Von Schwarzschlächtern und anderen Fertigkeiten

Es kann jetzt nicht darum gehen, den erhobenen Zeigefinger zu präsentieren. Es geht nur darum einen geschönten WTG-Bericht anhand der Quellenlage, etwas zu ergänzen.

In der "Wachtturm"-Ausgabe vom 15. 11. 1963 war auch ein Bericht über das ein Jahr zuvor erschienene Buch von Josef Kessel "Medizinalrat Kersten. Der Mann mit den magischen Händen" enthalten. Der WT wählte als Überschrift dafür "Ehrliche, sehr brave Leute".

So so, mag man dazu nur sagen, wenn man den Bericht selbst gelesen hat. Das mit der "Ehrlichkeit" muss wohl ein zweischneidiges Schwert gewesen sein. Das war die Ehrlichkeit von Kumpanen, die ihrem Wohltäter halfen.

Menschlich durchaus verständlich und keineswegs als Vorwurf gegen die Handelnden gemeint. Nur, die WTG macht wieder einmal eine Glorienrolle Made in Hollywood daraus, die überhaupt nicht so recht mit der tatsächlichen Faktenlage übereinstimmen will.

Im "Wachtturm" liest man diesbezüglich:

"In dem Buch 'Medizinalrat Kersten - Der Mann mit den magischen Händen' erzählt Joseph Kessel die Lebensgeschichte des finnischen Menschenfreundes Dr. Felix Kersten, eines hochbegabten Arztes für manuelle Theraphie, dessen einflußreichster Patient Heinrich Himmler, der Reichsführer der SS war. Dr. Kersten verschaffte dem gefürchteten Chef der SS, der von entsetzlichen Magenkrämpfen gequält wurde, Erleichterung. Den starken Einfluß, den er dadurch gewann, benutzte er, um diesen Naziführer zu Konzessionen zu bewegen, durch die er Tausende, die die Gestapo umgebracht hätte, rettete. In dem Kapitel 'Die Zeugen Jehovas' heißt es in diesem Buch:

'[Die Zeugen Jehovas wurden] verhaftet, in Konzentrationslager gesperrt und besonders unmenschlich behandelt. Kersten erfuhr davon und beschloß, ihnen nach bestem Vermögen zu helfen. Die inzwischen eingeführte Zwangsarbeit bot ihm dazu eine einfache Möglichkeit.

Tatsächlich war es infolge des Mangels an Arbeitskräften üblich geworden, die Häftlinge der Konzentrationslager für die Erfordernisse der Fabriken und der Bodenbestellung einzusetzen. Wachmannschaften und sogar abgerichtete Hunde begleiteten sie, um sie zu möglichst schneller Arbeit anzutreiben.

Eines Tages sagte Kersten zu Himmler, daß er in Hartzwalde nicht genügend Arbeitskräfte habe, und fragte ihn, ob er ihm nicht welche aus den Konzentrationslagern verschaffen könnte.

'Welche Art von Gefangenen möchten sie haben?' wollte Himmler wissen.

'Sie haben viele Zeugen Jehovas', sagte Kersten. 'Das sind ehrliche, sehr ´brave Leute.'

'Oho!' rief Himmler. 'Sie sind gegen den Krieg und gegen den Führer.'

'Aber ich bitte Sie', meinte Kersten lächelnd, 'ergehen wir uns doch nicht in allgemeine Betrachtungen - was ich brauche sind praktische Maßnahmen. Tun Sie mir den Gefallen: geben Sie mir Frauen von dieser Sekte. Sie sind richtiges Landvolk und vorzüglichere Arbeiterinnen.'

'Gut' sagte Himmler.

'Aber ohne Sklavenaufseher und Hunde', bat Kersten. Ich käme mir sonst selbst wie ein Gefangener vor. Ich werde sie besser überwachen als sonst jemand, das verspreche ich Ihnen.'

'Abgemacht', sagte Himmler.

Kurze Zeit darauf stiegen zehn Frauen in Hartzwalde aus einem Omnibus. Sie waren in Lumpen gehüllt und so mager, daß die Haut an den Knochen klebte. Aber sie baten nicht als erstes um ein Stück Brot oder um Kleidung. Sie wollten eine Bibel, denn im Lager durften sie keine haben … Kersten forderte bei Himmler noch mehr Zeugen Jehovas für Hartzwalde an. Schließlich waren es dreißig, darunter mehrere Männer."

Soweit das, was der "Wachtturm" dazu berichtete. Der diesbezügliche Bericht in dem Buch von Kessel ist aber noch umfangreicher; und so sei denn noch einiges von dem zitiert; was der "Wachtturm" für nicht erwähnenswert hielt:

Diese ausgehungerten, zerlumpten, mit Wunden bedeckten und von Peitschenhieben zerstriemten Menschen stürzten sich mit wahrhaft mystischem Eifer auf die Bibel, das Brot und die Arbeit. Für sie konnte der Arzt, der sie der Hölle entrissen hatte und ihnen nur Gutes widerfahren ließ, niemand anderes als ein Abgesandter des Himmels sein.

"Wissen Sie" sagten sie zu ihm, "wir beten jeden Tag für sie zu Gott und jedesmal sehen wir den goldenen Sessel, der bereits neben dem Thron des Herrn für Sie bereitsteht".

"Ich danke Ihnen, liebe Freunde", gab Kersten zur Antwort, "aber es eilt mir damit nicht".

Viel mehr bedeutete für ihn die Ergebenheit, die ihm die Zeugen Jehovas zu erkennen gaben, und ihre grundlegende Feindschaft gegen das Nazi-Regime.

Sie bildeten um Kersten einen geschlossenen Block, eine einzige Familie, zu der er unbegrenztes Vertrauen haben konnte. Es stand ihm frei, offen und ehrlich mit den Seinen und seinen verläßlichen Freunden zu sprechen, ohne fürchten zu müssen, daß diese Gespräche denunziert wurden. Wenn er die deutschsprachigen Sendungen des Londoner Rundfunks abhörte, brauchte er das nicht vor den Zeugen Jehovas zu verheimlichen, vielmehr hörten sie mit ihm zu und teilten mit ihm dieselbe Hoffnung auf die Niederlage Hitlers.

Die Zuneigung und Mittäterschaft der Zeugen Jehovas erleichterten Kersten und seiner Familie auch die Lösung anderer, wenn auch harmloserer Probleme, die aber in jenen schwierigen Zeiten eine immer größere Bedeutung bekamen. Die unbestimmte Verlängerung des Krieges zwang Deutschland zu drakonischen Sparmaßnahmen. Durch strenge Anordnungen wurde genauestens die Stückzahl von Geflügel und Vieh festgesetzt, die man halten durfte. Nun aber besaß Kersten sehr viel mehr Kühe, Schweine, Hühner, Enten und Gänse, als er berechtigt war.

Und die Kontrollen wurden immer häufiger und strenger. Von den Zeugen Jehovas hatte Kersten jedoch nichts zu fürchten. Sie waren ständig auf der Hut und machten die Kontrollbeamten schon von weitem ausfindig. Wenn eine Nachprüfung des Bestandes an Hühnern stattfand, war der Hühnerhof wie auf einen Zauberschlag leer. Von den hundertzwanzig Hühnern blieben nie mehr als zehn zurück. Und da der erlaubte Bestand zehn betrug, war Kersten unter der Norm geblieben.

Die verschwundenen Hennen aber lagen gefesselt in Säcken unter den Büschen und Sträuchern in der Nähe. Handelte es sich um Kühe oder Schweine, so wurden andere Mittel angewandt, aber sie bewirkten dasselbe Wunder. Wenn hohe SS-Führer unerwartet bei Kersten zu Tisch oder zum Tee erschienen, kümmerten sich die Zeugen Jehovas mit einer erstaunlich liebenswürdigen Sorgfalt um die Chauffeure, Ordonnanzen, Soldaten und Polizisten ihres Gefolges. Sie gaben ihnen reichlich zu essen und überreichlich zu trinken. Die hübschesten Mädchen geizten dann nicht - obwohl die Anhänger der Sekte äußerst prüde waren - mit ihrem lächeln. Sie beugten so dem Wunsch vor, den die Besucher möglicherweise hatten, ein wenig zu weit durch den Wald spazieren zu gehen und so die Dinge aus zu großer Nähe und zu genau zu besehen.

Das Verbrechen, dessen Entdeckung Kersten fürchtete, war von alltäglicher Art. Es handelte sich um das Schwarzschlachten, das in Hartzwalde betrieben wurde. Dieser Verstoß gegen das Gesetz der Lebensmittelrationierung wurde mit dem Tode bestraft. Freilich schützte den Arzt die Ergebenheit und Schlauheit der auf seinem Gutshof arbeitenden Zeugen Jehovas....

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