Zur kommunistischen Kirchenpolitik

In seinem 1985 in achter, vollständig neu bearbeiteter Auflage erschienenem Buch "Der Marxismus. Lehre - Wirkung - Kritik" geht Walter Theimer abrißhaft auch auf obigem Aspekt mit ein. Meines Erachtens in bedenkenswerter Weise. Nachstehend ein diesbezüglicher Auszug:

«Die Sowjetregierung führt einen energischen Kampf gegen Trunksucht und Religion. » Das war der erste Übungssatz in einem 1930 in Moskau erschienenen Lehrbuch der russischen Sprache. Er ist eine Variante des berühmten Satzes von Marx: «Die Religion ist das Opiurn des Volkes." - Wir haben schon davon gesprochen, daß sich die marxistische Religionskritik darin erschöpft, die Religion als tröstende Illusion der unter ungünstigen Umständen lebenden Menschen erscheinen zu lassen. Auf das religiöse Bedürfnis des Menschen geht der Marxismus nicht ein, obwohl er von ihm bei der Verbreitung seiner eigenen Religion gern Gebrauch macht. Er behauptet vielmehr, daß ein solches Bedürfnis von Natur aus nicht bestehe, sondern das Produkt einer «Entfremdung» sei.

Im Marxismus sind drei Aspekte seiner Religionskritik zu unterscheiden Der erste, am meisten popularisierte ist identisch mit der Religionskritik der «bürgerlichen» Freidenker. Er wurzelt im naturwissenschaftlichen Materialismus und dem Widerspruch zwischen der Naturerkenntnis der Wissenschaft und den religiösen Mythen. Im Kreis der Junghegelianer, dem Marx entstammte, beschränkte sich die Religionskritik im wesentlichen auf diese Art der intellektuellen Analyse, vertreten besonders durch Bruno Bauer und Ludwig Feuerbach. Marx fand, daß eine rein intellektuelle Widerlegung der Religion nicht genüge. Er fügte zwei weitere Aspekte der Religionskritik hinzu: die Entlarvung der Religion als «ideologischer Überbau» der Klassenstruktur der Gesellschaft - eine Einstellung, die selbstredend die intellektuelle Entwertung der Religion schon voraussetzt - und die Betrachtung der Religion als «Entfremdung» des Menschen von seinem wahren Wesen. …

Marx stammte aus einer jüdischen Familie, die mehrere Rabbiner hervorgebracht hatte. Sein Vater war aus Opportunitätsgründen zum Protestantismus übergetreten. Marx wurde als Protestant erzogen, war aber nie religiös. Zur jüdischen Religion hatte er keine Beziehung; seine frühe Abhandlung "Zur Judenfrage" ist eine antisemitische Schmähschrift. Engels kam aus einer pietistischen Familie in Westfalen, also einem streng religiösen Milieu. Obwohl er sich bald daraus löste, wirkte in ihm die christliche Erziehung beim Aufbau der neuen Heilslehre wohl mit.

Die Religion als «Entfremdung»

Die Religion ist für Marx die Entfremdung Nr. 1. «Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik … Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen … Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.»

Das Wort «Opium» war in Marxens Frühzeit als Inbegriff eines Rauschgiftes in aller Munde. Eben hatte der Opiumkrieg stattgefunden, in welchem England den Chinesen den Kauf des indischen Opiums aufzwang. Der Arme flüchtet also nach Marx in das religiöse Rauschgift, um einen Trost für seine Entbehrungen und eine Hoffnung auf Wohlergehen in einer jenseitigen Welt zu finden. Der Reiche aber benützt die Religion zur Rechtfertigung seiner Herrschaft und der Ausbeutung des Armen. Hätte Marx seine Betrachtungen «Die soziologische Anwendung religiöser Lehren, oder was man mit der Religion alles machen kann» genannt, so wäre nicht zu bestreiten, daß die Religion zu diesen beiden Zwecken in der Tat häufig verwendet worden ist. Über das Wesen der Religion ist damit aber noch nichts ausgesagt, nur über ihren Gebrauch oder Mißbrauch. Marx geht jedoch von der petitio principii aus, daß die Religion an sich kein geistiges Wesen hat, sondern wie alle Ideen nur die Widerspiegelung bestimmter gesellschaftlicher Zustände ist. Darüber hinaus braucht man sich infolgedessen nicht mit ihr zu befassen, sie ist von vornherein relativiert und damit entwertet. Nun darf man nicht vergessen, daß zur Zeit von Marx der «christliche Staat» die Losung der Adeligen und Reichen war; hinter diesem Schlagwort verbarg sich in der politischen Praxis tatsächlich die Unterdrückung des Volkes und die Ausbeutung der Arbeiter. Die Kirche trat als der Anwalt der Reichen und Mächtigen auf. Da Marx vor allem ein politischer Mensch war, wurde dies eine Quelle seiner intensiven Religionsfeindschaft. Wie alle Gedanken von Marx stammt auch seine Religionskritik aus der Empörung über die sozialen Zustände unter dem Frühkapitalismus und die Einstellung der Kirche im Vormärz.

Ein Verschwinden der «religiösen Entfremdung» hielt Marx nicht auf Grund eines geistigen Prozesses für möglich, sondern nur durch Beseitigung ihrer realen Grundlage, der Klassengesellschaft Dann aber würde die Religion überflüssig werden. Der Mensch würde mit der äußeren existentiellen Spaltung auch die innere überwinden und wieder ein Ganzes werden, wie er es vielleicht in einer von Marx nicht spezifizierten Vorzeit war: «Die Religion ist das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.» Wenn der Arbeiter seine Entfremdung in der Arbeit aufhebt und zu seinem wahren Wesen findet, so hört alle Entfremdung in der Welt auf. Sie macht allgemeiner Harmonie und Ganzheit Platz. Der Mensch nimmt die aus der Entfremdung stammende Gottesvorstellung in sich zurück, wird selbst Gott. Die Lebensbedingungen des Arbeiters zwingen ihn dazu, diese Aufhebung der Entfremdung anzustreben. Daher die Rolle des Heilbringers, die ihm in der marxistischen Lehre zugeschrieben wird. Der Proletarier ist bei Marx «kein guter Mensch, kein Heiliger -, er steht nur da, wo das Heil sprießt».

Für eine soziologische Deutung und Kritik der Religion hätte eigentlich auch vom marxistischen Standpunkt der historische Materialismus genügt. Man fragt sich, warum Marx das Entfremdungs-Brimborium dazugemengt hat, das offenkundig reiner Idealismus ist. Man versteht, warum der praktische Marxismus die «Entfremdung» bei der Massenpropaganda ausgeklammert hat. Was sollte ein Arbeiter mit dem mystischen Entfremdungsbegriff anfangen? Auch spürten die praktischen Marxisten, daß die Entfremdungslehre nicht zu einem zugkräftigen «materialistischen» Sozialismus führen würde, sondern zu dem romantischen Utopismus, dem sie entsprungen ist. Jedoch der Mythos vom Menschen, der sich selbst verloren hat und wieder zu sich finden wird, ist der nur für Eingeweihte bestimmte Kern der marxistischen Geschichtsmetaphysik.

Die Heftigkeit der Religionsfeindschaft des Marxismus rührt nicht zuletzt davon her, daß er selbst eine Religion ist. Er duldet keine anderen Götter neben sich. Daß er gewisse allgemeine Züge mit den religiösen Mythen teilt, haben wir schon gesehen. Bei näherer Betrachtung erkennt man spezifische Berührungspunkte mit der christlichen Lehre. Wie diese ist der Marxismus eine Erlösungslehre, allerdings eine verweltlichte. Von der Erbsünde, in diesem Fall der «Entfremdung», wird die Menschheit durch einen fleischgewordenen Erlöser, hier das Proletariat, befreit, der durch seine Leiden den Heilsauftrag erfüllt, der von einer (hier nicht menschenähnlich gesehenen) höheren Macht ausgeht. Leben und Geschichte haben einen Heilssinn, es gibt ein Weltprinzip, das Heil und Rettung der Menschheit verheißt. Es ist der dialektische Materialismus, der an die Stelle der christlichen Offenbarung tritt. Wie die Kirche der mystische Leib Christi ist, so ist die kommunistische Partei, zumindest ihr Zentralkomitee, der mystische Leib des Doppelgottes Marx-Lenin. Sie erhebt Anspruch auf Unfehlbarkeit und eine Verehrung, die deutlich religiöse Züge trägt. Für den Kommunisten ist die Partei eine Kirche, eine Gemeinschaft der Heiligen, kein gewöhnlicher Verein von Menschen. Er steht zu ihr in einem mystischen Verhältnis der Unterwerfung; sie ist für ihn göttlich. Deshalb hassen die Kommunisten jeden, der ihre Partei verläßt, als Abtrünnigen, dem nie vergeben werden kann.

Calvez bemerkt, daß der Marxismus eine Sammlung von «toll gewordenen christlichen Wahrheiten» ist. Wie Hegel «christliche Wahrheiten in philosophische Wahrheiten umsetzte, hat Marx die Kirchenlehren auf den atheistischen Humanismus transponiert» und ihnen ein soziologisches Gewand gegeben. Durch die materialistische Verhüllung blickt immer wieder der idealistisch-religiöse Grundcharakter hindurch; die Erlangung des Seelenheils durch Überwindung der «Entfremdung» ist wichtiger als die Hebung der materiellen Lage des Menschen, die zwar die unabdingbare Voraussetzung dazu ist, aber doch letztlich im Dienste des Seelenheils steht. Der Marxismus bestreitet zwar das religiöse Bedürfnis des Menschen, ist aber selbst eine Bestätigung dafür. Letzten Endes liegt hier das Geheimnis seiner Wirkung. Der Vorwurf, die Religion sei das «Opium des Volkes», ist dem Marxismus übrigens zurückgegeben worden. Simone Weil und Raymond Aron haben ihn als das «Opium der Intellektuellen» bezeichnet.

Es ist bekannt, daß der Marxismus grundsätzlich der Kirche feindlich ist. Wo er regiert, muß er ihr aus taktischen Gründen allerdings vorderhand die Existenzberechtigung zugestehen, falls sie sich politisch gefügig erweist. In Moskau hat man nach der ersten Epoche der Kirchenstürmerei erkannt, daß die Kirche auch für die kommunistischen Machthaber nützlich sein kann, während die Kirche, die sich überraschend gut gehalten hat, in der politischen Unterwerfung einen Weg zum Überleben erkannt hat. Die Rolle der katholischen Kirche in Polen ist bekannt. Einige (vorwiegend protestantische) Theologen in verschiedenen Ländern, haben versucht, zwischen dem marxistischen Sozialismus und der christlichen Lehre eine Brücke zu schlagen. Es kann sich dabei nur um Fragen der Ethik handeln, ein sogenanntes praktisches Christentum In den religiösen Grundfragen jedoch ist eine Einigung zwischen Kirche und Atheismus offenkundig unmöglich.

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