Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Deutschland-Berichte der Sopade

Kürzlich ist auf dem amerikanischen Buchmarkt auch eine Übersetzung des Buches von Graffard/Tristan aufgetaucht, nachdem es davor schon eine französische und auch eine deutsche Ausgabe gab. Kritisch wurde zu diesem Buch meinerseits einmal angemerkt:

"Für mich stellen sich die Zeugen Jehovas als zweifache Opfer dar. Einmal (und dieser Aspekt ist bei Graffard reichlich dargestellt), als Opfer des politischen Systems des Nazismus. Die zweite Opferrolle der Zeugen Jehovas (und die ist bei Graffard und anderen überhaupt nicht reflektiert) ist, dass sie zugleich Opfer eines religiösen Diktators waren. Er konnte seine Diktatur nur zuletzt deshalb aufrichten, weil er auf der religiösen Endzeitklaviatur souverän spielte. So wie dem Klang des Rattenfängers von Hameln viele Unschuldige folgten, so sehe ich Rutherford in der gleichen Rolle. Dies wäre die Grundsatzerkenntnis. Ohne Zweifel sind Graffard/Tristan Außenstehende. Ihre Sicht als Außenstehende hat den zweiten, vorbeschriebenen Aspekt nicht reflektiert. Dieses registriere ich als Manko und benenne es auch so."

Da bietet es sich an, auch einmal zeitgenössische Texte zur Kenntnis zu nehmen, die über die Bibelforscher vorliegen.

Von 1934 bis 1940 wurden von der sich im Exil befindlichen Leitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, auch sogenannte "Deutschland-Berichte" herausgegeben. Sie liegen seit einigen Jahren auch in einer Reprint-Ausgabe vor. "Quer beet" wurde darin berichtet, was es über Hitlerdeutschland an wenig erfreulichem zu registrieren gab. In den Berichten der Jahre 1935 - 1937 kamen auch, mehr beiläufig, die Bibelforscher (Zeugen Jehovas) mit zur Sprache. Auffällig ist aber besonders, dass der Aspekt "Wehrdienstverweigerung", in keiner Weise bis ins Bewusstsein dieser Berichteschreiber vorgedrungen ist. Hitlerdeutschland war ein Terrorstaat. Nebst anderen waren auch die Bibelforscher seine Opfer. Dieser Terroraspekt ist es nur mehr oder weniger, der in den einschlägigen Detailberichten mit Erwähnung fand:

Nachstehend einige Zitate

Im Juli 1935 wurde notiert:

Verursacher von Betriebsstreitigkeiten

"Natürlich ist es ein durchsichtiger Versuch, die vorhandene Bewegung in der Arbeiterschaft zu bagatellisieren, wenn der Treuhänder für Sachsen Stiehler im "Informationsdienst der Arbeitsfront schreibt, daß Betriebsstreitigkeiten und Störung des Arbeitsfriedens in der großen Mehrheit verursacht werden durch: konfessionelle Fanatiker, Sektierer, Ernste Bibelforscher, Vereinsmeier, besserwissende Eigenbrötler, unbelehrbare Sozialreformer, und vom Standesdünkel Besessene."

Im November 1935 liest man:

Hoffnung auf Vernichtung der Hitler-Herrlichkeit

"Es ist festzustellen, daß man in den verschiedenen Gesellschaftsschichten allgemein zu gleichartigen Erwartungen kommt. Der enttäuschte Mittelständler, der betrogene Kleinlandwirt, der unzufriedene Beamte, der geprellte Nationalsozialist und SA-Mann, der ausgebeutete Arbeiter, besonders aber natürlich der verfolgte und unterdrückte Marxist, ferner die Anhänger anderer vernichteter und entwurzelter Verbände und Kreise (Stahlhelm, Katholiken, Protestanten, Bibelforscher, Juden usw.), sie alle schöpfen aus der italienischen Krise irgendwelche Hoffnungen auf Deutschlands Befreiung und auf die Vernichtung der Hitler-Herrlichkeit."

Dem Bericht vom April 1936 ist zu entnehmen:

Infernalische Hetze

"In Y., einer großen Landgemeinde im Kreis Eßlingen, weigerten sich die dort zahlreichen Ernsten Bibelforscher unter Berufung auf ihre religiöse Überzeugung, an der Wahl teilzunehmen. Daraufhin wurde gegen sie eine infernalische Hetze veranstaltet, die bis zu tätlichen Angriffen ging. Ähnliches wird auch von anderen Orten mitgeteilt."

Im Bericht des gleichen Monats ist auch noch notiert:

Nicht entlassen

"Bei der Firma Hamel, Chemnitz-Siegmar, ist ein Bibelforscher im Magazin beschäftigt, der sich weigert, der Arbeitsfront beizutreten. Der Vertrauensmann ist vorstellig geworden, hat jedoch bei keiner Instanz des Betriebes etwas erreicht. Auch die Arbeitsfront hat nichts ausrichten können. Der Chef erklärte, daß er einen solchen Mann für sein Magazin nicht wieder bekommt, der wüßte alles aus dem Kopf. Auch die Bemerkung des Vertrauensrates, daß wegen diesem einzigen Mann das Schild von der Arbeitsfront 'Dieser Betrieb gehört geschlossen zur Arbeitsfront' nicht herausgehängt werden könnte, vermochte den Betriebsleiter nicht zu bewegen, den Bibelforscher zu entlassen.

Ein gleicher Fall spielte sich auch bei der Baufirma Gleibe in Chemnitz ab. Auch hier ist der Bibelforscher im Betrieb geblieben."

Der vielleicht umfänglichste Bericht bezüglich der Bibelforscher ist vom Juli 1936 datiert:

Massenpsychologisch bedeutsam:

"In diesem Zusammenhang verdient auch das Sektenwesen Beachtung. Die zahlreichen Prozesse gegen Angehörige der Sekte 'Ernste Bibelforscher' zeigen, daß sich auf diesem Gebiet dem Regime ein Widerstand entgegenstellt, der zwar nicht politisch, aber massenpsychologisch bedeutsam ist. Es hat in Deutschland immer Gebiete gegeben, die besonders zum religiösen Sektierertum neigten; dazu gehörten vor allem die sächsischen und schlesischen Gebirgsgegenden und Teile Westfalens. Jetzt hat es den Anschein, als ob die geistige Not der Zeit viele Menschen, die sich früher einer politischen Bewegung angeschlossen hatten, dazu bringt, sich dem religiösen Sektierertum zu verschreiben.

Sachsen, 1. Bericht: Aus den kleinen Orten Ostsachsens wird übereinstimmend berichtet, daß die religiöse Bewegung auch unter den Genossen verheerende Fortschritte mache. Die Verzweiflung über die jetzige Situation sei so groß, daß alle nur nach irgend etwas griffen, um vom Nazikram abgelenkt zu werden.

So ist zum Beispiel der frühere Vorsitzende der Freidenkerbewegung in X., der lange Zeit im KZ Hohnstein war, streng religiös geworden. Wenn man mit ihm sprechen will, dann erhält man stets die Antwort, daß dies alles eine Sendung Gottes sei. Er hat es auch fertig gebracht, ganz offen am Wahltag seinen Wahlzettel durchzustreichen und daraufzuschreiben: "Ich wähle Jesu, Hohnstein genügt mir!" Den Wahlzettel hat er im Wahllokal auch den SA-Leuten gezeigt. Ihm ist nichts passiert. Scheinbar nehmen ihn auch die Nazis als 'verrückt'.

Auch die Ludendorff-Bewegung der sogenannten Deutschgottgläubigen greift rasch um sich. Viele frühere gute Genossen beteiligen sich daran.

2. Bericht: Aus mehreren Orten, z. B. Zwickau, Werdau, Mylau, Reichenbach ist zu berichten, daß dort die Bibelforscher trotz der scharfen Verfolgung durch die Gestapo ihre Sache mutig weitervertreten und daß auch Prozesse und Verurteilungen sie vielfach nicht von ihrer Betätigung zurückhalten können. Zunächst handelt es sich hier selbstverständlich um religiösen Fanatismus, der an seinem Glauben allen Verfolgungen zum Trotz festhält und im Märtyrertum eher eine religiöse Weihe und eine "göttliche Gnade" und dergleichen sieht, aber immerhin schafft auch dieser Widerstandsfaktor mit der Zeit politische Gegnerschaften gegen das Regime, das gerade in Kreisen der Bibelforscher immer stärker als eine Art 'Antichrist' hingestellt wird.

3. Bericht: Eine rege Tätigkeit ist bei den Ernsten Bibelforschern zu bemerken. Ihre Zeitschrift 'Das Goldene Zeitalter' erscheint illegal und wird stark verbreitet. Überhaupt betreiben sie ihre Arbeit geschickt, zum Teil fanatisch. So wurde in Groß-Schönau bei Zittau ein Bibelforscher verhaftet, weil er am 29. März nicht gewählt hatte. Bei seiner Verhaftung hat er erklärt, daß er Hitler nie wählen würde, weil er ein Feind der gesamten Menschheit sei.

4. Bericht: In X. Haben die Bibelforscher großen Anhang. Sie haben jetzt das Gerücht in die Welt gesetzt, daß die Hitlerregierung nur noch bis zum Herbst am Ruder sei, da einige Bibelstellen darauf hindeuteten. Die Bevölkerung setzt auf solche Gerüchte große Hoffnungen.

Rheinland: In unserer Gegend gewinnen neuerdings die "Ernsten Bibelforscher" an Boden. Die Leute sind sehr rührig und zu ihnen flüchten sich alle Menschen, die innerlich nicht mehr ein noch aus wissen. In den Zusammenkünften wird ein gewisser Fanatismus gezüchtet. Viele von den Bibelforschern haben trotz des Terrors nicht gewählt. Die Nazis haben darauf ein Kesseltreiben gegen die Anhänger der Bibelforscher veranstaltet. Auf der Grube 'Sophie Jakoba' in Hückelhoven wurden von den Nazis Unterschriften gesammelt mit der Begründung, daß man mit diesen Volksverrätern nicht mehr zusammenarbeiten wolle. Darauf sind vier Arbeiter, die Anhänger der Bibelforscher-Vereinigung waren, entlassen worden."

Bericht August 1936

Konzentrationslager Esterwegen

"Ein besonderes Ereignis war auch die Nacht zum 7. März. Das SA-Kommando hatte die Mitteilung von der Rheinlandbesetzung erhalten und feierte dieses Ereignis in einem nächtlichen Gelage. Dabei wurde in wilder Begeisterung im Freien herumgeschossen. Einige Schüsse gingen in die Gefangenenbaracke 7, trafen jedoch niemanden.

Das Lager wurde auch einmal vom Arbeitsdienstführer, Generalmajor Hierl und von einer Roten-Kreuz-Kommission besichtigt. Vor dem Besuch der Roten-Kreuz-Kommission wurde im Lager gründlich aufgeräumt und eine große Anzahl mißhandelter Gefangener vorübergehend in anderen Lagern untergebracht.

Besonders harte Mißhandlungen, Strafkommandos und Schindereien hatten ein Dutzend Gefangene zu erleiden, die als Mitglieder der religiösen Sekte 'Ernste Bibelforscher' aus pazifistischen Gründen bei der letzten Reichstagswahl mit 'Nein' gestimmt hatten."

Bericht September 1936

Weigerung dem Luftschutz beizutreten

"Schlesien: In einem Betrieb wurden vor kurzem 2 Angehörige der ehemaligen Sekte der 'Ernsten Bibelforscher' entlassen, weil sie sich geweigert hatten, dem Luftschutz des Betriebes beizutreten. Dies wurde als Staatsfeindlichkeit und Sabotage ausgelegt. Die Belegschaft bekundete ihre Solidarität mit den Entlassenen dadurch, daß sie Sammlungen veranstaltete, an denen sich sogar ein großer Teil der technischen Angestellten beteiligte. Diese Sammlung sollte den Entlassenen über die 6 Wochen hinweghelfen, während deren ihnen die Unterstützung gesperrt worden war."

Dezember 1936

Ein weiterer Bericht über das Konzentrationslager Esterwegen

"Eines Mittags wurde über alle Höfe geklingelt. Alle Häftlinge mußten auf dem großen Hof antreten. 7 Häftlinge wurden aufgerufen. Man zog ihnen dünne Hosen an und schnallte sie, jeden einzeln, auf sieben bereitgestellte Holzblöcke. Unter diesen 7 Männern befand sich auch ein über 60 Jahre alter Bibelforscher. Der Alte bekam 15 Stockhiebe, die anderen 25 Hiebe, geschlagen wurde mit einer Art Ochsenziemer. Diese Prozedur geschah vor versammelter Mannschaft. Das war die Art der Strafverteilung für die geringsten Vergehen. Die Häftlinge hatten tagelang furchtbare Schmerzen. Sie konnten viele Tage hindurch nicht sitzen, noch auf dem Rücken liegen, dennoch mußten sie ihre Tagesarbeit verrichten. Ein Berufsverbrecher wurde einmal derart geschlagen, daß ihm buchstäblich der After aufplatzte."

Bericht vom April 1937

Pfarrer loben Bibelforscher

"In Stollberg und Lugau, wo in der letzten Zeit eine Reihe von Bibelforschern verhaftet worden sind, nahmen die Pfarrer für diese in der Kirche Stellung. Der Pfarrer von Lugau behandelte die Treue der Bibelforscher zur heiligen Schrift und hielt sie den Bekenntnischristen als Muster vor. Trotz aller Verfolgungen, trotz Sondergerichte hätten sich die Bibelforscher als fanatische Verfechter der heiligen Schrift erwiesen, denen man Achtung und Hilfe entgegenbringen müsse."

Aus dem Bericht Mai 1937

Einschätzung der Bibelforscher im KZ Dachau

"Bibelforscher. Es befinden sich etwa 40 im Lager. Sie gelten als die größten Fanatiker. Auch in Dachau hören sie nicht auf, für ihre religiösen Auffassungen zu werben. Alle Bestrafungen tragen sie mit stoischer Ruhe. Es ist ihnen auch schon gelungen, einige Gefangene für ihre Sache zu gewinnen. Man kann sich mit ihnen gut unterhalten, aber sie sind sehr einseitig."

Aus dem gleichen Bericht

"Mit dem Kopf durch die Wand"

"Ganz erstaunlich ist das Verhalten der Ernsten Bibelforscher. Diese vielfach jungen Leute bewiesen unerschütterlichen Oppositionsgeist, sie zeigten Märtyrergesinnung und waren unbeugsam wie keine andere Gruppe im Lager. Wir politischen Gefangenen hatten von Anfang an die Losung unter uns ausgegeben, nicht zu rebellieren und uns allen Anordnungen der Lagerleitung zu fügen, da die SS-Leute mit uns wenig Federlesen gemacht hätten und nur darauf warteten, daß wir ihnen Anlaß zum Einschreiten gaben. Wir leisteten also vorschriftsmäßig den Gruß usw. Die Ernsten Bibelforscher waren dagegen unter keinen Umständen dazu zu bewegen. Ihre Jehova-Gläubigkeit verbot es ihnen und sie hielten sich strikte daran. Eine Anzahl von ihnen weigerte sich auch, die Freilassung aus dem Konzentrationslager anzunehmen. Einige erklärten, sie wollten solange im Lager bleiben, bis man ihnen die Ausübung ihrer Religionstätigkeit wieder erlaube. Eine Folge dieser Haltung war übrigens, daß sich unter den Ernsten Bibelforschern die meisten Selbstmorde und Selbstmordversuche ereigneten."

Aus dem gleichen Bericht ebenfalls noch:

Über das Frauen-KZ Moringen

"Die alten Bibelforscherinnen machen den Aufseherinnen viel zu schaffen. Sie leisten weder einen Hitlergruß, noch lassen sie sich von ihren Ansichten abhalten."

Aus dem August-Bericht 1937

Einschätzung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik:

"Auf der anderen Seite kann sich das Regime immer noch nicht zu entscheidenden Schlägen entschließen. Eine vollständige Trennung von Kirche und Staat liegt nicht in seinem Interesse. Würde es die Kirchen sich selbst überlassen, so wäre ihr Zerfall in zahlreiche Sekten nicht aufzuhalten. Die Zahl dieser Sekten wäre umso größer, als sich im Nationalsozialismus selbst verschiedene kirchliche Richtungen gegenüberstehen. Das Eigenleben dieser Sekten wäre aber nur noch schwerer zu kontrollieren als das der bisherigen Kirchen und zugleich wäre die Kontrolle umso notwendiger, weil das Regime in ständiger Angst leben würde, daß die verschiedenen Sekten den "Staatsfeinden" als Unterschlupf dienen könnten. Aus diesem Grunde verfolgt das Regime schon die bestehenden Sekten, allen voran die "Zeugen Jehovahs", die früheren Ernsten Bibelforscher, mit unerbittlicher Schärfe. Umgekehrt wird das Regime aber wahrscheinlich selbst erkennen, daß auch der Weg des absoluten Zwanges zur Zeit nicht gangbar ist. Natürlich könnte das Regime die bestehenden Kirchen unterdrücken und an ihre Stelle eine "romfreie Nationalkirche" setzen. Aber das wäre eine nationalsozialistische Zwangsorganisation mehr und die Erfahrungen mit der Arbeitsfront sind nicht ermutigend. Gewiß sind die Massen heute überwiegend nicht mehr religiös, aber auch der Nationalsozialismus ist als Staatsreligion ohne Widerhall geblieben. Nur die heranwachsende Jugend hat in weiten Teilen eine gläubige Einstellung zur "nationalsozialistischen Idee", aber mit dieser Jugend allein kann man keine Nationalkirche machen."

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