Geschrieben von Drahbeck am 06. November 2003 06:14:46:
Als Antwort auf: Leserbrief "Ostsee-Zeitung"
geschrieben von D. am 05. November 2003 10:56:45:
In einem Leserbrief an die „Ostsee-Zeitung"
zitiert Herr Uwe L. (WTG)
aus dem Zeitzeugenbericht des Edgar Kupfer-Koberwitz aus dessen Buch Als Häftling
in Dachau". Unter der Überschrift Was sagen Augenzeugen" liest man da:
"Kennst du die Bibelforscher?" "Ja, ich kenne sie." "Siehst Du,
die gehen nicht in den Krieg, die lassen sich lieber töten, als daß sie einen anderen
Menschen töten. Ich glaube, das sind die wahren Christen. ... Sie trugen alles Brot
zusammen, was sie hatten, nahmen sich die Hälfte davon und legten die andere Hälfte
ihren Brüdern hin, ihren Glaubensbrüdern, die jetzt von Dachau kamen. Und sie
bewillkommneten sie imd küßten sie, und bevor sie aßen, beteten sie und nachher hatten
sie alle verklärte und glückliche Gesichter, und sie sagen, daß keiner mehr Hunger
hatte. Siehst Du, da habe ich mir gesagt: Das sind die wahren Christen, so habe ich sie
mir immer vorgestellt. Zitat aus "Schriftreihe der Bundeszentrale für Heimatdienst,
Heft 19, ALS HÄFTLING in DAUCHAU ... geschrieben von 1942 bis 1945 in Dachau von Edgar
Kupfer-Koberwitz, 1956", Seite 286/287.
Andere Zeitzeugenberichte werden von ihm offenbar als nicht zitierenswert angesehen.
Aber erst mal zu Kupfer-Koberwitz:
Der Bericht muss in seinem Kontext gesehen werden. Der darin Redende ist ein
junger tschechischer Jude der weiter aussagte, und dass zitiert Herr L. nicht:
"Als wir Juden von Dachau in den Block kamen, versteckten die anderen Juden, was sie
hatten, um nicht teilen zu müssen. ... Draußen (außerhalb des KZ) haben wir uns
gegenseitig geholfen, aber hier, wo es um Leben und Tod geht, will jeder sich zuerst
retten und vergißt den anderen". Und nach dieser Aussage wird dann zu den
Bibelforschern übergeleitet, die Neuzugänge im KZ die aus einem anderen Lager kamen
bewillkommneten. Und der zitierte Jude schließt seinen Bericht "Warum können wir
nicht so sein?" Zum Ausdruck kommt in diesem Bericht also eine positiv bewertete
Gruppensolidarität.
Es gibt aber noch andere KZ-Augenzeugenberichte, von Herrn L. ebenfalls nicht
zitiert. Der Schriftsteller Ernst Wiechert etwa, der in Buchenwald in engem Kontakt mit
den Bibelforschern (Zeugen Jehovas) war etwa äußert über sie in seinem Buch "Der Totenwald":
Dumpfe, holzgeschnittene Gesichter hinter Brillengläsern, mit asketischen Lippen
und der leisen, beschwörenden Stimme von Eiferern. Gesichter, die aus derselben Enge,
derselben Not und derselben Verheißung geprägt schienen und von denen Johannes (das ist
Wiechert) sich gut denken konnte, dass sie mit unbewegtem Antlitz zusehen würden, wie
alle Ketzer auf einem langsamen Feuer in die ewige Verdammnis hinüberbrieten."
Bezogen auf die Ideologiegrundlage äußert er: Was nun allerdings bei näherem
zusehen auf dem Grunde dieser Weltanschauung lag, war so beschaffen, dass es sich jeder
ernsthaften Diskussion völlig entzog. Wer bis auf das Jahr genau weiß, wann diese Welt
erschaffen wurde, und fast ebenso genau auch das Jahr, wann sie zugrunde gehen wird
mit dem ist schwer zu disputieren und noch schwerer zu rechten, weil ein anderes
Zeitalter, ja ein anderer Stern unter seinen Füßen zu legen scheint."
Sein abschließendes Urteil fasste er in die sinngemäßen Worte: Das man sie achten und
zugleich doch auch bedauern kann. Das ihr verhalten auf dem Boden eines Dogmas beruht,
dass mit dem theoretisch denkbaren Dogma" vergleichbar sei, nur Gras als
Nahrung" zu essen. Man konnte sie alle achten, aber man musste sie auch alle
bedauern. Der Märtyrer, der für den Glauben stirbt, dass man nur Gras essen dürfe (im
übertragenem Sinne), begibt sich des Heiligenscheins um seine Stirn."
Heinrich Christian Meier etwa bewertet in seinem KZ-Bericht über das Lager Neuengamme,
wie auch andere, dass menschliche Verhalten der Bibelforscher im KZ als positiv. Er macht
aber die Einschränkung: Besonders vorzuwerfen ist ihnen lediglich, dass sie
gegenüber den nicht zugehörigen Häftlingen von einer gleichgültigen Kälte waren, die
wie eine Mauer schützend und drohend um ihre Gemeinschaft aufgerichtet war. Es gelang
niemals jemandem, in die Gemeinschaft der Bibelforscher aufgenommen zu werden, es sei
denn, dass er sich selbst zu den Lehren der Bibelforscher bekannt hätte."
Auf ein Beispiel menschlichen Versagens kommt der Katholik Johann Neuhäusler zu
sprechen. Sein Vorwurf ist auch in der grundsätzlichen Aversion der Bibelforscher gegen
die katholische Kirche zu sehen. Neuhäusler schrieb in seiner damaligen Eigenschaft als
katholischer Priester: Darum durfte ich im KZ Dachau eine Woche lang nicht mehr zur
Erholung ins Freie, weil ich einem Italiener in seiner Zelle die Beichte abnahm, ein
Bibelforscher mich aber verriet, obwohl ich ihm viel Gutes getan hatte."
In ähnlichem Sinne äußert sich der evangelische Bischof Hans Lilje (der wegen dem
20. 8. 1944 verhaftet worden war, und im Gefängnis die Bibelforscher kennenlernte). Sein
Votum enthält auch die Sätze:
Wegen ihrer absoluten Wahrheitsliebe benutzte die Gestapo sie sehr gern in den
verschiedenen Gefängnissen als Kalfaktoren, denn in ihrer Wahrheitsliebe gingen sie stets
so weit, dass sie auch die Grenze der Kameradschaftlichkeit nicht gelten ließen. So war
es für die Gestapo leicht, mit ihrer Hilfe die anderen Gefangenen zu
beaufsichtigen."
Das nach 1945 mit am bekanntesten gewordene KZ-Buch ist das von Eugen Kogon Der
SS-Staat". Es beschränkt sich nicht auf einzelne Lager, sondern versucht eine
Gesamtschau zu bieten, in deren Rahmen auch die Bibelforscher berücksichtigt wurden. Sein
Gesamturteil fasst Kogon in die Worte: Das sie gleichwohl die Kraft hatten, für
ihre isolierten paar scharfkantigen Glaubensdiamanten in jedem Augenblick nicht nur das
Leben hinzugeben - was im Kollektiv zuweilen nicht einmal gar so schwer fällt -, sondern
statt dessen auch die lange Kette täglicher kleiner Vorteile, an denen unser armes
Menschenherz oft inniger hängt als am Ganzen, zu opfern."
Margarete Buber-Neumann etwa formulierte, dass sie eine auffallende Ähnlichkeit
in der Geisteshaltung der Bibelforscher und Kommunisten" feststellte. Zusammenfassend
sagt sie:
Die einen eiferten zu Ehren Jehovas, die anderen zu Ehren Stalins. Die einen
forschten heimlich in der Bibel und stellten deren Inhalt, solange auf den Kopf, bis er
sich zu ihren gewünschten Prophezeiungen umbiegen ließ. Die anderen hielten an Hand von
Nazizeitungen heimlich Schulungskurse ab, machten aus schwarz weiß oder besser gesagt rot
und entnahmen den Nachrichten das, was sie wünschten, nämlich eine Bestätigung vom
baldigen Ausbruch der kommunistischen Revolution."
Ihr Gesamturteil kann man vielleicht am besten mit der Bemerkung wiedergeben:
Dadurch, dass sie Bibelforscher wurden, hatte sich ihre Stellung mit einem Schlage
gewandelt. Aus Unterdrückten, dienenden, mit dem harten Schicksal unzufriedenen Menschen
wurden sie zu 'Auserwählten' erhoben. Ihr einstmaliger Groll gegen die ihnen persönlich
widerfahrenen Ungerechtigkeiten verwandelte sich in Hass gegen alles, was nicht zu ihrer
Glaubensgemeinschaft gehörte."
Zu dem von Herrn L. mit angeführtem Fakt der Wehrdienstverweigerung, ist meines
Erachtens auch das Urteil der Kommunistin Lina Haag von Bedeutung, die in ihrem
KZ-Rückblick auch über den Dialog den sie mit einer Bibelforscherin auf ihrem
gemeinsamen Transport ins KZ führte berichtet. Haag: Ihr verweigert den
Kriegsdienst sage ich. Gut. Aber ist damit das Elend aus der Welt geschafft? Nein. Wofür
geht ihr in den KZ zugrunde, für die Menschheit oder für Jehova? Für Jehova natürlich.
Nicht für die hungernden Kinder, sondern für die Bibel. Ihr seid genau so wie die alten
Märtyrer.
Du opferst dich ja auch, sagt sie. Gewiss sage ich, aber nicht für den
lieben Gott und nicht für Jehova, sondern für die Menschen. Sie sagt nur: Schade, du
bist nicht im Glauben. Nein sage ich, ich bin nicht im Glauben, ich will auch gar nicht im
Glauben sein. Mir ist wichtiger, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und für ein
erträgliches Leben zu kämpfen."
Abschließend sei vielleicht noch der Sozialdemokrat Benedikt Kautsky zitiert, der da
äußerte:
"Die Korrektheit und Zuverlässigkeit war ihnen (den Bibelforschern) so zur zweiten
Natur geworden, dass sie auch im Lager sie nicht ablegen können. Das hatte die
unangenehme Nebenwirkung, dass sie als Vorarbeiter oft die ihnen von der SS erteilten
Aufträge zu pünktlich ausführen wollten. Aber im übrigen habe ich nie einen
Bibelforscher gegen einen andern Häftling grob oder gar handgreiflich werden sehen. Sie
waren im allgemeinen hilfsbereit, vornehmlich natürlich zu ihresgleichen."
Dies alles ergibt ein differenzierteres Bild. Sich dabei nur Rosinen
herauszupicken ist eine wenig hilfreiche Sache, die zwar das "schmoren im eigenen
Saft" der Zeugen Jehovas bestätigt, den historisch Interessierten jedoch nicht
zufriedenstellen wird.
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