Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Friedrich Schlotterbeck's Bericht über den Zeugen Jehovas „Greiner"

(die unselige Zeit 33-45 betreffend)

Detlef G. erwähnt in seinem Buch („Zwischen Widerstand und Martyrium" S. 343) beiläufig auch den Kommunisten Friedrich Schlotterbeck. Bei G. liest man:

„Beispielsweise half der schwäbische Landwirt Karl Uhlmann, der nach über zweijähriger Inhaftierung aus dem KZ Welzheim entlassen worden war, seinem ehemaligen Mitgefangenen und Arbeitskollegen aus der KZ-Schreinerei Friedrich Schlotterbeck, als der frühere württembergische KJVD-Landesvorsitzende und aktive Widerständler Mitte des Krieges untertauchen mußte und ein Versteck suchte." Dazu muss man wissen, dass Schlotterbeck am 27. 8. 1943 aus dem KZ entlassen, gleichwohl wieder für die KPD aktiv wurde. Im Verlauf seines abenteuerlichen Lebens, auch nach diesem Datum, wurde die gesamte Familie Schlotterbeck von den Nazis in Sippenhaftmanier ermordet. Auch Schlotterbeck entging nur knapp nach diesem Datum, weiteren auch für ihn tödlich bedrohenden Situationen.

Als Quelle verweist G. auf das Buch von Schlotterbeck sowie auf einen Zeitzeugenbericht. Sieht man sich das Schlotterbeck-Buch näher an, findet man dort nirgends den Namen Karl Uhlmann. Allerdings kommt in Schlotterbecks Erzählung sehr wohl ein Bibelforscher vor. Den nennt indes Schlotterbeck „Greiner". Ist nun Greiner mit Uhlmann identisch? Vieles spricht dafür. Denn Schlotterbeck berichtet nur von einem Bibelforscher. Letztendlich kann diese Frage an dieser Stelle nicht geklärt werden. Denkbar ist auch, dass Schlotterbeck den Namen „Greiner" als Pseudonym benutzte, um dessen wahre Identität zu schützen. Auch ansonsten widerfuhr diesem Uhlmann (Greiner) schlimmes.

Dazu sei einmal aus dem Buch von Schlotterbeck zitiert:

„Als er gegangen war, eine neue Frage: Wo kann ich schnell und sicher untertauchen? Wo?

Vielleicht bei dem Bibelforscher, der den Eid verweigert hatte und nicht stehlen konnte? Er hatte mich eingeladen. Als er entlassen wurde.

Am Sonntagmorgen suchte ich seinen Hof. In einem abgelegenen Waldtal. Ihn fand ich im Stall".

Ach! Du bist's", sagte er und stellte die Mitstgabel weg, „ich habe oft an dich gedacht."

SA-Leute hatten sein Haus angezündet, die Feuerwehr durfte nicht löschen, und das Haus durfte nicht wieder aufgebaut werden. Jetzt wohnte er in der Ruine."

Weiter ist davon die Rede, dass dieser Bibelforscher Schlotterbeck im Rahmen des ihm möglichen Hilfe anbot. Insofern stimmt dies auch mit den Angaben von G. überein.

Ist das eigentlich alles, was über diesen Fall zu berichten ist? Liest man nur das G.-Buch; nicht aber auch das Buch von Schlotterbeck, dann stellt sich unwillkürlich dieser Eindruck ein. Sachgemäss ist dies allerdings nicht.

Wie ist denn die Situation heute, wenn seitens der Zeugen Jehovas in selbstdarstellender Weise über die Zeit 1933-45 gesprochen wird? Analog auch zu G. werden in der Regel die „Rosinen" herausgestellt. Wird betont wie standhaft man doch gewesen sei. Manchmal hat man dabei den Eindruck ein Hollywood-Filmregisseur steht dabei Pate. Nur standhafte Superhelden kommen in diesen Zeugen Jehovas-Epos vor. Schon beim Beispiel Erich Frost deutlich. Das war in Zeugen Jehovas-Sicht auch so ein Superheld. Seine unterschriebenen Gestapoprotokolle indes zeigen ihn in einem etwas anderem Licht. Sicherlich. Nicht freiwillig unterschrieben. Da bestand eine reale Nötigungssituation. Unbestritten. Nur auch diese Schattenseiten bedürfen der Erwähnung. Das macht sich dann aber wiederum für den „Hollywoodfilm" Made in Zeugen Jehovas schlecht. Also breitet man lieber den Mantel des Schweigens über solche Schattenseiten aus.

Um nicht mißverstanden zu werden „Greiner" (Uhlmann) lässt sich in keiner Weise mit Frost vergleichen. „Greiner" war als völlig anderem „Holz" geschnitten. Hochsensibel, der faktisch an der Gefangenensituation zerbrochen ist. Letztendlich auch an einem Selbstmordversuch wird dies deutlich.

Spätestens an dieser Stelle der Hinweis und Rat, mit dem lesen dieses Textes aufzuhören; besonders für auch gleichfalls sensible Naturen. Es gibt noch einiges hartes zu berichten, dass nicht jedem zugemutet werden kann und soll. Deshalb nochmals die nachdrückliche Aufforderung an sensible Naturen. Sofort mit dem weiterlesen dieses Textes aufhören!

Fakt ist aber auch, dass Schlotterbeck das diesbezügliche alles schon veröffentlicht hat. Es ist also in dem Sinne nicht „neu". Es sei nur deshalb dokumentiert; dieweil es sehr wohl Zeugen Jehovas-spezifisch ist.

Der Europa-Verlag in Zürich, bekannt auch als Verleger des Franz Zürcher-Buches „Kreuzzug gegen das Christentum" ist es gewesen, der zeitgenössisch als erster Verlag das Buch von Friedrich Schlotterbeck publizierte mit dem Titel „Je dunkler die Nacht …" Es gab nachfolgend noch weitere Auflagen dieses Buches. Auch in der DDR. Dort 1969 im „Mitteldeutschen Verlag" erschienen. Es ist eigentlich vorstehend schon genug kommentiert worden. Nachstehend soll nur noch unkommentiert zitiert werden, was Schlotterbeck über den Fall dieses Bibelforschers mit berichtet.

Er berichtet dass er und auch dieser Bibelforscher im KZ in einer Tischlereiwerkstatt beschäftigt war. Weiter geht es bei Schlotterbeck mit der Ausführung:

Sechs Häftlinge arbeiteten in der Tischlerei. Sie war noch neu und hatte doch schon eine Geschichte.

Der Kommandant gebärdete sich wie ein Wohltäter, weil er die verschuldete Werkstatt pachtete und ein Gefängnis daraus machte.

Sobald die Werkstatttüre geschlossen war, zeigte sich der SS-Posten von seiner besten Seite.

Unser Vorteil war, daß er vor seinen Vorgesetzten mehr Angst hatte als wir. Da er als wüster Schläger bekannt war, nannten wir ihn „Wildsau". Seine Geschwätzigkeit und die Vorteile, die wir daraus zogen, wogen vieles auf.

Sechs Jahre lebte ich mit ihm zusammen, und beide wußten wir, daß er „ein bißchen verrückt" war. Seine Gesichtszüge schwankten zwischen verbissener Streitsucht und jungenhaften Übermut. Er war stolz darauf, nie ein Buch zu lesen. Wie die meisten SS-Leute. Bis auf einen, der als Sonderling galt und viel gehänselt wurde.

Die Tischlerei war das Steckenpferd des Kommandanten. Mit ihr bewies er dem Reichssicherheitshauptamt die Rentabilität des Lagers. Ständig war er auf der Suche nach Arbeitskräften. Fiel irgendwo jemand auf, nahm ihn der Kommandant, auch wenn es zu keinem Gerichtsprozeß ausreichte, in Schutzhaft. Es genügte, daß er Tischler war. Schon Wochen zuvor kündigte er an, daß er wieder einen in Aussicht habe. …

Vor der Werkstatt quietschen Motorradbremsen. Der SS-Mann schrie durch die geschlossene Tür: „Tischlerei sofort einrücken! Der Kommandant ist da!"

Wir begannen unser Werkzeug aufzuräumen. Auch unsere Hosentaschen. „Alles liegenlassen! Antreten! Dalli, dalli! Im Gleichschritt - marsch!" Die Jacken knöpften wir im Gehen zu. Kärcher schielte zu mir herauf und fragte durch die Zähne: „Was kann los sein!" Alle schauten unsicher: der alte Bibelforscher, der nichts Verbotenes tat; Großvater Dehmel, der so gern schnupfte und nichts für die Winterhilfe spenden wollte; der Junge dem ein Arbeitsplatzwechsel zum Verhängnis geworden war; und schließlich der Radio-Moskau-Hörer.

Die Wildsau kommt strahlend und wichtig in den Hof gestürzt: „Sofort mitkommen! Viel Arbeit. Heute noch anfangen!"

Auch der Kommandant war bester Laune. „Kommt mal her!" sagte er leutselig und zeichnete auf ein Blatt Papier Betten. Viele Betten. Kärcher wagte Einwände. „Herr Kommandant! Bei zwei Metern Höhe können nicht vier, sondern höchstens drei Betten eingebaut werden. Wenn man noch den Strohsack berechnet …" „Quatsch" sagte der Kommandant. „Für die Juden ist es so gerade recht." Warum strahlte er so? Wegen der Juden? Oder weil sein alter Traum in Erfüllung ging? Er hatte das benachbarte ehemalige Landratsgebäude beschlagnahmt, wodurch sich die Kapazität seines Unternehmens verdoppelte.

„Die Fenster werden verschraubt und mit Maschendraht vernagelt. Die Fensterscheiben mit weißer Farbe zugestrichen", sagte er von Raum zu Raum humpelnd. Als Kärcher das Auftragsbuch in die Tasche steckte, rief er uns nach: „Und daß ihr es wißt, morgen abend ist alles fertig!"

Schließlich wurden die Juden in die fertigen Räume gesperrt … „Wie 1933", sagte Kärcher und versuchte die Nägel mit einem einzigen Hammerschlag in das Holz zu schmettern. Soll man hinsehen? Soll man wegsehen? Jeder hatte mit sich zu tun. Der Bibelfoscher drehte sich im Kreis und sagte seinen einzigen erlaubten Fluch: „Herrschaft, wo ist denn mein Hammer?" Er hatte ihn in der Hand. Ob er bereit sei, das Vaterland mit der Waffe zu verteidigen, hatten sie ihn gefragt. Und er hatte gesagt, daß er nicht bereit sei, denn: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen." Großvater Dehmel arbeitete gar nicht mehr. Ruhig stand er am Fenster und starrte blicklos in die Ferne. Vergaß den Schnupftabak, das „beste Mittel gegen Herzleiden". …

„Übermorgen fahren wir in die Stadt", sagte die Wildsau. „Wen sollen wir mitnehmen?" „Vielleicht den Greiner?" Der Bibelforscher bereitet Sorgen. „Warum gerade ich?" „Weil ich dich vorgeschlagen habe. Freust du dich nicht?" „Nein. Die haben etwas vor!" „Du siehst Gespenster. Reiß dich zusammen!" Da auch die Gestapo Benzin sparen mußte, fuhren wir mit dem ersten Arbeiterzug. Und weil die Wildsau sich genierte, trugen wir Zivilkleider. Mühsam zwängten wir uns mit den Werkzeugkisten in den überfüllten Zug.

Auf dem Weg zum Gestapogebäude fragte die Wildsau: „Na, was meist du?" „Die Leute sprechen recht herzhaft". „Du bist schon zu lange drin. Deshalb wundert dich das. Laß sie schimpfen. Das ist nicht das schlimmste." „Aber wir haben doch Leute im Lager, die auch nichts anderes sagten?" „Haben eben Pech gehabt." Auf der Treppe mußten wir einem entgegenkommenden Gestapomann ausweichen.

Greiner blieb fast wie gelähmt stehen und ließ seine Kiste fallen. „Hast du gesehen, wie der mich fixiert hat?!" „Mir ist nichts aufgefallen." „Doch, doch! Der hat mich damals verprügelt. Jetzt will er bestimmt wieder was von mir." „Der hat dich gar nicht erkannt! - Nimm dich zusammen!"

Im Fotoatelier des Erkennungsdienstes bauten wir Wandschränke ein und montierten über einer Badewanne einen Tisch. So wollte es der neue Fotograf.

Die Wildau sagte: „Langsam. Immer mit der Ruhe. Langsam." Wegen der Tagesspesen und des abendlichen Stadtbummels. Auch mir war es recht. Außer der Gefangenenkost im Polizeigefängnis bekamen wir Reisemarkenverpflegung. Vom Amtschef genehmigt. Am Nachmittag erschien dieser selbst. „Achtung!" Die Wildsau machte Meldung. „Weitermachen! Hm, das ist doch …" Sehr plump gemacht, dachte ich. „Schlotterbeck, Herr Regierungsrat" half die Wildsau. „Natürlich! Kennen wir uns nicht? Seitdem hat sich manches verändert, was? Damals sind Sie uns immer wieder durch die Finger gerutscht. Das waren noch Zeiten, wie!" „Jawoll!" sagte ich und dachte: Tu etwas! Und sei vorsichtig! Der ist nicht zufällig gekommen! So einer kommt nie zufällig. …

Die Wildsau schnitt hinter dem Rücken des Amtschefs ermahnende Grimassen. „Und - wie geht es Ihnen?" Ich zuckte die Schultern. „Reden Sie schon! Früher konnten Sie's doch auch. Gut geht es Ihnen nicht. Das seh' ich." „Nein, gut nicht."

Er sah angestrengt auf seine Stiefelspitzen. Steckte die Hände in die Rocktaschen. Theater! Alles Theater! Er will etwas. Seit zwanzig Jahren kenne ich ihn. In der Weimarer Zeit hat er die politische Polizei geleitet. 1934 wurde er abgesetzt. Dann brachte er das Mädchen Liselotte Herrmann unters Fallbeil. Und war wieder im Kommen. Jetzt sitzt er auf seinem alten Platz, nachdem der Vorgänger über Nacht nach Rumänien versetzt wurde und schon acht Tage später an Typhus starb. „Wie lange sind Sie noch in der Stadt?" „Bis morgen abend wird es schon dauern, Herr Regierungsrat." „Gut. Bringen Sie mir den Schlotterbeck für eine halbe Stunde." Nachdem er gegangen war, rasselte die Wildsau los: „Mensch, Glückspilz! Wissen Sie, daß Sie eine große Chance haben?" „Nana!" „Wenn ich Ihnen sage! Ich kenne doch den Chef. Der hat was vor mit Ihnen." „Kann mir's denken". „Ist doch egal. Versprechen Sie ihm das Blaue vom Himmel!"

Die schwerste Knochenarbeit wäre mir jetzt lieber gewesen … Greiner hatte sich in der ganzen Zeit nicht gerührt. Blieb auch jetzt schweigsam. Nur die Wildsau war hochbeschwingt und gebot Feierabend. Die Arbeit mußte gestreckt werden.

Im Polizeigefängnis erhielten wir mit dem Abendbrot auch das Mittagessen nachgereicht. Dann streckten wir uns satt auf die Holzpritschen. Greiner lag auf dem Rücken. Die Arme unter dem Kopf. Starrte zur Decke. Sein blondes Haar war zerwühlt. Sein rundes, rosiges Gesicht zerquält. „Jetzt kommst du vielleicht bald raus. Ich gönn es dir". Er sah mich treuherzig an. „In den vielen Jahren mußt du allerhand erlebt haben." „Das kann man sagen". „Ist dir eigentlich nie der Gedanke gekommen - Schluß zu machen?" Das war es also. Wütend fuhr ich auf. „Du!" Dann hatte ich mich wieder in der Gewalt. „Ich verstehe. Aber du hast es nicht nötig, dich damit zu beschäftigen." „Ich meine ja nur. Was du immer gleich denkst!" „Für euch Bibelforscher ist die Sache klar. Ihr dürft nicht! Bei uns ist das anders. Unter gewissen Umständen dürfen wir." „Und wann? Deiner Meinung nach?" „Ehe man zum Verräter wird. Aber das kommt für dich und mich nicht mehr in Frage. Wir haben's hinter uns." „Nun ja, ich wollte nur wissen, wie du darüber denkst. Und jetzt, wo wir allein sind, kann man ja darüber reden." „Du kannst mich doch gar nicht anschaun!" Er hockte sich auf. Bewegte den Kopf wie ein Hund. „Ich hab eben auch schon den deutschen Blick." „Gewöhn ihn dir ab, sonst nehmen sie dich noch in die Partei auf." „Mit dir rede ich kein Wort mehr!" Nachdrücklich zeigte er mir den Rücken.

Am späten Vormittag holte uns die Wildsau. „Beschäftigt euch irgendwie. Ich gehe einkaufen." Er schloß uns ein, und wir nützten die Zeit, um das Bildarchiv der gehenkten Polen zu durchstöbern. Auch die Wildsau war auf einigen Bildern verewigt. Als der SS-Mann leibhaftig wieder vor uns stand mit Brot, Butter, Wurst, Käse - und Seltersflaschen für sich - starrte ihn Greiner fassungslos an. Mit steifen Bewegungen suchte er die Säge, ohne sie zu finden. „Hier ist sie!" Er achtete nicht auf seine Finger. Ließ die Säge an der falschen Stelle auf dem Holz tanzen.

„Was machst du denn?!" Er hatte einen stumpfen, gläsernen Blick. „Ist Dir nicht gut? Du bist ja ganz heiß und zitterst?" Die Wildsau, übernächtigt und durstig am Fenster stehend drehte sich um: „Was ist?" Greiner wich zurück. Sein Gesicht sprühte Angst. Seine Lippen flatterten. Dann brach es kreischend aus ihm: „Ich kann nicht mehr!" Er schlug die Hände vors Gesicht, krümmte sich über einer Kiste und heulte wie ein Kind, schluchzend, immer unverständlicher: „Ich kann nicht mehr!" Die Wildsau, nicht weniger aufgeschreckt, wurde väterlich: Greiner! He Greiner! Machen Sie keine Geschichten! Es hat Ihnen doch niemand was getan!" Greiner glotzte verständnislos. Wimmerte wieder: „Ich kann nicht mehr."

Die Wildsau wich zur Tür zurück. „Schlotterbeck! Beruhige ihn doch! Wir sind ja blamiert. - Vielleicht ist es besser, wenn ich eine Weile verschwinde?" Ich wußte, warum er ging. „Wollen wir frühstücken?" „Ich habe keinen Hunger." „Dann los! Arbeit lenkt ab!"

Mit schlecht gespielter Fröhlichkeit kam die Wildsau zurück. „Na, er hat sich ja wieder beruhigt. Hier habt ihr mein Frühstück. Ich habe keinen Hunger. Und Sie, Greiner, machen mir keine Geschichten!"

„Jawoll!" Apathisch kroch Greiner in die Badewanne. Unter dem darüber montierten Tisch war es dunkel. Schweigend reichte ich ihm die nötigen Werkzeuge. Aber Greiner arbeitete nicht. Er weinte still und hemmungslos in der Geborgenheit der dunklen Wanne. Die Wildsau winkte mich nervös ans Fenster: „Paß auf, daß der keinen Unsinn macht. Die sperren mich glatt ein, wenn was passiert! Im gleichen Augenblick hechtete Greiner aus der Wanne. Sprang auf. Rannte mit dem Schädel gegen die Wand. Schlug um sich, sprang wieder auf und schrie: „Jetzt ist es aus! Ganz aus! Jetzt kann ich nicht mehr!" Sein tränennasses Gesicht glühte. Das Weiß seiner weit aufgerissenen Augen war rot. „He Greiner!" „Nichts! Nein! Nichts mehr! Aus! Ich kann nicht mehr!"

Und ebenso plötzlich, wie er zusammengebrochen war, verwandelte er sich. Hochaufgerichtet, mit flammenden Blick und großartiger Handbewegung rief er: „Fürchtet euch vor dem Tag, da ihr gerichtet werdet! Er ist nicht mehr fern!" Seine Stimme krächzte nicht mehr. Jauchzend, die Arme hochgetreckt, fuhr er fort: „Da Oben ist Einer, der all eure Sünden kennt! Er wird über euch richten! Oh! Welch Heulen und Zähneklappern wird dann sein! Aber der Herr erkennt die Seinen!" Die Wildsau machte nicht weniger große Augen. „Schreien Sie doch nicht so! Wenn das jemand hört! Sie sind ja verrückt!" „O nein! Ich bin nicht verrückt! Aber ich schweige nicht länger! Ich fürchte euch nicht!"

Dennoch fiel er wieder zusammen. Trat nahe an die zurückweichende Wildsau heran und krächzte: „Ich will auch zum Regierungsrat! Ich fürchte ihn nicht! Ich schweige nicht länger!" „Mensch Greiner! Halten Sie doch endlich die Schnauze! Sie reden uns ja um Kopf und Kragen! Wenn das jemand hört!" „Alle sollen es hören! Es wäre Sünde, noch länger schweigen! Ich kann nicht mehr. Ich - kann - nicht - mehr -". Seine Stimme verging im Schluchzen. Dafür redete die Wildsau. Pausenlos. Irgend etwas. Damit es nicht still wurde. Greiner ließ den Wortschwall stumpf über sich ergehen. Dann stand er auf. Erstaunlich gefaßt. Und entschuldigte sich:

„Verzeihen Sie, Herr Hauptwachtmeister!" Sie reichten sich sogar die Hände. „Ich habe Ihnen Ungelegenheiten gemacht. Aber - es ist einfach so über mich gekommen!" „Schon gut. Aber jetzt versprechen Sie mir, daß Sie sich zusammenreißen!" „Jawoll! Herr Hauptwachtmeister!" Sie schüttelten sich erneut die Hände und sahen sich mit übertriebener Festigkeit in die Augen. Dann wandte sich Greiner an mich: „Gib mir auch die Hand! Schau mich fest an! Nicht so! Richtig und fest. Und denke jetzt gar nichts anderes, als was ich dir sage!" Dann großartig: „Ich danke dir! Heute weiß ich es! Und morgen du es!" „Sag es mir doch schon heute!" „Nein, nein! Morgen!" Und er lachte zum ersten Mal. In der Mittagspause weinte er wieder still vor sich hin. Die Wildsau schaltete den Radioapparat ein.

Ehe wir ins KZ zurückfuhren, borgte uns die Wildsau das Rasierzeug. Als Greiner an der Reihe war, bekam ich Weisungen: „Ich habe schon oft ein Auge zugedrückt. Gerade bei dir. Jetzt mußt du mir helfen. Paß auf, daß er nicht abhaut. Dem traue ich nicht mehr."

Auf dem Bahnhof erhielten wir unsere Fahrkarten. Im Zug setzte sich der SS-Mann auf eine andere Bank. Greiner begann wieder zu weinen. Lautlos. Unbewegt. Bald hatten es auch die Passagiere entdeckt. Der Zusammenhang zwischen uns und dem SS-Mann blieb nicht verborgen. Alle schwiegen. Nur ein Arbeiter seufzte: „Ja, ja …" Bei der Kontrolle fand Greiner seine Fahrkarte nicht. Aufgeregt suchte er in seinen Taschen, sagte: „Der Herr dort ist Zeuge! Er hat sie mir selbst gegeben!" Die Wildsau setzte sich ärgerlich zu uns. „Jetzt hab ich's euch so leicht gemacht, damit man nicht auf den ersten Blick sieht, wer ihr seid." Aber Greiner wollte keine Gefälligkeit: „Das ist mir gleich. Alle Leute dürfen wissen, daß wir Schutzhäftlinge sind und wieder ins KZ fahren. Ich schäme mich nicht!" Er saß unnatürlich steif. Die Hände im Schoß gefaltet. Das verkrampfte Gesicht nach oben gewendet. Im Weiß der Augen quollen wieder rote Äderchen. Keine Anrede erreichte ihn. Plötzlich stand er auf. Nahm Haltung an: „Schutzhäftling Greiner bittet austreten zu dürfen!" Zwar hatte die Wildsau sofort genickt, aber Greiner sagte dennoch sein Sprüchlein zu Ende.

Jetzt passierte etwas. Flucht? Dazu war er nicht der Mann. Aber seine Frage in der Gefängniszelle. Die Wildsau sah mich beschwörend an. Das Klosett war im Nebenabteil. Nichtraucher, leer. Noch schlechter beleuchtet. Auf der letzten Bank saß eine Frau mit einem schlafenden Kind. Die Klosetttür war verschlossen. Nichts Besonderes. Ich klopfte. Keine Antwort. „Greiner? Mach auf! Ich bin's!" Da sich nichts rührte, öffnete ich das Waggonfenster und beugte mich weit in die Nacht hinaus. Das Klosettfenster war geschlossen. Also mußte er noch drin sein. Sollte er wirklich?

Ich riß die Tür zum Raucherabteil auf und blieb stehen. Die Wildsau wurde blaß. Sprang auf. Zischelte: „Ist er weg?" „Er macht die Tür nicht auf." Mit vereinten Kräften stemmten wir uns gegen die Tür. .. Endlich kam der Schaffner. Schloß auf und trat zurück. „Mehr will ich damit nicht zu tun haben." Die Tür ließ sich nur einen Spalt öffnen. Auch die Wildsau wollte nicht näher kommen … Endlich gab die Tür nach. Im trüben Lichtschein sah ich ihn. Auf den Boden liegend … Er hatte sich die Pulsadern durchgeschnitten! … Während ich ohne Kunstfertigkeit seine Arme abband, stöhnte er: „Du bist doch sonst ein guter Kamerad gewesen. Laß mich sterben." Die Wildsau schrie: „Ein Waschlappen bist du! Aber kein Mann! Noch heute morgen hast du versprochen … Und jetzt? Ich könnte dich in die Fresse schlagen!"

Greiner lächelte überlegen: „Das sind die rechten Worte an einen Sterbenden." … In einer Blutpfütze lag die Rasierklinge. „Woher hast du die Klinge?!" „Aus Ihrem Rasierzeug." Die Wildsau lachte irr. „Auch das noch! So ist es, wenn man gut zu euch ist! Na warte! … Auf der nächsten Station telefonierte er, begann zu rechnen. „Noch funfundzwanzig Minuten. Hoffentlich bring ich ihn lebend nach Hause. Was dann passiert, ist mir egal." In Welzheim wartete der Arzt mit einem Auto. Mich eskortierte ein Dienstverpflichteter ins Lager. „Machen Sie bloß keinen solchen Quatsch! Es kommen auch mal wieder andere Zeiten."

Greiner wurde in das Bett unter mir verlegt. Seine Hände waren geschient und dick verbunden. Er sang fromme Lieder. Lachte, weinte und jauchzte mit gläsernen Augen: „O Du Herrlicher! Du Strahlender! Ich sehe Dich! Endlich bin ich Dir nahe!" Uns beachtete er nicht. Iwan schrie er an: „Hebe dich hinweg, Satan!" Als er wieder aufstehen konnte, kniete er vor dem Wasserhahn, betete die elektrische Birne an, wollte meine Füße umschlingen und meine Schuhe küssen. Endlich wurde er versetzt. Sie ließen ihn hungern. Bei jeder Gelegenheit bekam er Fußtritte und Ohrfeigen. Geduldig nahm er es hin. Dann wurde er Kaninchenpfleger. Hockte stundenlang vor dem Stall. Sprach nur noch selten. Wirres Zeug. Aber er lächelte, lächelte … Nach eineinhalb Jahren unterschrieb er, lächelnd wie immer, daß er ein guter Staatsbürger sein wolle - und wurde entlassen.

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