Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Das politische Plakat als „Notnagel"

Etwa in der CV 180 vom Juli 1984 begegnet man erstmalig dem Namen Gerd R... hinter einem CV-Artikel, und auch später noch. Im allgemeinen sind CV-Artikel mit voll ausgeschriebenem Familiennamen eher die Ausnahme.

In der CV 208 vom November 1986 gibt es nun einen weiteren Artikel von R..., der in etwa einen Einblick in seine Biographie erlaubt.

Unter der Überschrift „Vier Jahre danach" liest man darin:

Im Herbst des Jahres 1982 endete für mich 13 Jahre aktiver Dienst für die Organisation der Zeugen Jehovas. Bis zuletzt war ich Studienleiter und verantwortlich für zwei Studiengruppen, bis zuletzt war ich Hilfspionier.

Die Ältesten der Versammlung. Neubrandenburg standen vor einem Rätsel. Als Kind mit der WTG-Lehre aufgewachsen, mit 13 Jahren getauft und aktiv am Versammlungsleben beteiligt, zählte ich sicher bei ihnen als hoffnungsvoller „Kadernachwuchs". Doch nun erklärte ich den Schwestern meiner beiden Studiengruppen, daß ich nach gründlicher Überlegung einige Schlüssellehren der ZJ nicht mehr akzeptieren könnte. In erster Linie wies ich die Behauptung der WTG zurück, der „kluge Knecht" sei von Gott geleitet.

Nun ließen die Ältesten nicht lange auf sich warten. Sie rückten gleich in voller Besetzung und mit Unterstützung des Gebietsdieners Wolfgang K... an. Allerdings blieben sie nicht lange. Man kann sich nämlich als Zeuge Jehovas gegen Gott oder Jesus versündigen. Die „Diener Jehovas" drücken in diesen Fällen durchaus mal ein Auge zu. Wer aber behauptet die leitende Körperschaft sei nicht von Gott geleitet, hat keine Gnade zu erwarten.

Wochen später übermittelten die Ältesten ihr „göttliches Urteil"; für meine Frau und für mich den „Gemeinschaftsentzug".

Sie ließen dies meiner Gattin zu einem Zeitpunkt wissen, an dem sie sicher waren, mich nicht zu Hause anzutreffen. Mein Gemeinschaftsentzug wurde mir nie persönlich mitgeteilt …

Unmittelbar nach dem ersten Gespräch mit den Ältesten schwärmten diese aus, um die Versammlung „zu warnen". Schon am nächsten Tag wußte jeder Zeuge Jehovas in Neubrandenburg und Umgebung Bescheid. Sie alle erhielten die Weisung, uns zu meiden und nicht mehr zu grüßen.

Interessant war nun, zu sehen, wie sich die Zeugen Jehovas uns gegenüber verhielten. In der Versammlung besaßen wir bis dahin einen guten Ruf und waren mit vielen Glaubensgeschwistern befreundet. Einige von ihnen hatten uns fast täglich besucht. Nun konnten wir unsere lieben ehemaligen „Geschwister" in 4 Kategorien aufteilen:

Zur ersten Gruppe zählen wir diejenigen, die sich buchstabengetreu nach den WTG-Weisungen ausrichten. Sie sind aber eindeutig in der Minderheit. Begegnen sie uns auf der Straße, gehen sie erhobenen Hauptes mit meistens nach vorn - starr ausgerichteten - Augen an uns vorüber (natürlich grußlos!).

Zur zweiten Kategorie kann man jene Zeugen rechnen, die, sobald sie uns erblicken, auf die andere Straßenseite ausweichen. Gibt es dazu keine Gelegenheit, sehen sie sich schnell ein Geschäft an, zur Not sogar ein politisches Plakat.

In die dritte Gruppe ordnen wir die ZJ ein, die uns mehr oder weniger freundlich grüßen, bzw., die unseren Gruß erwidern.

Und schließlich gibt es Zeugen Jehovas mit denen wir auch noch heute freundschaftliche Kontakte pflegen.

Unter den vielen Gesprächen, die ich in den letzten vier Jahren mit Zeugen geführt habe, ist mir besonders eines in Erinnerung geblieben: Eine schon etwas ältere Zeugin nach Hause und bat mich weinend, sie nicht mehr zu besuchen. Sie würde sich zwar mit mir auch noch gerne weiter unterhalten, aber sie habe Angst davor, daß meine Besuche anderen Zeugen Jehovas auffallen könnten.

Ihre Befürchtung bestand zu Recht. Kontakte eines Zeugen zu einem Ausgeschlossenen können zum Ausschluß dieses ZJ führen. Und wie leicht findet sich ein Denunziant in der Versammlung … Wie bei dieser Schwester, spielt auch bei anderen Zeugen die Angst in ihrem Verhalten eine große Rolle. Die Unsicherheit, die sie zeigen, wenn sie uns begegnen, beweist dies. Man hat sich schließlich gegenseitig nichts böses getan - im Gegenteil.

Aber das diesbezügliche Verbot der WTG, miteinander zu sprechen, schwebt wie ein Damoklesschwert über jedem ZJ. Gleichzeitig versucht man den Geschwistern einzureden, daß alle Ausgeschlossenen nun ihre Feinde wären. Dieses Feindbild wird in der Regel nur von seiten der Wachtturm-Gesellschaft aufgerichtet. Warum sollte ich auch meine ehemaligen Mitstreiter hassen?! Nur weil ich in einigen Lehrpunkten eine andere Meinung habe als sie? Mit dieser „anderen Meinung" sollen aber nach Möglichkeit die Zeugen Jehovas nicht konfrontiert werden. Dies könnte für die WTG gefährlich werden. Und deshalb macht man in Brooklyn ein Geschäft mit der Angst.

ZurIndexseite