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Geschrieben von P am 02. Februar 2003 22:00:44: Der große Bruder hat immer recht Alles um mich herum schien in Auflösung. Das Reich Gottes, nach dem ich mich so sehr gesehnt hatte, kam nicht. Mein Aufwachsen in einem autoritären Elternhaus und einem noch stärker autoritären System hatte schon in früher Jugend dazu geführt, dass ich mich minderwertig fühlte. Ich sei ein Pharisäer, hatte mein Lehrer gesagt, weil ich damals vor Schulbeginn nicht die Messe besucht hatte. Mein Schwager hatte behauptet, ich sei dumm und würde es im Leben nicht weit bringen. Und jetzt verbreitete die Leitung der Wachtturmgesellschaft, dass ich ein schlechter und aufrührerischer Mensch sei, einer, der die Versammlung mit falschen, egoistischen Motiven führte. Ich fühlte mich innerlich ganz zerrissen. Ich war so gerne in der Versammlung, so froh mit allen Menschen dort und es gab mir große Befriedigung, andere zu trösten und zu unterweisen. Es machte mich froh, einem Menschen aus der Gosse helfen zu können. Mehrmals hatte ich das Glück, solche Menschen der Organisation zuzuführen. Aber, dachte ich, da alle gegen mich sind, haben sie vielleicht Recht, dass ich ein schlechter Mensch bin. Entweder die Organisation ist verrückt, oder ich bin es. Andere Alternativen gab es einfach nicht. Wieder ein Beispiel angewandter Psychologie. Strafe durch die Leitung. Wer nicht macht, was er aufgetragen bekommt, wird bestraft. Diese Strafe ist hart und wird von den Zeugen Jehovas sehr gefürchtet. Aber da alle geschlossen gegen mich waren und mich in den kritischen Augenblicken allein ließen, erfuhr mein früher so aktives Dasein ein jähes Ende. Ein Gefühl der Verlassenheit und der Mattigkeit überkam mich. Ich musste mich krankmelden, da ich das Gefühl hatte, bei allem, was ich tat, gebremst zu werden. Ich wollte so gerne, aber kam nicht vom Fleck. Die trübe Stimmung übertrug sich auch auf meine Ehe und die Kinder. Ich begann zu merken, dass ich die Stimmung zu Hause zerstörte und ich machte mir Vorwürfe, dass ich vielleicht nicht die rechte Liebe zu meiner Frau und den Kindern hatte. Es musste für sie sehr anstrengend sein, mit einem Mann und Vater zusammenzuleben, der aufrührerisch war und sich nicht nach den theokratischen Geboten der Organisation richtete -- dachte ich. 10-30 Stunden Arbeit für die Wachtturmgesellschaft pro Woche bedeuten einen Kampf mit der Zeit! Jawohl, sie hatten Recht, alles war meine Schuld. Ich verdarb die Stimmung zu Hause und
war mit meiner Familie nicht mehr froh. Es wäre wohl besser gewesen, wenn ich nicht mehr
existiert hätte. Mich überkam große Angst und ich konnte fast nicht mehr schlafen. Nach
wenigen Stunden Schlaf erwachte ich, oft mit großer Furcht. Die Gedanken gingen ständig
in die Vergangenheit zurück und ich dachte über alle Fehler nach, die ich in der
Versammlung oder sonst im Leben begangen hatte. Niemals hatte ich etwas wirklich
Wertvolles geleistet. Für alles, was ich getan hatte, musste ich der
Wachtturmgesellschaft dankbar sein. Allein war ich ein Nichts, ein unvollkommener Mensch,
der sich in keinster Weise ohne Gottes Organisation zurechtfand, der allein seinem An das Heute zu denken, war ein Alptraum. Ein Zeuge Jehovas, der sich nicht der theokratischen Regierung unterordnen wollte und der auf Grund von unabhängigem Denken degradiert werden musste, das zeugte von Stolz, der natürlich direkt vom Satan kam, da er ja auch Adam und Eva zu unabhängigem Denken verleitet hatte. Wenn es regnete, war ich unglücklich und wenn schönes Wetter war, war ich noch unglücklicher. Ich konnte nicht länger irgend etwas schön finden. Jedes mal ging es schief, wenn ich etwas machte. Nein, ich musste noch lernen, in Zukunft still an die Türen zu gehen und zu versuchen, nicht mit einer aufrührerischen Einstellung aufzufallen. Die Gesellschaft hatte erreicht, was sie wünschte. Ich empfand es als meine Schuld, ich war derjenige, der versagt hatte, Der Fehler lag bei mir, ich begriff nicht, was zu meinem Besten war. Der Zusammenbruch stellt sich ein Nachdem ich einige Monate krankgeschrieben war, sagten einige mitfühlende Menschen in
der Versammlung zu mir, ich sei nicht nur aufrührerisch, sondern auch faul. Nicht nur
das, ich simuliere auch meine Krankheit. Ja, dachte ich, damit habt ihr recht. Ich gehöre
nicht zu denen, die in die neue Welt' passen. Es war ein vollständiger Zusammenbruch -
Mehrere Jahrzehnte hatte ich ein Doppelleben geführt, mit bis zu 30 - Wenn ich alles, was ich gemacht hatte, aus Opposition gemacht hätte, dann wäre das Leben nicht mehr lebenswert, da dann ohnehin ein fürchterliches Schicksal mit totaler Zerstörung in Harmagedon auf mich wartete. Mit dem, was ich für die Versammlung getan hatte, waren mein eigener Verstand und mein
Herz zufrieden, nicht jedoch die Wachtturmgesellschaft. War mein Zweifel, der auf Grund
fehlgeschlagener Prophezeiungen entstanden war, unbegründet, unberechtigt? Wie konnte ein
gerechter Gott hinter all diesen harten und unbarmherzigen Regeln, Gesetzen und Geboten
stehen, welche die Organisation kennzeichneten? Als ich krankgemeldet wurde, überwies mich mein Arzt an einen Psychiater. Ich erzählte diesem von meiner Verzweiflung und sagte frei heraus, dass ich ernsthafte Pläne hätte, mir das Leben zu nehmen. Nur die Gedanken an die Tragweite für meine Frau und meine Rinder hätten mich bisher davon abgehalten, die Pläne auszuführen, aber ich wüsste nicht, wie lange dieser Zustand so fortgesetzt werden könnte. Er verschrieb mir sofort Antidepressiva und im Laufe einiger weniger Wochen bekam ich eine Tagesdosis von 225 mg Tofranil und 75 mg Nozinan. Einige Älteste versuchten, mit mir über den Gebrauch der Medizin zu sprechen. Sie sagten, es könnte gefährlich sein, diese zu nehmen. Sie betrachteten Antidepressiva als eine Art Narkotika und behaupteten, sie könnten ein Katalysator für Verbindungen mit Dämonen sein. Im Übrigen waren sie nicht damit einverstanden, dass ich bei einem Psychiater Hilfe gesucht hatte, da man zufolge der Wachtturmgesellschaft sich vor diesen hüten müsse Das machte natürlich meinen schon hoffnungslosen Zustand keineswegs besser, ich wurde zusehends apathischer. Hier wird noch ein Mittel der Gedankenkontrolle demonstriert: die Schaffung von Schuldgefühlen um jeden Preis. Alle Fehler, alle Enttäuschungen kommen daher, dass die betreffende Person selbst etwas falsch macht. Sie hat zu wenig Wertschätzung, zu wenig Liebe, zu wenig Verständnis usw. Noch eine Gemeinsamkeit von Kulten wie der Meon-Kirche, den Mormonen, der Krishna-Bewegung, den Kindern Gottes und den Zeugen Jehovas. In der psychiatrischen Klinik versuchten die Therapeuten, alles Mögliche über mein Leben herauszufinden. Ich berichtete ihnen von einer schwierigen Kindheit und Jugend, von Problemen um die Krankheit meiner Mutter, von meinem Aufenthalt im Kinderheim usw. Aber sobald ich merkte, dass sie versuchten, das Gespräch auf die Zeugen Jehovas zu lenken, sagte ich immer, dass das Problem unmöglich dort liegen könnte Ich war erzogen, nie etwas Unvorteilhaftes über Jehovas theokratische Organisation zu sagen. Immer sollte man Jehovas Namen heilig halten, nie Schmutzwäsche waschen, das hatte ich gelernt. Die Menschen machen Fehler, aber die Organisation wird von Gott geleitet. Ich hatte Angst, dass ich mich selbst zum Tode verurteilte, wenn ich etwas über diese Dinge erzählte. Das hatte ich gelernt und andere gelehrt, das würde das Ergebnis sein, wenn man die Gebote der leitenden Körperschaft bräche. Da saß ich nun monatelang und erzählte immerfort, aber über die wirkliche Ursache
meines Zustandes sprach ich nicht. Ich versuchte, die Psychologen und Psychiater
irrezuleiten, weil ich fast 40 Jahre dazu angehalten wurde, dass Außenstehende nichts vom
geheimen inneren Leben der Organisation wissen durften. Obschon ich zweifelte und über
fehlgeschlagene Versprechungen vom Reiche Gottes frustriert war, war ich immer noch ein
indoktrinierter Mensch, der nicht wusste, wohin er sich wenden sollte und der keinen
Ausweg aus seinen Problemen sah. Der einzige sichere Weg war der, in der Organisation zu
bleiben -- koste es Die Organisation wird in der Literatur ständig mit der Arche Noah verglichen;
außerhalb der Arche gibt es nur Tod. Es gab keinen Ort, wohin ich gehen konnte. Als mir
jetzt auf Grund meiner aufsässigen Haltung meine Stellung als vorsitzender Ältester in
der Versammlung genommen wurde, begannen Geschwätz und Gerüchte sich wie nie zuvor zu
verbreiten. Ich wurde mit Argusaugen überwacht und begegnete vorwurfsvollen Blicken,
wohin ich mich auch wandte Ich konnte daher keine Hilfe oder Verständnis von meinen
eigenen Leuten erwarten, ebenso konnte ich meine Frustration nicht bei Ärzten und
Psychologen loswerden. Um mir die geringste Hoffnung zu machen, Harmagedon zu überleben,
musste ich in der Organisation bleiben, was aber auch bedeutete, dass ich mich mit der
Organisation vertragen musste. Es gab keine andere Lösung, als sich den Bedingungen und
dem Willen der Organisation zu beugen. Der große Bruder in Brooklyn hat immer Recht. Wie schon erwähnt, bekam ich in dieser Zeit eine große Dosis Medikamente. Diese betäubten mich so, dass ich viel schlief. Mit der Zeit wurde ich ruhiger, aber es dauerte etliche Jahre, bis ich begann, mich besser zu fühlen. Ich hatte akzeptiert, dass das Ganze mein Fehler war. Auch wenn mir das Menschenbild der Zeugen Jehovas nicht gefiel, so sehnte ich mich doch danach, meinen Mitmenschen zu dienen. Ich verdrängte meine Gewissensprobleme in diesem Punkt und nahm an, dass die Probleme aus meinem mangelnden Verständnis erwuchsen, Eigene Normen, Gesichtspunkte und Wertbegriffe zählten nicht. Die Rechtfertigung des Namens Jehovas hatte Vorrang und die Persönlichkeit musste völlig geopfert werden. Das begriff ich jetzt und als Dank gewann ich die Gunst der Wachtturmgesellschaft zurück und wurde wieder als loyaler Bruder angesehen. Ich wurde wieder zum Diener und Ältesten ernannt und war voll im Dienst. Jetzt sollte ich das wieder aufholen, was ich in der Zeit meiner Krankheit versäumt hatte. Es sollte sich später zeigen, dass es die letzte Versammlung in der Organisation der Zeugen Jehovas war, in der ich Glied sein sollte. Für Außenstehende ist es vielleicht ganz unverständlich, dass ich meine Identität aufgab, aber für mich war es eine Frage auf Leben und Tod. Durch den äußerst raffinierten Indoktrinierungsprozess der Wachtturmgesellschaft wurde mir ewiges Leben auf einer paradiesischen Erde ohne Krieg und Elend vorgespiegelt. Daran glaubte ich wirklich! Da ich mich nicht in der Bibel auskannte, als ich den Zeugen Jehovas zum ersten Mal begegnete, war es nicht schwierig für sie, mich zu manipulieren. Mit Hilfe einer Kombination von Bibelstellen indoktrinierten sie mir die Auffassung, dass Gott eine Organisation auf Erden habe, die von der sogenannten leitenden Körperschaft in Brooklyn, New York, geführt werde. Sie schilderten mir ein Glanzbild der Organisation der Zeugen Jehovas, wobei sie die Wachtturmorganisation bewusst ein geistiges Paradies nannten und behaupteten, die Zeugen Jehovas seien die glücklichsten Menschen auf Erden. Das Schlimmste daran ist, dass alle Zeugen Jehovas dies glauben! Vielleicht nicht deshalb, weil sie selbst immer so glücklich sind, denn sowohl die Welt als auch sie selbst sind unvollkommen. Aber der Gedanke daran, wie schlimm es der Welt ergehen wird, die nicht das Licht von Gottes Organisation hat, ist deshalb um so erschreckender für sie! Dass ein Mensch Nervenmedizin nehmen muss, um von Tür zu Tür gehen zu können, schwächt nicht seinen Glauben daran, dass er wirklich in einem geistigen Paradies lebt. Dies sagt wiederum viel darüber, welche mentale Kontrolle die Wachtturmorganisation über ihre Mitglieder ausübt. Ich glaubte, dass alle Textstellen und Bibelzitate, welche die
Wachtturmgesellschaft benutzte, wie ein Puzzlespiel zusammenpassten. Für mich sah es aus,
als ob sie für alles handfeste Beweise aus der Bibel hätten und alles wirkte sehr
glaubwürdig. Viele Zeugen Jehovas hatten wie ich, ähnlich enttäuschende Erfahrungen mit
den etablierten Kirchen und mit der übrigen Gesellschaft gemacht. Es gab daher viele
Gemeinsamkeiten zwischen mir und den anderen Versammlungsmitgliedern. Die Organisation des
Wachtturms hatte es geschafft, mein Bewusstsein mit unsichtbaren starken Tauen zu binden
und zu knebeln. Sie machte mich brennend an etwas interessiert, was sich später als
katastrophaler Wahn erwies. Eine Verführung von gigantischen Dimensionen.
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