Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Die wenigsten hiesigen Leser werden es kennen. Die Rede ist von dem Buche "Gefängnis ohne Mauern" von "Renate Sprung". Die Bibliographien der Deutschen Bibliothek vermerkten seinerzeit, es handele sich dabei um ein Pseudonym für: Rosemarie Richter. Wie auch immer. Die erste Auflage erschien 1977 im Schwabenverlag Ostfildern, dem 1980 noch eine zweite folgte. Schon etliche Jahre ist dies Buch vergriffen und über den Buchhandel nicht mehr lieferbar. Jenes Buch hatte mich seinerzeit durchaus beeindruckt, als ich es im Bestand der Deutschen Bücherei Leipzig, zum ersten mal las. Im Prinzip ein zweiten "Josy Doyon-Buch". Nur eben mit einer völlig anderen Biographie. Antiquarisch war es nicht auftreibbar. Und so habe ich mir denn kürzlich (für sündhaft teures Geld) via Infoball einen Nachdruck anfertigen lassen. Mir scheint es angebracht, auch an dieser Stelle einige wesentliche Aussagen daraus zu dokumentieren.

Offenbar ist "Renate Sprung" dergestalt einzuschätzen, dass sie noch vor dem Mauerbau Ostdeutschland zusammen mit ihrem Ehemann verlassen musste. In Westdeutschland hingegen wurden sie nicht als politische Flüchtlinge anerkannt und hatten einen diesbezüglich wirtschaftlich schweren Start. In dieser Phase erfolgte die Ansprache durch die Zeugen und perspektivisch auch die Taufe. Zeitlich ist der Bericht offenbar primär den 1950-er Jahren zuzuordnen, obwohl dies expressis verbis so nicht gesagt wird. Aber beispielsweise auf S. 54 kommt Renate Sprung auf die seinerzeitige Neuauflage des WTG-Buches "Gott bleibt wahrhaftig" zu sprechen und die erschien 1958. Aber lassen wir Frau Sprung diesbezüglich einmal selbst reden:

Die ersten Zweifel an ihrer angeblich auf der Bibel basierenden Wahrheit kamen uns schon bald nach unserer Taufe. Doch haben wir sie unterdrückt, weil wir sie nicht wahrhaben wollten. Man hatte uns darüber belehrt, daß Satan nichts unversucht lassen würde (ebenso wie bei Jesus), die ordinierten Diener Jehovas durch Versuchungen mannigfacher Art in ihrer Loyalität gegenüber Jehova und seiner theokratischen Organisation zu erschüttern. Diese Tatsache machte uns für einige Zeit blind und unempfänglich für jede andere Botschaft.

Dazu fiel ins Gewicht, daß bei den Zeugen wie bei fast allen Sekten - im Gegensatz zu den großen Kirchen - ein reges Gemeindeleben geführt wird. Ferner, daß alle, nach außen hin, wie eine Mauer zusammenstehen. Es gibt wenige passive, dafür um so mehr aktive Mitglieder, die Zeit und Geld für die Verbreitung der Wachtturmlehren einsetzen.

Eines Tages stand ein Zeuge Jehovas vor unserer Wohnungstür. Wir waren Flüchtlinge, waren die "Armen des Dorfes". Wir besaßen nichts als das, was wir auf dem Leibe trugen, ein paar - von mitleidigen Seelen gestiftete - ausrangierte und einen alten, für den Müllplatz bestimmten Küchenherd.

Mein Mann, ein ehemals leitender Angestellter in der Wirtschaft, suchte sich Arbeit in einem Sägewerk als Hilfsarbeiter, wo man uns zwei zum Werk gehörende schmale Dachkammern zur Verfügung stellte.

Nach knapp zwei Jahren persönlichen Studiums ließen wir uns auf einer der vierteljährlichen stattfindenden Kreisversammlungen taufen.

Der Predigtdienst der Zeugen Jehovas ist eine rein organisatorische Angelegenheit. Jehovas Zeugen mögen sich an dem Begriff "zwangsmäßig" stoßen; deshalb möchten wir betonen, daß es sich um einen indirekten, einen geistigen Zwang handelt, der vielen nicht einmal zum Bewußtsein kommt.

Der Buchstudiumsleiter, der das Pech hat, zu seinem Studium mehrere alte, Kranke und schwache Verkündiger zu zählen, muß es sich bei den Kontrollen gefallen lassen, für den mangelhaften Predigtdienst der ihm unterstellten zur Verantwortung gezogen zu werden. Dabei gehen die führenden Brüder keineswegs zimperlich vor, so daß die Abgekanzelten oft den Tränen nahe waren und unter ihrer Unfähigkeit die Brüder und Schwestern in rechter Weise zum Predigtdienst anzuspornen, litten und befürchteten, aus der Gnade Jehovas zu fallen.

Der Wichtigkeit des Wachtturmstudiums maßen wir anfangs keine große Bedeutung bei, weil dieses kindische Frage- und Antwortspiel weder eigenes Nachdenken noch logisches Denken erforderte, ja nicht einmal eigenes Formulieren des Satzes; nur die vorgedruckten Antworten wurden anerkannt.

Anfangs wollte uns dies nicht recht einleuchten; aber nach ein paar Jahren begriffen wir es. Das regelmäßige intensive Wachtturmstudium bläst allen Zeugen den letzten Rest eigenen Denkens aus dem Gehirn. Nach ein paar Jahren intensiven Studiums ist kein Zeuge mehr zu eigenem Denken fähig. Er sieht alles nur noch durch die Wachtturmbrille.

Wenn diese nun, vertreten durch die Wachtturm-Gesellschaft proklamieren, daß es ein besonderes Vorrecht sei, so viel Dienst wie möglich zu verrichten - wobei unter Dienst immer nur der Predigtdienst zu verstehen ist! den praktischen Dienst am leidenden Mitmenschen überläßt man großzügig dem Staat; wozu bezahlt man schließlich seine Steuern - so bedeutet dies in der Praxis ein eisernes Muß, um das sich kein Zeuge herumdrücken kann. Auch nicht eine Mutter mit sechs kleinen Kindern. Sobald sie den Predigtdienst einstellt, droht ihr die Exkommunizierung. Und da man den Zeugen fortwährend mit der Bitte in den Ohren liegt, allen Verkehr mit Weltmenschen in Gestalt von Nachbarn, Familienangehörigen und früheren Freunden abzubrechen und nur noch Freundschaft mit Menschen, die sich "in der Wahrheit befinden" zu pflegen, bedeutet ein Gemeinschaftsentzug die völlige Isolierung des Betreffenden.

Was die Gebietskarten anbelangt, die jedem Zeugen vor Beginn seines wöchentlichen Predigtdienstes ausgehändigt werden, so decken diese mit größter Genauigkeit das ganze Land ab. Es gibt keine Straße, kein Haus, keine Wohnung, kein noch so einsam gelegenes Bauerngehöft, das darin nicht verzeichnet wäre.

Das Bild von der glücklichen Familie stimmte nur auf den ersten Blick. Es ist auf Besucher und Interessierte zugeschnitten; Dauerlächeln, freundliche Anteilnahme, die den Eindruck vermitteln, daß man auf den Besuch seit langem gewartet habe und bereit sei, ihn mit Freuden aufzunehmen. Ist dieser Besucher jedoch zufällig ein Körperbehinderter oder ein Mensch, mit dem man aufgrund seines Äußeren später vor den Haustüren wenig Eindruck schinden kann, fällt der Empfang weit weniger herzlich aus. Dies haben wir des öfteren erlebt, sogar daß Dauerkranke, die ihre Dienstquote nicht erfüllen konnten, in den auf den Kreisversammlungen (viermal jährlich) stattfindenden Demonstrationen von Geschwistern lächerlich gemacht wurden.

Eine ältere Schwester erlitt darauf einen Herzanfall und mußte ins Krankenhaus eingeliefert werden. Man hatte sie unverkennbar als Simulantin hingestellt, die nur zu faul war, in den Felddienst zu gehen, und ihren Mann als Waschlappen, der es nicht fertigbrächte, seine Frau regelmäßig zum Predigtdienst anzuspornen. Das ältere Ehepaar hatte einen geistig zurückgebliebenen Sohn, der ebenfalls nicht ungeschoren davon kam.

Insofern geht es in der Neue-Welt-Gesellschaft ebenso menschlich zu wie in allen anderen Kirchen, Parteien und Organisationen, was das Verhältnis der Gemeindeglieder untereinander betrifft.

Und man scheut sich auch nicht, trotz heftigen Protests vor weltliche Gerichte zu ziehen. Da gibt es unter dem Deckmantel oberflächlicher Freundlichkeit verborgen, grollende Feindschaft.

Außerdem war da noch der fortwährende Hinweis, daß die Beauftragten der Wachtturm-Gesellschaft, die sogenannten hauptamtlich dienenden Brüder, vom Kleinsten bis hinauf zum Präsidenten nur monatlich ein bescheidenes Taschengeld erhielten, dessen Höhe von niemand zu erfahren war. Einige Brüder sprachen von 50 Mark. Gerade diese Tatsache wurde ständig lobend gegen die Gehaltsempfänger der Pfarrer und Pastoren hervorgehoben.

Dazu standen die teuren Maßanzüge, die Ledertaschen und eigenen Wagen der Brüder, die unmöglich von einem Taschengeld bestritten werden können, im krassen Gegensatz.

Das Spitzelwesen ist unter den Zeugen weit verbreitet. Wir haben es selbst am eigenen Leib zu spüren bekommen. Jedes Abweichen von der Wachtturmlinie wird postwendend dem Versammlungsdiener hinterbracht. Tragisch ist nur, daß die einzelnen Zeugen sich der Niederträchtigkeit ihres Tuns nicht bewußt sind, sondern in dem guten Glauben denunzieren, ein Gott wohlgefälliges Werk zu tun und ihre Mitgeschwister dadurch von dem geistigen Tode zu erretten.

Und da war noch etwas, das zu denken gab. Ein Bruder aus der Versammlung, der seine Einberufung bekommen hatte und anschließend zum Ersatzdienst in einem Krankenhaus verrpflichtet worden war, hatte diesen mit Zustimmung aller dienenden Brüder der Heimatversammlung angetreten. Während seiner Dienstzeit war von der Wachtturmleitung in Brooklyn die Order gekommen, auch den Ersatzdienst zu verweigern und statt dessen gegebenenfalls ins Gefängnis zu gehen.

Man brauchte wieder einmal - wie schon so oft in den Jahrzehnten vorher - Märtyrer, um die breite Öffentlichkeit auf sich aufmerksam zu machen und sowohl die weltliche als auch die kirchliche Presse hatten nichts Eiligeres zu tun, als der Gesellschaft den Gefallen zu erweisen und des langen und breiten über die Verhaftungen der Zeugen zu berichten.

Als der betreffende Bruder nach Ableistung seiner Ersatzdienstpflicht in einem Krankenhaus zurückkehrte, wo ihm der Chefarzt erlaubt hatte, in seiner Freizeit zu predigen, soviel er wolle, wo er außerdem eine Menge Dienststunden und Literaturabsatz berichten konnte, wurde er von der gesamten Versammlung geschnitten, das er sich gegen Jehovas ausdrücklichen Befehl ganz offensichtlich vergangen hatte. Dabei spielte es keine Rolle, daß dieser seinerzeit noch gar nicht existierte.

Mit den vielzitierten liebevollen Vorkehrungen Jehovas auf den großen Kongressen hatte es auch eine eigene Bewandtnis. Man war nicht ehrlich. Als die Brüder und Schwestern aus München zurückkehrten und berichteten, daß es auf dem Kongreßgelände Herzschlag und Hitzetote gegeben habe, auch sich eine Gruppe jüngerer Brüder mit einer Jugendgruppe kirchlicher Herkunft geprügelt habe, wurden die Redseligen hart angefahren. Ob sie denn ganz und gar von Gott verlassen seien, darüber dürfe kein Wort an die Außenwelt dringen. Es sei verboten, mit den zurückgebliebenen Geschwistern darüber zu sprechen. Der Schein von Jehovas unwandelbarer Gunst auf den Häuptern von Jehovas Zeugen, des neuzeitlichen Israels, mußte unter allen Umständen gewahrt werden.

Auf einer großen Versammlung in Frankfurt/Main war eine Zeugin aus der DDR angereist, die unter abenteuerlichen Umständen durch die Grenze geschlupft war und die nun die Kongreßleitung um das Geld zur Rückfahrt bat. es wurde ihr verweigert; dafür habe die Gesellschaft kein Geld. Man gab ihre Notlage den Teilnehmern bekannt, die sofort sammelten, so daß die Frau nicht nur das Geld zur Rückfahrt hatte, sondern darüber hinaus noch für ein paar ordentliche Schuhe und einen Mantel.

Da war weiter jene Kreisversammlung, in der der Bezirksdiener mit theatralischer Geste und der Stimme eines zürnenden Gottes ausrief: "Und da gibt es doch tatsächlich Brüder, die die Anordnungen der Gesellschaft, des Kanals Gottes, des treuen und verständigen Sklaven in Frage stellen und die Richtigkeit ihrer Beschlüsse anzweifeln und die sich nicht einmal scheuen, mit ihren Mitbrüdern darüber zu sprechen." Viel hundertfaches empörtes Kopfschütteln und abfälliges Gemurmel. Es handelte sich um den Ausschluß von Geschwistern, die sich nicht bedingungslos der Gesellschaftsdoktrin beugen wollten. In der Pause sagte ein dienender Bruder empört: "Wenn es die Gesetze des Landes nicht verbieten würden, würden wir sie nach der Methode des Alten Testaments steinigen. So aber bleibt uns nichts anderes übrig, als die Widerspenstigen auszuschließen und sie dem Satan zur ewigen Vernichtung in Harmagedon zu übergeben, wie Paulus es an die Korinther geschrieben hat: Tut den Bösen aus eurer Mitte hinaus."

Alle unsere Brüder und Schwestern zitterten in heilloser Angst vor dem Richterspruch der Gesellschaft, duckten sich schweigend und schluckten alles, was ihnen an ihr widerstrebte, wortlos herunter aus Furcht, des ewigen Lebens verlustig zu gehen.

Den Frauen in der Versammlung blieb nichts übrig, als zu resignieren. Die meisten taten dies auch mit Freuden. In der Versammlung hatten wir Frauen nichts zu sagen und uns in allem den Brüdern unterzuordnen, denen zu widersprechen Gotteslästerung war. Aber von Haus zu Haus predigen, das durften wir, das mußten wir und trotz unserer schwächeren gesundheitlichen Konstitution, trotz Schwangerschaft, Kleinkinder, Haushalt und Berufstätigkeit mußten wir unsere Norm an Predigtdienststunden und Literaturverkauf genauso wie die Männer erfüllen.

Obwohl sich die Wachtturmangestellten weder Pfarrer noch Prediger noch Pastor, sondern schlicht nach der Bibel Diener nannten, herrschen sie unumschränkter als Diktatoren. Wer sich ihren Anordnungen auch nur im Geringsten widersetzte, gehört zur Rotte Korah und wurde vom Leben abgeschnitten. Er wurde und wird in Jehovas Namen für tot erklärt; niemand darf ihn grüßen, niemand mit ihm sprechen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, sich an der Schuld und dem Vergehen des Übeltäters mitschuldig zu machen.

So fielen uns beim Studium der Neuauflage "Gott bleibt wahrhaftig" einige Änderungen auf, die mit dem Sinn der Aussage früherer Bücher nicht übereinstimmten. In der Ausgabe, in der wir noch vor wenigen Jahren unterrichtet wurden, hieß es: "So unglaublich es klingen mag, werden doch viele von diesen anderen Schafen niemals sterben." Die Neuauflage gibt diesen Satz folgendermaßen wieder: "So unglaublich es klingen mag, kann es doch sein, daß viele dieser anderen Schafe niemals sterben."

Da es bei der Neue-Welt-Gesellschaft keinen Austritt gibt, sondern nur Taufe und Rausschmiß, wußten wir nun, woran wir waren. Während der Jahre unserer Predigttätigkeit als Zeugen Jehovas haben wir mehrere Gemeinschaftsentzüge miterlebt. Die Folgen sind für einen Außenstehenden unvorstellbar. Selbst in den Kirchen herrscht darüber weitgehend Unkenntnis. Kein Bruder, keine Schwester dürfen seinen Gruß erwidern, niemand auch nur ein einziges Wort mit ihm wechseln. Selbst wenn es sich um ein Familienmitglied handelt, darf keiner seiner Angehörigen mit ihm über Gott sprechen noch mit ihm beten. Das ist ein schlauer Schachzug der Gesellschaft, mit dem sie verhindern will, daß die ihr biblisches Lügengespinst durchschauenden Brüder ihr Wissen an die übrigen Zeugen herantragen. Da die Zeugen beständig dazu angehalten werden, ihre weltlichen Freundschaften nach der Taufe aufzugeben und sich ihre Freunde nur innerhalb der Neue-Welt-Gesellschaft zu suchen, stehen sie, nachdem sie dem Drängen der Gesellschaft nachgegeben und sich auch von ihren "ungläubigen" Verwandten getrennt haben, Mutterseelenallein auf der Welt. Mit ihrer Kirche haben sie offiziell gebrochen, da sie nach der Wachtturmlehre ihre früheren Pfarrer oft mehr als unverschämt angepöbelt haben. … Man hat von ihnen gefordert, in jeder freien Minute zu predigen, denn 12 mal 5 Minuten ergeben auch eine Predigtstunde, so daß sich schon nach kurzer Zeit Nachbarn, Freunde, Bekannte und Verwandte von ihnen zurückziehen; denn selbst die beste Freundschaft ist überfordert, wenn sie bei jedem Gespräch mit einer im stereotypen Tonfall vorgetragenen, auswendig gelernten Predigt traktiert wird.

Die aus der Gemeinschaft Ausgeschlossenen dürfen weiterhin - wie auch die Weltmenschen - die öffentlichen Vorträge besuchen, aber weder an den übrigen inoffiziellen Veranstaltungen noch am gemeinsamen Gebet teilnehmen. Sie werden wie Luft behandelt. Niemand sieht ihnen ins Gesicht, niemand spricht mit ihnen, niemand will neben ihnen sitzen, alle rücken von ihnen ab. Wenn die Ärmsten diese erniedrigendere Tortur ein bis zwei Jahre oder länger - je nachdem wie es dem Komitee gefällt, sie zu quälen - demütig ertragen haben, außerdem beim Ausschluß - gleichgültig ob gerecht oder ungerecht - zur Last gelegten Vergehen reumütig eingestanden und Besserung gelobt haben, außerdem dem "treuen und verständigen Sklaven" (Wachtturmführung) fortan Gehorsam geloben, können sie auf Beschluß des Komitees wieder in die Gemeinschaft aufgenommen werden.

Nach der öffentlich in der Versammlung verkündeten Wiederaufnahme werden sie wieder wie Brüder und Schwestern behandelt. Äußerlich jedenfalls. Man nennt sie wieder Bruder und Schwester und in der persönlichen Anrede Du. Doch ein Makel bleibt immer zurück. Niemand sucht mehr ihre Freundschaft, und man traut ihnen nicht mehr. Selbst wenn sie ihren Wohnsitz wechseln, ja selbst in ein anderes Land ziehen, reist nicht nur ihre Verkündigerkarte mit dem Verzeichnis ihrer Predigtstunden und der Stückzahl der verkauften Literatur, sondern auch ihre wenig rühmliche Vergangenheit ihnen in die neue Heimatversammlung nach. Das Nachrichtenwesen der Zeugen Jehovas funktioniert so perfekt, daß selbst ein gewiefter Geheimdienst vor Neid erblassen müßte, wenn er sich einmal damit befassen würde.

Es lag uns vor allem daran, die Geschwister über unseren Weggang nicht im unklaren zu lassen … Wenn man sie an den Türen nach uns befragte, scheuten sie nicht einmal davor zurück zu behaupten, wir seien eingefleischte Kommunisten; dies hätten sie sogar dem Pfarrer erzählt. Was hätten sie auch tun sollen? Ihre Predigt mußten sie ja halten und irgendwie versuchen, die fragenden abzulenken, damit ihnen die knapp bemessene, kostbare Freizeit nicht durch weltliches Gerede gestohlen wurde. Wir haben das verstanden, obwohl uns gerade deshalb viele Leute in der Kirche lange Zeit - manche über Jahre hinweg - mit Misstrauen beobachtet haben. Das Tragischkomische an der Kommunistengeschichte war nur, daß wir dem Kommunismus freiwillig den Rücken gekehrt hatten, um einer Verhaftung zu entgehen, und jahrelang ein elendes Flüchtlingsschicksal ohne jede staatliche Unterstützung ertragen mußten. Wir hatten keinen C-Schein bekommen, und die betreffenden Beamten wollten einfach nicht glauben, daß mein Mann, obwohl er ihnen die Zeitungsausschnitte vorlegte, die das bewiesen, als Feind der Regierung bezeichnet worden war, weil er öffentlich erklärt hatte, er habe zu ihr kein Vertrauen mehr. Ihr Kommentar: "Da müßten Sie längst verhaftet worden sein."

Wir gingen nun daran, zwei Briefe auszuarbeiten, einen an die Versammlung selbst, den anderen an das Komitee der Neue-Welt-Gesellschaft der Heimatversammlung, in denen wir die Gründe unsres Weggangs von der Organisation Punkt für Punkt darlegten.... Schickten wir die Briefe ab mit der Bitte, daß das Komitee das an die Versammlung gerichtete, zehn Schreibmaschinenseiten umfassende Schreiben dieser vorlesen oder zur Einsichtnahme vorlegen möge.

Wie vorauszusehen war, hat sie dies nicht getan. Lediglich der eine Satz, daß die Wachtturm-Gesellschaft die totalitärste aller Diktaturen sei (schlimmer als der Kommunismus, wurde hinzugefügt), wurde aus dem Zusammenhang gerissen, verlesen.

Von der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes haben wir in der Gesellschaft nichts gespürt. Es waren gehetzte, gejagte, in ständiger Furcht vor Harmagedon zitternde oder im Hinblick auf ihre voraussichtliche Errettung überheblich gewordene Menschen.

Und eine ältere Schwester sagte mir nach einem Besuch des Kreisdieners, den sie in ihrem Haus unentgeltlich verpflegt und bewirtet hatte, ganz aufgebracht: "Weißt du, Schwester, ich habe mir alle Mühe gegeben, und es hat ihm auch geschmeckt. Aber als wir bei Tische saßen, da fragte er vorwurfsvoll, warum denn meine Tochter und meine Schwiegertochter keinen Pionierdienst leisteten. Ihre Männer würden doch den Lebensunterhalt verdienen, und ich könnte außer meinem die beiden anderen Haushalte und die zwei Kleinkinder mitversorgen. Was die Brüder von uns Schwestern verlangen, ist manchmal wirklich unverschämt. Ich habe meinen Mann im Krieg verloren, meine zwei Kinder allein aufgezogen, immer meine Dienstquote erfüllt und mein in den Kampfhandlungen zerstörtes Haus wieder aufgebaut. Jetzt möchte ich es gern etwas ruhiger haben. Aber man darf ihnen ja nicht widersprechen; sie haben ja immer recht. Und lügen soll man ja auch nicht; aber es bleibt einem oft nichts anderes übrig, als sich irgendeine Krankheit anzuschwindeln, damit man endlich Ruhe vor ihrem Drängen hat. Denn daß bei einer alten Frau, die sich ihr Leben lang hat redlich schinden müssen, die Kräfte nachlassen, wollen sie nicht gelten lassen. Es ist doch eigenartig, daß wir nur lauter junge Kreisdiener haben, junge und gesunde. Ich glaube, die Alten und Kranken servieren sie einfach ab.

Wenn es sich bei den Lehren der Wachtturm-Gesellschaft um eine der üblichen Waschmittelreklamen handeln würde, könnte man achselzuckend feststellen, daß man wieder einmal hereingefallen ist, und könnte zur Tagesordnung übergehen. Aber das Geschäft mit der Angst vor dem Tod, mit Gottes Endgericht, das Geschäft mit Gott: "Hier ist die Anzahl meiner Felddienststunden und meiner Heimbibelstudien und meiner verkauften Literatur, auf Grund dessen du mir das ewige Leben schuldest" ist ein makabres Spiel mit dem Glauben und der Unwissenheit der Menschen. Die Gehirnwäsche ist komplett, exakter als die im Kommunismus übliche.

Wenn die Zeugen dabei wenigstens glücklich würden, brauchte man über die ganze Angelegenheit nicht so viele Worte verlieren. Aber sie werden es nicht. Sie sind Gehetzte, Gejagte, Betrogene und Verführte Menschen, deren Verkaufslächeln hinter der eigenen Glastür der Erschöpfung weicht, deren ständige Überforderung an gänzlich ungeeigneter Stelle zum Ausbruch kommt, wovon die vielen zerrütteten Familienverhältnisse der Zeugen ein beredtes Beispiel geben. Natürlich würden sie dies Außenstehenden niemals zugeben, denn man hat ihnen bei ihrer eigenen Seligkeit eingebleut, daß auf die theokratische Organisation Jehovas auch nicht der Hauch eines Schattens fallen darf. So spielen sie weiter nach außen hin für die Weltmenschen mit teils lächelnden, teils verkrampften Gesichtern glückliche Familie innerhalb der Neue-Welt-Gesellschaft.

Die Vollzeitpioniere erhalten ein weit unter dem Fürsorgesatz liegendes Entgelt, und auch dies nur, wenn sie die ihnen monatlich vorgeschriebenen 200 Predigtstunden [Einfügung: in den 50-er Jahren] erfüllen. Urlaub muß entweder vor- oder nachgearbeitet werden. Eine Pionierin sagte: "Wenn uns die einzelnen Geschwister nicht laufend unterstützten, könnten wir gar nicht leben." Wenn die hauptamtlichen Brüder und Schwestern aus Alters- oder Krankheitsgründen ihre Quote nicht mehr schaffen, läßt die Gesellschaft sie rücksichtslos fallen, so daß sie die öffentliche Fürsorge in Anspruch nehmen müssen. Dies mag die Erklärung dafür sein, daß so viele alt und schwach und krank gewordene Zeugen Selbstmord verüben. Ihr ganzes Leben haben sie dem Dienst für Jehova geopfert, und nun hat er sie am Ende ihrer Tage aus seiner Gnade fallen lassen, indem seine Organisation ihnen auch die geringste Unterstützung entzog.

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