg«. Daß Zeugen-Jugendliche im »Jugendbuch« nicht erfahren, daß es Verhütungsmittel gibt, paßt ins Bild. Es könnte doch jemand darauf kommen, daß man damit einfach nur aus Lust machen kann, was Zeugen-Moralisten der Fortpflanzung vorbehalten.

Glücklicherweise werden solche Aufklärungsmärchen sogar in bayrischen Zwergschulen nur noch selten gelehrt. Zeugen-Eltern bringt das auf die Palme. Sie pochen gegenüber Schule und Lehrer auf ihr Recht, »daß ihre Kinder vom Sexualkundeunterricht befreit werden«, wenn darin nicht die moralischen Grundsätze der Bibel vermittelt werden.

»Sie sind kein Teil der Welt, so wie ich kein Teil der Welt bin.« Der Bibelvers aus »Johannes« ist die Begleitmusik für die völlige Absonderung, die den Kindern bis zu 13 Schuljahre lang auferlegt wird. Klassengemeinschaft oder Klassenkameraden lernen sie nie kennen. Alles, was sich außerhalb des regulären Unterrichts abspielt, ist ihnen ja verboten. Eltern und Aufseher verlangen, daß sie sich als Außenseiter profilieren. In einer wichtigen Entwicklungsphase der Jugend ist ihr Lebensweg mit Verboten und Pflichten gepflastert.

Die Wachtturm-Gesellschaft kann den jungen Zeugen Jehovas dafür keinen Ersatz bieten. Ein spezielles Programm für Jugendliche und Kinder gibt es nicht. Man macht sie schon in Kinderjahren zu Miniaturausgaben der erwachsenen Zeugen, zwangt sie andauernd in Anzug und Sonntagskleid und halst ihnen ähnliche Pflichten auf wie den Eltern. Die seelischen Schäden, die junge Zeugen dabei nehmen werden erst viel später deutlich. Nachweisbar wird das nur durch ehemalige Sektenmitglieder, die sich freimütig darüber äußern. Stramme Gläubige würden so etwas natürlich niemals zugeben, vielleicht merken sie es auch gar nicht.

Auch Schulbildung ist den Kindern von Zeugen nur in dosierter Form erlaubt. Mittlere Reife ist bereits verdächtig, Abitur schon fast eine Sünde. Und wer gar studiert, der steht bereits mit einem Bein im Schwefelfeuer Harmagedons. »Mit Schulbildung aus der Welt kann man ja doch nichts mehr anfangen. Schließlich kommt bald Harmagedon, und bis dahin sollte dein Kind lieber als Pionier oder Missionar der Sache Jehovas dienen!« werden Zeugen-Eltern mit Bildungsdrang von den Aufsehern zur Räson gebracht.

Die Zeit der Entbehrungen und Entsagungen ist auch im Jugendalter nicht vorbei. Während die Altersgenossen in Discos ziehen und den Plattenschrank voller Rockplatten haben, ziehen jugendliche Zeugen von Tür zu Tür und haben im Regal Musikkassetten mit »Königreichsliedern«.

Rockkultur ist den Sektenführern suspekt. Schon das Tragen einer Jeans wird als Auflehnung gegen die Autorität der theokratischen Führung gewertet. Noch schlimmer ist das Hören von Rockmusik. In dem Handzettel »Verbindungen der Rockmusik mit Satan« warnen die greisen Sektenführer vor Rockgruppen, die »wissentlich oder unwissentlich Botschaften des Satanskultes« in ihre Texte aufnehmen. Als Hinweis empfehlen sie, John Lennons Song »Revolution Nr. 9« einmal auf einem Tonband aufzuzeichnen und dann rückwärts abzuspielen. Dann, so die Wachtturm-Gesellschaft, verstehe man deutlich eine ängstliche Stimme, die schreit: »Laß mich hier raus, heb mich auf, toter Mann!« Ob das die Stimme Satans war oder nur ein Gag der Beatles, werde »man vielleicht nie erfahren«, heißt es. Und vielsagend: »John Lennon wurde ermordet.«

Nicht nur die Musik der Platten macht den Sektenführern Sorgen, »zwar nicht, was man bei normaler Abspielweise hört, sondern beim Rückwärtslauf«. Nein, sogar die Plattencover haben es in sich, oder besser: Sie haben ihn in sich. Wen? Satan natürlich. Die Cover von »Queen«, »Styx«, »AC/DC« enthalten — so Brooklyn — »mysteriöse Symbole, die christliche Kreuze mit traditionellen Satanssymbolen vermischen, wie Ziegenböcke mit Höllenzungen«. Und die Initialen von »ELO« bedeuten nicht etwa wirklich »Electric Light Orchestra«, sondern sind »eine alte Form des Namens Satan«.

Was soll die Verteufelung der Rockmusik durch die Führung der Wachtturm-Gesellschaft? Die Erklärung ist einfach: Viele Songs drücken Lebensstil und Haltung aus, die der Sektenführung nicht recht sein können. Freie Liebe und Sexualität etwa. Oder Auflehnung gegen staatliche Autoritäten. Die Zeugen-Lehre von der Keuschheit bis zur Ehe steht dazu genauso im Widerspruch wie die Order zur »Einhaltung von Cäsars Gesetzen«, das strikte Befolgen staatlicher Anordnungen.

Sogar die eigene Autorität sieht der »Göttliche Kanal« durch Rockmusik gefährdet. Im »Wachtturm« vom 15. April 1983 wird unter der Überschrift »Vermeide unabhängiges Denken« vor geistigen Alleingängen gewarnt, die sich dadurch bemerkbar machten, »daß der Rat, den Gottes Organisation gibt, in Frage gestellt wird«. Dabei wird an die Warnung erinnert, »sich gewisse unsittliche und zweideutige Musikstücke anzuhören und Diskotheken oder andere Arten weltlicher Tanzsäle aufzusuchen, wo solche Musik gespielt wird und Leute verkehren, die für einen unsittlichen Lebenswandel bekannt sind«.

Ratgeber für den sittlich-moralischen Reifeprozeß der Zeugen-Jugend ist ein 142 Seiten starkes, rotes Büchlein mit dem Titel: »Mache deine Jugend zu einem Erfolg«.

In 24 Kapiteln lassen die Moralapostel im Brooklyner Schreibbüro kein Thema aus, das für jugendliche Zeugen zum Stolperstein werden könnte: »Wenn man ein Mann wird«, »Wenn ein Mädchen erwachsen wird«, »Masturbation und Homosexualität«, »Sind alkoholische Getränke etwas für dich?«, »Sind Drogen der Schlüssel zum Glück?«, »Wie denkst du über Musik und Tanzen?«. »Lohnt sich eine gute Geschlechtsmoral? «.

»Man braucht wohl kaum zu erwähnen«, schreibt die Wachtturm-Gesellschaft in der Einleitung, erwähnt es dann aber doch, „daß das Leben viel komplizierter ist als ein Automotor oder ein Abendkleid.« Mit solcherlei Scharfsinn schreibt man auch über Selbstbefriedigung: »Die meisten Ärzte sind der Ansicht, gelegentliche Masturbation schade dem Körper nicht. Ebenso wie die meisten Psychotherapeuten sagen sie, zu einen Schaden komme es nur, wenn der Betreffende Schuldgefühle habe, die geistige und emotionale Störungen verursachten, welche wiederum körperliche Störungen hervorriefen. Ärzte und Psychotherapeuten sind allerdings unvollkommene Menschen, die Irrtümern unterworfen sind und deren Ansichten sich ändern. Es gibt aber einen Ratgeber, an den sich junge Menschen wenden können und der beständig und frei von Irrtümern oder Fehlurteilen ist – Gottes Wort."

Wie dessen Rat ausfällt, ist nicht schwer zu erraten: „Man möchte etwas haben, was einem nicht rechtmäßig zusteht. Gott hat die Ehe als die einzige Einrichtung für die Befriedigung des geschlechtlichen Verlangens vorgesehen. Aber jemand, der masturbiert, versucht in Wirklichkeit, diese Befriedigung zu finden, ohne den Preis dafür zu bezahlen."

Nach derartig mittelalterlicher Moral ist die Homosexualität „widernatürlich" und „verabscheuungswürdig", Rauchen „Missbrauch der Körpers" und „Befleckung des Fleisches", „Händchenhalten" eines Paares bereits unerlaubter Auslöser „erotischer Spannungen". Welche Musik man hört und wie man tanzt, entscheidet darüber, „ob du lediglich daran interessiert bist, dich zu amüsieren, oder daran, ewig in Gottes Gunst zu leben". Der Beischlaf mit einem jugendlichen Mädchen ist nach dem „Jugendbuch", „wie wenn man die Blütenblätter einer Rosenknospe vorzeitig mit Gewalt öffnen wollte".

Damit jugendliche Zeugen auch lernen, wie man sich vor den Gefahren sittenwidrigen Verhaltens schützen kann, verweist das Buch abschließend darauf, dass man sich auch auf „ehrbare Weise" vergnügen kann: „Beim Schlittschuhlaufen, Tennisspielen und bei ähnlichen Sportarten oder indem man in ein Restaurant essen geht, ein Museum besucht oder Sehenswürdigkeiten besichtigt. Man hat dann das Gefühl, allein zu sein, weil man sich nicht im Kreise von Bekannten aufhält, und doch genießt man einen gewissen Schutz, weil noch andere Menschen in der Nähe sind.«

Derart in Verbote gezwängt, ständig unter Beobachtung und heranwachsend mit einem unterdrückten Sexualtrieb, tragen die meisten jugendlichen Zeugen sexuelle Störungen davon. Lösen sie sich von der Wachtturm-Gesellschaft, haben die ersten Partner auszubaden, was Sittenwächter der Sekte angerichtet haben. Viele stolpern von einer Beziehungskrise in die nächste, für die in der »Wahrheit« Verbliebenen der Beweis für die »morbide Moral des weltlichen Systems«.

Helga Schnoor, 28, die unter der Sexualethik der Zeugen Jehovas aufwuchs: »Ich bedaure noch heute meine ersten Freunde, die sich mit meinem seelischen Müll herumschlagen mußten. Ich war von meinen Gefühlen völlig entfremdet, Lust empfand ich als Sünde, und nach dem Beischlaf hatte ich schwere Depressionen.«

Jehovas Zeugen und die Schule

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