Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Der "Pilgrim" des Conrad C. Binkele

Der Fall Binkele hatte schon zeitgenössisch jene deutschsprachigen Bibelforscherkreise erschüttert, denen es zum Bewußtsein gekommen war, dass mit Rutherford ein Diktator die Zügel der Wachtturmgesellschaft an sich gerissen hatte.

Ein erstes "Denkmal" setzten ihm schon die Gebrüder Sadlack in ihrer 1928 erschienenen Oppositionsschrift: "Die Verwüstung des Heiligtums". Darin kommen sie auch auf die schäbige Behandlung zu sprechen, die Rutherford seinem einstigen Schweizer Statthalter angedeihen liess. Über diesen Vorfall vermerken sie:

"Wir erinnern uns eines Gotteskindes unserer eigenen Tage, dem, als es zu dem abwärts führenden Weg der Kirche nicht mehr Ja sagen konnte, dies Wort öffentlich nachgewiesen wurde: 'Ich lenke die Aufmerksamkeit der Geschwister jetzt darauf, und mögen sie nun ... [hier folgt der Name eines bekannten Bruders] als einen der Verbündeten der Ranke des Feindes [!] betrachten und sich dementsprechend verhalten", (WT. 1926: 352). "Und sich dementsprechend verhalten" - also noch eine Aufforderung an Gottes Volk, diesen Protestanten als einen Gesetzlosen (früher nannte man solche Leute Ketzer) zu hassen. Der Befehl, den betreffenden Wahrheitszeugen als einen Verbündeten des Feindes zu betrachten, erinnert lebheft an ähnliche Erfahrungen des vorhin erwähnten Wahrheitszeugen Huß."

Im Falle Binkele besteht die verhältnismäßig gute Gelegenheit, ihn noch etwas näher beleuchten zu können. Bekanntlich ist die Schweiz ein mehrsprachiges Land. Unter anderem dominiert dort in einigen Kantonen auch das Französische. So haben denn wesentliche Teile der französischen Bibelforscher/Zeugen Jehovas in der Schweiz ihre Wurzel.

Namentlich das eine wechselvolle Geschichte habende Elsaß (derzeit zu Frankreich gehörend); vor dem Ersten Welkrieg aber zeitweilig Deutschland angehörend, erwies sich wohl als das "Einfallstor" der Bibelforscher nach Frankreich. Eine bedeutende dortige Stadt ist Mulhouse (Mühlhausen) in der Binkele in späteren Jahren seinen Wohnsitz verlegte.

Über französische Bibliotheken ist nun eine Zeitschrift ermittelbar die dort von Binkele von 1931 bis cirka 1934 herausgegeben wurde. "Der Pilgrim" nannte er sie. Laut späteren Untertitel, wollte sie ein "christliches Erbauungsblatt" sein. So schrieb er beispielsweise in ihrer ersten Ausgabe:

"Keineswegs will daher der Inhalt für etwas anderes gelten, als ernstliche Betrachtungen der hl. Schrift in dem Sinne und Geiste, wie der Schreiber ehedem auf seinen Pilgerreisen durch mündliche Vorträge den Versammlungen mit dem Worte zu dienen bestrebt war. Nicht möchte er durch diese Arbeit Anlass geben zu Streitfragen, oder solche aufgreifen und behandeln, sondern dem zu dieser Zeit schwer bedrängten Gottesvolk durch die Wahrheit, die ihr eigener Ausleger ist, zu nützlichem, erwünschten Beistand sein, nach der Kraft Gottes, und nach dem Masse der Gnade und Gabe, die Er dazu schenken wird."

Binkele vermied die offene Polemik mit den Bibelforschern/Zeugen Jehovas. Dennoch wird auch er an manchen Stellen durchaus deutlich. Bekanntlich hatte Rutherford seine "Bibelforscher" dazu getrimmt, sich als permanente Literaturverkäufer zu betätigen. Dies sollte fernerhin ihr Hauptzweck sein.

Demgegenüber stand noch das alte Russell-Erbe, Charakterentwickler sein zu wollen, weil die Russelliten wähnten, sich auf diese Weise das "Billett fürs Himmelreich" erkaufen zu können. Der diesbezügliche Umbruch fiel auch in die Zeit Binkele's. Ohne die Zeugen Jehovas namentlich zu nennen, jedoch sehr wohl auf sie gemünzt, nahm er in der Ausgabe Nr. 5/1933 seiner Zeitschrift dazu einmal Stellung.

Er wählte dazu einen Vergleich. Der Vergleich war für ihn, dass es zwei Arten von Licht gäbe. Kaltes und warmes. Er rekapitulierte, dass kalte Licht hätte durchaus einen gewissen "Vorteil", indem keine unnötige Energie in Form von Wärmeanstrahlung "vergeudet" würde, sondern eben nur "Licht" geliefert wird. Damit hatte er zugleich den Zeugen Jehovas einen Spiegel vorgehalten. Binkele schrieb:

"Heute reiben sich viele auf, um eine Botschaft mit allen möglichen Mitteln unter die Menschen zu tragen, die die Menschen in dieser Form schon oft gehört haben. Wir müssen feststellen, dass es kaltes Licht ist in sehr vielen Fällen, das so ausgestrahlt wird. Man geht hinaus, opfert sich auf um zu leuchten und beachtet dabei nicht, dass man sich in diesem Lichte auch wärmen muss, sich - und andere.

Denn auch die Wärme der Liebe ist ein elementares Bedürfnis für unsern geistigen Menschen. Aber man will sich nicht mehr wärmen, weil man gefunden hat, dass damit viel Zeit verloren geht, viel Energien, die man doch besser anwendet, um zu leuchten. Wir bedauern die falsche Einstellung eines Teiles des Volkes Gottes. Denn wir wissen, dass unser Tun, wenn es nicht in Liebe geschieht und Liebe offenbart, nichts nütze ist: 'Denn wenn ich mit den Sprachen der Menschen und der Engel rede, aber nicht Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel.' 1. Kor. 13:1."

Wie stand nun Binkele zu der Grundaufassung der Zeugen Jehovas, dem Endzeitglauben? Auch dazu gibt es bei ihm einige durchaus eindeutige Aussagen. Etwa, wenn er im Oktober 1931 schrieb:

"Als ein noch junger Christ - es war vor 40 Jahren - traf ich einmal in einem Städtchen im Staate Illinois mit einem hochgeachteten, sehr alten, dienenden Bruder zusammen, der uns Jüngere mit Vorliebe durch seine Auslegungen aus den Propheten und der Offenbarung zu belehren suchte. Er begann nun auch mir auf offener Strasse zu predigen und prophezeite mit grosser Gewissheit, dass der Tag des Herrn vorhanden sei, und dass wir, die Jüngern, desselben erleben würden; Er selbst aber und seine Altersgenossen würden sterben müssen, ehe der grosse Tag vollends anbreche.

Als Beweis für seine Ausführungen führte er die 'Zeichen' an, welche zu jener Zeit am politischen, sozialen und religiösen 'Himmel' sichtbar waren. Die meisten der älteren Brüder glaubten mit ihm, dass binnen kurzem der völlige Untergang der heutigen Weltordnung geschehen müsse. Immer noch tönen mir die Worte jenes lieben Greises, und diejenigen vieler andern, damals schon betagter Gottesmänner in den Ohren. Wie habe ich gewartet, wie gehofft, geglaubt, und seit jener Zeit in gleicher Weise andern gepredigt und bin darüber nun selbst fast - zum Greise geworden.

Aber ungleich wahrscheinlicher, als zu jener Zeit, traten in meinen Tagen die 'Zeichen' für die Verwirklichung der Hoffnung der Kirche in den Vordergrund. Man glaubte die fast greifbaren Beweise dafür in den Händen zu haben; so zeugten auch wir voll Inbrunst, gleichwie jene von dem, was wir glaubten, und belehrten alle, die uns hören wollten, über die sich jetzt erfüllende Verheissung des glorreichen Königreichs der Gerechtigkeit und des Friedens.

Und wiederum - die Reihen auch unserer Altersgenossen haben sich sehr gelichtet, die jüngere Generation ist wieder zu Vätern und Müttern geworden und wir betagteren haben zu fühlen bekommen, dass wir nicht mehr so recht in unsere Umgebung hineinpassen. Indessen warten wir noch, warten mit ihnen - wenn auch resignierter."


Binkele war zugleich auch Zeitzeuge des Russell'schen 1914 und des Rutherford'schen 1925-Datums. Wie eben schon ausgeführt, war seine grundsätzliche Bereitschaft, daran zu glauben, vorhanden. Aufschlußreich sind auch seine diesbezüglichen Ausführungen in der "Pilgrim"-Ausgabe vom Mai 1931.

Binkele stellt es nun so dar, als habe Russell es seinen Anhängern freigestellt, ob sie an 1914 glauben wollten oder nicht. Diesbezüglich habe ich eine andere Einschätzung als Binkele. Wer an diese These nicht glaubte, dessen Bleibens war nicht in der Russellorganisation. Dort hatten sich sehr wohl jene konzentriert, für die diese These ein überdurchschnittliches Maß von "Glaubwürdigkeit" besaß. Also der apologetische Charakter, ist diesbezüglich auch bei Binkele nicht zu übersehen.

Immerhin zitiert Binkele aus einer englischsprachigen Publikation Russells, die offenbar auf den Anfang des Jahres 1914 zu datieren ist. Auch hierin wieder ersichtlich: Apologie. Die diesbezügliche Passage bei Binkele sei jetzt nachstehend zitiert:
"Bruder Russell war einer der bedeutendsten Schrifterforscher. Er glaubte aus der Prophetie und Chronologie die Wiederkunft Christi als Tatsache feststellen zu müssen und belehrte uns darüber. Er glaubte an das Eintreffen gewaltiger Ereignisse zu einer gewissen Zeit unseres Lebens. Aber doch erkühnte er sich niemals, solche Erkenntnisse als lebenswichtige Lehrsätze aufzustellen.

Da er ein Meister war der logischen Beweisführung, blieben seine biblischen Darlegungen für uns stets massgebend, obwohl er uns öfter ermahnte, seine Folgerungen nicht in allem für unbezweifelbar richtig zu halten; wir sollten selber prüfen lernen

Während er nun selbst auf das gewisseste überzeugt war, eben auf Grund der Folgerung, dass z. B. in 1914, am 'Ende der Zeiten der Nationen', das Reich Gottes aufgerichtet werde, wollte er diese Lehre doch nicht als ein 'Dogma' aufstellen. Als Beweis dafür übersetze ich hier einige seiner Worte aus einer längeren Abhandlung, die er im Jahre 1914 bei einer grossen Hauptversammlung gesprochen hat (Question Book, Seite 83; § 2):

'Nun, liebe Geschwister, es ist unsere Erwartung gewesen, dass diese Zeiten der Nationen mit dem gegenwärtigen Jahr, 1914, zu Ende gehen werden, und dass mit der Vollendung der Zeiten der Nationen sofort, augenblicklich, das Königreich Gottes anfangen wird, sich zu offenbaren. Das dies nicht richtig sein wird, kann ich noch nicht sagen. Es muss noch erwiesen werden. Vielleicht kann jemand beweisen, dass es nicht richtig ist. Wenn wir zum völligen Ende von 1914 kommen und nichts geschieht in der Folge jenes Zeitpunktes, was die Aufrichtung des Reiches Christi unter der Menschheit anzeigt, dann vielleicht werden wir die Dinge wiedererwägen müssen; bis dahin aber wird es für uns nicht notwendig sein, Ueberlegung anzustellen. Es steht dem Gegner zu, zu beweisen, dass es nicht so kommen werde.'

Das er nicht dogmatisch sein wollte, erhärten auch die nachstehenden Worte in Verbindung mit der Tatsache, dass wir uns nicht dem Herrn auf gewisse Daten hin geweiht haben, sondern bis in den Tod (Question Book, Seite 99, § 4, letzte Hälfte)

'Verkaufe alles, was du hast, um diese Perle zu besitzen. Da hast einmal deinen ganzen Willen verkauft und hast nichts dazu zu sagen, ob der Plan Gottes auf Oktober 1914 oder 1940 fällt. Es ist das Seinige.'

Wenn nun das gewaltige Bild des Planes Gottes, das unser Bruder wohl erkannt hatte, den zu kleinen Rahmen - man verzeihe den Verglich - gesprengt hat, weil er gewisse Einzelteile desselben auf einen etwas zu beschränkten Zeitraum berechnet hatte, wodurch Irrtum entstanden war - was verschlägt es letzten Endes? Wir konnten, wenn wir wollten, eine wichtige Lehre daraus ziehen. Wir können es heute noch …

Manche haben bei dem geborstenen, chronologischen Rahmen auch das 'Bild' selbst als unecht angezweifelt und vieles, wenn nicht alles, verworfen. Mich dünkt aber, in keiner bessern und durchgreifendern Weise hätte unser Herr 'dies grosse Volk' zu unserer Zeit auf Herz und Nieren prüfen können, als gerade durch diese Zulassung! Wir waren zu sicher geworden. - Als hätten zwar frühere Fortschritt, nicht aber 'wir', in der Zeitrechnung und ihrer Deutung irren können."


Auch Rutherford's 1925-Datum erlebte er mit. Diesbezüglich zeigt er sich in seinem Rückblick schon erheblich wortkarger und weiss dazu nur zu vermelden:

"Hätte man doch die Konsequenzen richtig gezogen! Aber nein. Elf Jahre später krachte der zweite chronologische 'Rahmen', und die Deutung des Zeitpunktes musste verblassen. So konnten wir nun nicht anders, nachdem wir uns zurückgezogen hatten, als eben 'wiedererwägen'; namentlich da wir nicht nur in unserer Erwartung in dieser Hinsicht getäuscht worden waren, sondern auch andere Dinge und Lehren in unserer vorigen Verbindung unsere Herzen immer mehr beschwerten."

Wie andere vor- und nach ihm, meint Binkele sich nunmehr auf die vermeintlichen "Zeichen der Zeit" zurückziehen zu sollen:

"Ich für meinen Teil, liebe Geschwister, habe, was Zeitrechnung betrifft., mich nur mehr auf ein strenges beachten der 'Zeichen der Zeit' beschränken lernen müssen, wollte ich zur innern Ruhe kommen und fortfahren auf das Eine nur zu sehen, was nottut zur Errettung

Wir dürfen aber gewiss sein, dass wir 'in den Tagen des Menschensohnes' leben. Dafür sprechen alle Zeichen; das Resultat unserer Prüfung der Vergangenheit und Gegenwart; dafür spricht der Geist der Zeit und seine Wirkungen, gemessen an den Worten der Weissagungen Jesu Christi und der Apostel. Die ganze Weltlage beweist es; alle wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, religiösen und politischen Zustände geben Zeugnis dafür.

Der gewaltige Unterschied in allen Verhältnissen, der sich seit 1913 und seit meinen Jugendjahren z. B. in Amerika vollzogen hat - zum Verderblichen vollzogen - ist so augenfällig, dass es für mich wie mit Riesenlettern am Himmel zu lesen stand, als ich voriges Jahr dort drüben war. Im 'Meer der Massen' der Bedrückten und Unzufriedenen wölben sich bedrohlich die Wogen … Wer ein Auge hat, zu sehen, bedarf wahrlich keines chronologischen Datums mehr, um zu wissen, was diese Zeichen sagen. - Nie zuvor in diesem Zeitalter sah man welche dieser Art."


Die Jahre mehrten sich. Die Reihen der Getreuen um Binkele lichteten sich. Der Hitlerismus mit seiner Betonung des vermeintlich "Heldischen", war inzwischen eine neue Zeiterscheinung geworden. Es ist nicht erkennbar, dass diese Zeitschrift, für deren Bezug in Deutschland eine Karlsruher Kontonummer mit angegeben war, ernsthafte Schwierigkeiten mit den neuen deutschen Machthabern gehabt hätte.

Es ist zweifelhaft, ob die sie überhaupt zur Kenntnis genommen haben. Eher wird man wohl davon ausgehen können, dass ihr Ende 1934 ein sanfter Tod beschieden war, weil die personelle - oder und - wirtschaftliche Decke für dieses Zeitschriftenprojekt zu dünn geworden war. Immerhin sei noch aus der Ausgabe Nr. 5/1933 zum Abschluß zitiert, weil diese Passage letztendlich auch eine indirekte Stellungnahme zum damals neuen Hitlerregime enthielt:

"Unsere Zeit ist für viele Geweihten sehr gefährlich. Viele, viele glauben Grund zu haben zu Zweifeln, den Glauben über Bord zu werfen. Fragen betr. die Chronologie, nicht eingetroffene Dinge, die man bestimmt erwartet hat, Fragen über die Gegenwart des Herrn, das Nichtausharren von Geschwistern im Herrn, Enttäuschungen an sich selbst, die Frage: Haben wir die ganze Wahrheit? endlich die menschliche Ungeduld, verschiedene Ansichten über die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden usw., das sind Dinge, die vielen zu schaffen machen.

Die letzte Frage betr. die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden wird heute weit herum diskutiert, nicht nur in gläubigen Kreisen. Weitherum findet man den Gedanken, dass der Mensch aus eigener Kraft sich so etwas wie ein Reich Gottes, von dem die Alten träumten, auf Erden herrichten werde. Andere lachten ganz einfach über den Gedanken eines derartigen Zustandes unter Menschen. Wiederum andere finden den christlichen Gedanken der Barmherzigkeit verächtlich und wollen nur der Kraft und der Macht, den menschlich Starken, Lebensrecht gelten lassen. Besonders heute wird das Heldische dieser oder jener Rasse, die von der Natur als besonders bevorzugt und zum Führen geeignet erscheint, hervorgehoben und mit grossen Worten glaubhaft und glaubenswürdig zu machen versucht.

Alle diese Kreise und Menschen rechnen indessen nicht mit dem Einen, dem Mittel in der Hand Gottes, durch welches allein Erlösung von allem Bösen für die Menschen kommen wird."

Pilgrim31 01

Schweizer Funktionäre

Siehe auch:

http://de.wikipedia.org/wiki/Conrad_C._Binkele

http://www.bibelgemeinde.at/Briefe%20an%20die%20Geschwister.pdf

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