Geschrieben von Drahbeck am 11. November 2001 18:08:01:
Gelesen in der CV 75
Erst war Annegret Kohler froh, dann war sie ehrlich erbost. Jahrelang hatte man von ihr
einen wöchentlichen "Verkündiger-Felddienst-Bericht" gefordert. Nun sollte er
plötzlich nicht mehr nötig sein. Jahrelang hatte sie sich über diese wöchentliche
Kontrolle geärgert. Jetzt war der Druck fort aber Annegret Kohler, deren Name aus
verständlichen Gründen geändert worden ist, fühlte sich mit einem Male jahrelang
genasführt.
Einmal hatte sie sich alles von der Leber geredet. Ausgerechnet bei mir, obwohl sie
wußte, daß ich für meine Landeskirche als Sektenbeauftragter tätig bin. "Diese
ständige Kontrolle ist wie ein ständiges Mißtrauen", hatte sie geklagt. "Das
haben wir doch nicht verdient". Und jetzt, wo der eine ärgerliche Kontrollzettel
weggefallen war, da ärgerte sie sich noch mehr als zuvor.
Ich weiß bis heute nicht genau, warum Annegret Kohler mich immer besucht. Eigentlich
darf sie gar nicht, denn meine Wohnung gehört nicht in ihr "Gebiet". Sie ist
aus einer ganz anderen Versammlung. Alles, was man Annegret Kohler beigebracht hat, nimmt
sie folgsam auf. "Der treue - und verständige Sklave kann sich nicht irren. Das
steht doch in der Bibel". Als ich ihr erwidere, daß die Bibel damit bestimmt nicht
die Wachtturmgesellschaft in Brooklyn meine, antwortet sie leicht verstört: "Aber
die Kirche kann es doch nicht sein".
Einmal hat mich Annegret K. einen Blick in ihr kleines persönliches Notizheft tun lassen.
Es ist der Bericht vom "Haus-zu-Haus"-Dienst, von einem dornigen treppauf,
teppab. Manchmal überschlägt Annegret auch eine Wohnungstür. Nur ein Mann im ganzen
Gebiet hört ihr länger zu. Vielleicht hat sie auch die Gespräche mit mir dankbar als
Missionsgespräche eingetragen.
Es sind im Grunde genommen arme Zeitgenossen. Sie glauben bedingungslos, was aus dem
Brooklyner oder Wiesbadener "Bethel" kommt. Sie stehen unter ständigem Druck
und hoffen auf das "Ende dieses Systems der Dinge" und die Neue Welt für Zeugen
Jehovas und sogenannte "Menschen guten Willens". Zu diesen Gutwilligen gehört
jeder, der den Anhängern der Wachtturmlehren nicht unfreundlich gegenübersteht.
Nur wer etwa der Meinung ist, daß hier eine Gruppe von über einer Million Gutgläubiger
durch einen Schriftenherstellungs- und verkaufskonzern mißbraucht wird, wer meint, daß
hier eine unverantwortliche Clique von Machthabern selbst den Tod ihrer Anhänger in Kauf
nimmt, wenn sie ihnen beispielsweise die Bluttransfusion verbietet, wer daran zweifelt,
daß eine Aktiengesellschaft mit dem Firmenzeichen des Wachtturms Gottes Willen vertritt -
er wird vom theokratischen Gewalttäter "Christus" in Harmagedon zur höheren
Ehre Jehovas und zur Bestätigung der Wachtturmlehren "endgültig vernichtet".
Glücklicherweise hat das ganze System einen Fehler: Gott läßt uns
seinen Willen nicht durch die Wachtturmbrille, sondern durch die Bibel erkennen. Und
derzufolge ist Christus kein Endzeit-Terrorist, sondern unser Fürsprecher und Heiland.
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