Re: 8. 9. 1956 (Vor fünfzig Jahren)


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 08. September 2006 07:17:16:

Als Antwort auf: Re: 1. 9. 1956 (Vor fünfzig Jahren) geschrieben von Drahbeck am 01. September 2006 06:10:16:

Im Gulag-Lager Workuta (Sibirien, im hohen Norden der vormaligen Sowjetunion) wurde laut Bericht von "Erwachet!" (8. 9. 1956) zeitgenössisch die Zahl der Zeugen Jehovas auf 122 und im ganzen Strafgebiet Workuta auf 1800 beziffert.
Das alles "verpackt" in einem für die Mentalität der Zeugen Jehovas beflügelnden Artikel mit der Überschrift:
"Ich fand Glauben an Gott in einem russischen Zwangsarbeitslager. Von einem repatriierten deutschen Staatsangehörigen".

Entsprach die Nazi-KZ-Politik weitgehend dem Grundsatz: "Vernichtung durch Arbeit", so galt für die russischen Gulag-Lager weitgehend ähnliches. So es "Abstufungen" in diesem Vergleich gibt, sind sie doch wohl eher als marginal zu bewerten. Da gibt es nichts zu beschönigen. Das einzelne Menschenleben war für beide Regime ein "Nichts".

Da lernt also ein Deutscher (offenbar ein Kriegsgefangener) im genannten Gulag-Lager auf spektakuläre Weise die Zeugen Jehovas kennen. Die dortigen Arbeitskolonnen, im Bergbau eingesetzt (draußen herrschen sechzig Grad Minus, was schon mal die gefürchteten dortigen Rahmenbedingungen veranschaulicht). Da lernt also ein Deutscher in seiner wild zusammengewürfelten Strafbrigade (Kennzeichen: babylonisches Sprachgewirr. Fast keiner versteht die Sprache des anderen) einen Zeugen Jehovas kennen. Auf erst einmal unerfreuliche Art. Seine Strafbrigade weist eines Tages beim "abzahlen" einen zu wenig auf. Es stellt sich heraus, der ist aus "politischen" Gründen verhaftet worden. Sein "Vergehen". Bei einer "Filzung" wird bei ihm eine Bibel beschlagnahmt. Er erklärt daraufhin in den Streik zu treten, bis er selbige wieder zurückbekommt. Das mit dem "zurückgeben" war dann wohl nichts. Sowjets und Nazis die man sehr wohl dabei im gleichem Atemzug nennen kann, pflegten solche Art von Aufmüpfigkeit auf ihre spezifische Art zu "lösen".

Für die Verbliebenen der Strafbrigade hatte das aber zur Folge, dass sie ihr Arbeitssoll (stets hochgeschraubt) nicht mehr erfüllen konnten. Das wiederum war für die russischen Apparateschicks "Sabotage". In dieser Zwickmühle befand sich nun auch der Deutsche (der zugleich Kolonnenführer war). Ein Wort ergab das andere. Und er solidarisiert sich mit dem verhafteten Opfer (Solidarisierung aus der Motivation heraus, wie das Problem der Norm-Untererfüllung wieder gelöst werden können). Jetzt verstehen Sowjets und Nazis (der Vergleich ist durchaus passend) erneut keinen Spaß. Der dortige Kerker bekommt einen zusätzlichen Bewohner. Eben den genannten Deutschen. Dort nun lernt er die Geschichte jenes ukranischen Zeugen Jehovas erstmals richtig kennen.

Als der Krieg ausbrach, bekam der Vater des Ukrainers den Stellungsbefehl zum einrücken in die Armee. Zum vorgesehenen Zeitpunkt verlässt er auch das Haus. Jedoch kommen am nächsten Tag die Geheimdienstbeamten ihn suchen. Sie finden ihn (vorerst) nicht. Es stellt sich heraus. Der Gesuchte hauste von da ab versteckt in einem Erdloch. Einige Zeit geht dieses Versteckspiel gut. Dann wird auch er erwischt. Zu den Kriegswirren gehört auch der Umstand, dass jene Gebiete zeitweilig unter deutsche Fremdherrschaft gerieten. Dann wieder erneut russisch wurden. Erst im Jahre 1953 sollte der Ukrainer seinen Vater wiedersehen. Allerdings sehr kurz nur, unter bedrückenden Rahmenbedingungen. Der Jugendliche hatte aufgrund seiner Biographie auch die Religion seines Vaters angenommen.

Zitat:
"Da, im Mai 1953 wurde ich bei der Arbeit festgenommen und nach Minsk gebracht. Nach dreimonatiger Untersuchungshaft kam ich vor Gericht. Dort fand ich auch Vater, Mutter und Schwester auf der Anklagebank. Die Anklagepunkte waren bei allen die gleichen: 'Vorbereitung zum Hochverrat' und 'Mitarbeit im Nachrichtendienst einer fremden Macht'.
für Vater lautete das Urteil Verbannung nach Sibirien auf Lebenszeit, für Mutter 20 Jahre und für die Schwester 15 Jahre Zwangsarbeit, und ich erhielt 10 Jahre."

Fazit. Das Leben auch dieser Familie wurde von den Sowjets-Nazi zerstört, im sehr buchstäblichen Sinne. Das für sie die Religion nun erst recht zum Strohhalm-Anker wurde, kann man durchaus nachvollziehen. Wenn die Zahl der heutigen Zeugen Jehovas auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion als beachtlich einzuschätzen ist. So hat mit Sicherheit, die frühere Politik der Sowjet-Nazi ihren Anteil daran. Wesentlichen Anteil daran.
Weiteres Fazit. Parteien, namentlich mit relativer "Hausmacht" auf ostdeutschem Territorium, in der die "Gestrigen" nach wie vor präsent sind, werden für mich daher unwählbar bleiben. Wer sich nicht dazu bekennen kann, einen klaren und unzweideitigen Trennungsstrich zur früheren Sowjet-Nazi-Politik zu ziehen. Der sollte (eigentlich) nichts anderes verdienen!

Allerdings ebenso unwählbar bleiben (für mich) jene Parteien, für welche die Herren Theologieprofessoren der Berliner Humboldt-Universität sich berufen fühlten, zwei Wochen vor der Berliner Wahl, eine "Wahlempfehlung" auszusprechen.

In ihrem die Sowjetunion bezüglichen Video, stellt die WTG auch einige Zeitzeugen vor. Unter anderem einen Herrn Nikolaj Dubowinski. Der lebte auch in buchstäblichen Erdlöchern (respektive Bunkern). In diesem Falle aus dem Grunde, weil er dort WTG-Literatur vervielfältigte. Irgendwann wurde auch er erwischt, zum Tode verurteilt (später Urteilsumwandlung zu 25 Jahren Straflagern).

http://www.manfred-gebhard.de/Dubowniski.jpg
Herr Dubowniski

Liest man solche Berichte, kommt man nicht umhin "Farbe zu bekennen". Das gleiche WTG-Video zitiert auch eine Grundsatzaussage von Lenin, der da gemäß WTG-Aussage einmal erklärt haben soll:
"Jede religiöse Idee, jede Idee von einem Gott, selbst jedes kokettieren mit einem Gott, ist eine unsagbare Abscheulichkeit, die gefährlichste Torheit, die schändlichste Infektion."
Welche Konsequenzen aus der Lenin'schen Prämisse abgeleitet wurden, kann man "plastisch" auch am Falle Dubowinski ablesen.

Eines gilt es jedoch festzustellen, wie immer man auch zu der Aussage von Lenin steht. Die diesbezügliche Politik darf auf keinen Fall "kurzatmig" gesehen werden. Sie muss unter langfristigem Aspekt bewertet werden. Und dieser langfristige Aspekt lehrt, dass genau das, was Lenin und die Seinigen durch ihre Politik "verhindern" wollten. Das genau das letztendlich von ihnen befördert wurde.

Man mag viele Vorbehalte der WTG gegenüber haben. Aber zu diesem Beispiel Sowjetunion gilt es ein klares, und unzweideutiges. So nicht! zu sagen!
Zu den Kirchenpolitischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion kann man beispielsweise in der 1947 im "Verlag der sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland" erschienenen Schrift von O. Fjodorow "Die Religion in der UdSSR" auch den "denkwürdigen" Satz lesen:

"Wie vorsichtig, überlegt und taktvoll die Politik der Sowjetmacht in dieser religiösen Frage ist, zeigt auch die sowjetische Gesetzgebung über das Verfahren zur Schließung von Kirchen, Synagogen, Moscheen.
Die Sowjetbehörden gestatten die Schließung von Gotteshäusern nur, sofern die Gläubigen selbst es fordern ..."

Das rekapituliere man sich nochmals. Eine Schrift, welche die kirchlichen Verhältnisse der Sowjetunion in "rosaroten" Farben darstellen will, stellt das Verfahren von Kirchenschließungen als "taktvoll" hin.

Weiter liest man in dergleichen Schrift: (S. 37)
"Insgesamt wurden von den religiösen Organisationen und der Geistlichkeit viele Dutzende von Millionen Rubeln für die Verteidigung des Landes gespendet (zweiter Weltkrieg).
Bei der Überweisung der gesammelten Summen an die Sowjetbehörden wandten sich die Gläubigen mit feierlichen Zuschriften an den Führer des Sowjetvolkes, J. Stalin ..."

Da kann man als Kommentar nur sagen. Unter solchen Rahmenbedingungen, wurden die Menschen ja geradezu animiert in Opposition zum herrschenden Regime zu treten.
Die Zuwächse der Zeugen Jehovas zu damaliger Zeit, sind im wesentlichen als Ausdruck politischer Opposition in religiöser Verklärung zu werten. Und was die Zuwächse in der Nach-Sowjetunion-Zeit anbelangt, weitgehend auch noch die Nachwirkung, eines durch und durch morschen Regimes. Wobei die neue "Heilslehre" des Manchester-Kapitalismus, ein übriges tut, Menschen den einzigen Ausweg nur noch im religiösen Opium sehen zu lassen. Und was die davor liegende Phase anbelangt, wo dieses Opium verpönt war. Ein "Entzug" ist nur dann wirksam, wenn das Bedürfnis nach dem Stimulans-Mittel echt überwunden ist. Ist das nicht der Fall, sind Rückfälle vorprogrammiert. Das religiöse Opium wurde zu Sowjetzeiten durch etwas weit schlimmeres ersetzt. Durch die staatlichen Geheimdienststrukturen auf allen Ebenen. Ohne diese Geheimpolizei als eigentliche Staatstütze, wäre dieses Regime schon viel früher zusammengekracht.

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