Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Stromlinienförmig

Ich staune bloß immer wieder über die Diskussionsbeiträge gewisser Zeugen Jehovas. Wenn man sie liest dann könnte man bald den Eindruck gewinnen, dass zwischen den geschichtlichen Katastrophen, die die Zeugen Jehovas in diesem Jahrhundert, ohne Zweifel, als Katalysator auf sich gezogen haben - und der Gegenwart. Das dazwischen nicht nur ein paar Jahrzehnte liegen, sondern inzwischen Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende.

Jedenfalls lassen die stromlinienförmigen Diskutanten nicht erkennen, dass sie jene menschlichen Tragödien, die in diesem Jahrhundert auch mit dem Namen Zeugen Jehovas verbunden sind, je in ernsthafter Weise reflektiert haben. Mit einer Ausnahme natürlich, dass sie ein feines Gespür dafür haben, wie man jene Vorgänge in publicityträchtiger Art und Weise vermarkten kann.

Eines sollte man auch noch sagen. Es gab und gibt auch bei den Zeugen Jehovas „solche und jene". Wenn man im Vergleich dazu setzt, wie ihre heutigen Vertreter, insbesondere jene vom sogenannten „Informationsdienst der Zeugen Jehovas", alle Ecken und Kanten möglichst „wegerklären" möchten, dann kann man dazu nur sagen: Sie jedenfalls repräsentierten nicht das Gros jener Zeugen Jehovas in in den 40-er und 50-er Jahren, die mit der DDR in Konflikt gerieten. Die damaligen Handelnden, waren in hohem Maße ideologisierte Persönlichkeiten.

Für die damals Handelnden waren die Endzeitthesen nicht nur „Phrasen ohne Sinn", die man vor sich her betet. Sondern das waren Thesen, an die man wirklich glaubte. Hinzu kam noch, dass man es vielfach mit Personen zu tun hatte, die mit etlichen Ecken und Kanten behaftet waren. Exemplarisch lässt sich das am Fall Horst Kühn belegen, der seinerzeit in der DDR veröffentlicht wurde.

Kühn wurde 1949 Zeuge Jehovas. Davor war er im Zweiten Weltkrieg viermal schwer verwundet worden. Im Winter 1942/43 wurde er vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt, kam aber doch mit dem Leben davon und wurde einer Strafkompanie zugeteilt. Nachdem er nach 1945 bei den Zeugen Jehovas gelandet war, ließ er sich von letzteren soweit motivieren, sogar den sogenannten Pionierdienst für sie aufzunehmen. In der Praxis bedeutete dies, wie bekannt, neben der Sorge für den eigenen Lebensunterhalt noch mindestens 100 Stunden monatlich Propagandatätigkeit für die Zeugen auszuüben. Man kann es verstehen, dass angesichts dieser Überlastungen der Zeitpunkt nicht fern war, wo er sowohl physisch wie geistig zusammengebrochen war.

Dieser Mann mit seinen Ecken und Kanten entsprach so gar nicht den „stromlinenförmigen" der heutigen Zeugen-Funktionäre. Und da der „Mohr seine Schuldigkeit getan hatte" wurde er letztendlich aus der Zeugenorganisation ausgeschlossen. Da stand er nun da, allein auf weiter Flur. Und auch er musste das erkennen, was ein Ludwig Feuerbach vor langen Jahren mal als Erkenntnis formuliert hatte:

„Der Glaube hat ein böses Wesen in sich. Der christliche Glaube, sonst nichts, ist der oberste Grund der christlichen Ketzerverfolgungen und Ketzerhinrichtungen. Der Glaube anerkennt den Menschen nur unter der Bedingung, dass er Gott, d. h. den Glauben anerkennt." (Feuerbach, Ludwig „Gesammelt Werke" Band 5, Berlin 1967 S. 578).

Auch der psychisch angeknackste Kühn zerbrach an dieser Sachlage. Und so sah er denn keine andere Möglichkeit, als den „Gang nach Canossa" anzutreten und um Wiederaufnahme bei den Zeugen Jehovas zu ersuchen. Nach zweieinhalbjährigem Gemeinschaftsentzug wurde er im Frühjahr 1953 wieder von ihnen aufgenommen. Im Nachhinein kommentierte er: „Nie wieder würde ich so etwas wiederholen!"

Er hatte allen Grund zu einem solchen Urteil. Denn auch der DDR-Staat begann den Fall Kühn zu registrieren. Nicht, dass man seine desolate psychische Befindlichkeit „würdigen" wollte. Mitnichten. Man registrierte lediglich, dass man ihn als Aktivisten für die ZJ-Sache einschätzen müsste und man glaubte ihn aus letzterem Grund „aus dem Verkehr ziehen zu müssen". Und so schlug man auch in seinem Fall entsprechend rabiat zu. Im Herbst 1955 wurde er zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt.

Kühn kommentiert dazu: „In den Jahren nach 1955 seit meiner Verhaftung hatte sich auch in meinem persönlichen Leben so manches geändert. Meine Ehe, welche ich am 11. 12. 1943 geschlossen hatte, war zerrüttet in meiner Abwesenheit. … Meine Frau beantragte die Scheidung auf Grund der zehn Jahre Z(uchthaus); sie meinte, die Wartezeit sei zu lang. Die Brüder haben ihr das gesagt, dass sie dies als Grund angeben möchte. So wurde unsere Ehe am 11. 2. 1957 geschieden."

Im Jahre 1963 entschloss sich der SED-Staat erstmals, auch einige langjährig verurteilte Zeugen Jehovas zu amnestieren. Einige prominentere von ihnen durften in den Westen ausreisen; das namenlose Fußvolk verblieb im Osten. Zu letzteren gehörte auch Kühn. Seine Erfahrungen, nachdem 11. 12. 1963, dem Datum seiner Haftentlassung fasst er in die Worte:

„Es wurde nicht anerkannt, dass ich neun Jahre wegen der Machenschaften der WTG-Leitung inhaftiert war. Ich hatte meine Schuldigkeit getan und war abgeschrieben. Jedoch um meine persönlichen Dinge wie Ehe, darum kümmerten sie sich und waren besorgt, damit mein Leben zu ruinieren. Was aber eine finanzielle Hilfe anbetraf, da gehörte ich nicht zur Organisation. Es war aber auch so, dass auch andere keine finanzielle Hilfe von der Gesellschaft bekamen, höchstens von Brüdern aus der Gruppe. Außenstehende, die wir als Weltmenschen bezeichneten waren barmherzig und unterstützten mich, halfen mir auch weiter."

Der Fall Kühn kontrastiert durchaus auch in anderer Hinsicht. Es ist bekannt, dass in den Hitlerschen KZs schwere Zerwürfnisse unter den Bibelforscherinnen entstanden in der Frage, welche Arbeitsausführung als Kriegsunterstützung angesehen werden müsse und welche nicht. Die Rigoristinnen unter ihnen gingen so weit, selbst die weitere Beschäftigung als Pflegerinnen von Angorakaninchen zu verweigern, weil sie spekulierten: Die Wolle der Angorakaninchen könnte ja in Militärbekleidung Verwendung finden.

Viele dieser Rigoristinnen haben das KZ nicht überlebt. Überlebt haben indes jene, die diesbezüglich keine Skrupel hatten. Festmachen lässt sich das beispielsweise auch am Fall der Getrud Pötzinger, die nach 1945 noch von den Zeugen Jehovas als „leuchtendes Beispiel" herumgereicht wurde. Die Pötzinger hatte keine Skrupel, beispielsweise als Kindermächen und Haushaltshilfe im Haushalt eines SS-Schergen tätig zu sein. Sie hatte auch keine Skrupel, aus ihren Privatunterlagen nach 1945 auch noch ein Foto veröffentlichen zu lassen, dass zeigt, wie sie die Kinder dieser SS-Schergen auf dem Arm trägt. (Vgl. Füllberg-Stolberg, Claus (Hrsg.) „Frauen in Konzentrationslagern Bergen-Belsen, Ravensbrück", Bremen 1994 S. 331.)

Um nicht falsch verstanden zu werden. Ihre damalige Verhaltensweise, in der konkreten Situation, die ja nicht auf einer freien Willensentscheidung beruhte, sei nicht grundsätzlich kritisiert. Diese Kritik gilt eher den Rigoristinnen. Aber letzteres auch nur unter Vorbehalt. Den letztere haben vielfach teuer dafür bezahlt. In nicht wenigen Fällen auch mit ihrem Leben.

Aber etwas anderes will ich mit diesem Vergleich zwischen Kühn und Pötzinger sagen. Die Opportunisten von gestern werden von der Zeugenorganisation gedeckt, wenn sie nur brav bei der Stange bleiben. Die wirklichen Opfer hingegen, die den Fehler gemacht haben, die ZJ-Doktrinen zu ernst zu nehmen und aus diesem Grunde in vielerlei Konflikte hineingestürzt wurden, bekommen als „Dank" noch einen „Tritt in den Hintern" - eben, weil sie nicht stromlinienförmig genug, sich neuen Situationen anzupassen vermochten!
Horst Kuehn Wie mich die Wachtturmgesellschaft zugrunde richtete
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