Re: Der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 07. Mai 2006 07:43:42:

Als Antwort auf: Re: Wie schmeckt der Hut? geschrieben von Drahbeck am 06. Mai 2006 05:34:54:

Gemäß eigener Aussage, erlitt Joseph Wilting auch einen Nervenzusammenbruch, der zur Folge hatte, drei Wochen lang in einer psychiatrischen Klinik eingeliefert worden zu sein, mit nachfolgender noch ambulanter Behandlung. Als treuer Zeuge Jehovas, wie er sich selbst so sah, versuchte er den ihn behandelnden Therapeuten zu erzählen. Das alles seien wohl die Nachwirkungen jener schrecklichen Geschehnisse, die er als Jugendlicher im zweiten Weltkrieg erlebt hatte, und die nun quasi mit Jahrzehnte Verspätung, traumatisch wieder an die Oberfläche gekommen seien. So recht wohl war ihm bei dieser Legende nicht; denn in seinem Innersten musste er sich selbst Rechenschaft darüber ablegen; die eigentliche Ursache seines Traumas heißt Zeugen Jehovas-Religion.
Aber es kann eben nicht sein, was nicht sein darf.

Als Hintergrund des vorstehendem mag man auch auf jene Erfahrungen hinweisen, die er im Zusammenhang mit seiner Tochter Ingrid sammeln musste. Über letztere berichtet er:
"Ingrid, das älteste unserer vier Kinder, begann schon als Teenager an der Lehre der Zeugen Jehovas zu zweifeln. Sie war in der Schule sehr fleißig und wollte immer ihr Bestes geben. Diese Einstellung hatte sie auch, was den Dienst für Jehova betraf. Sie versuchte immer, den hohen Ansprüchen und Erwartungen, welche die Organisation an die Mitglieder stellte, zu entsprechen. Wir hatten unsere Kinder immer mit Hilfe der Wachtturmliteratur unterrichtet, in deren Büchern eindeutig erklärt wurde, dass Kinder und Jugendliche, die nicht von Haus zu Haus gingen, in Harmagedon sterben würden. Das hört sich vielleicht brutal an, aber es ist so. Sogar in den Büchern für die Allerkleinsten steht das Gleiche. Verkünde, mach es so, wie der Wachtturm sagt - oder stirb!

Ingrid versuchte es, aber sie schaffte es nicht. Sie erkrankte an anorexia nervosa. Sie überwarf sich mit der Versammlung. Das macht man nicht ungestraft unter Jehovas liebevollen Leuten. Sie zog sich daher freiwillig aus der Versammlung zurück und wurde selbstverständlich so behandelt, als wäre sie ausgeschlossen worden. Sie wohnte, zu dieser Zeit in den Niederlanden und begann, frustriert wie sie war, ein ausschweifendes Leben zu führen, was ihre Gesundheit noch mehr verschlechterte. Sie hatte keine Freunde mehr. Die Versammlung und die über 50 Verwandten betrachteten sie als gestorben.

Einige frühere Freunde und die Verwandten wohnten nur wenige Minuten zu Fuß entfernt von ihr, aber sie waren für sie keine Hilfe. Die Ausgeschlossenen soll man hassen und ihnen Verachtung zeigen. Es spielte keine Rolle, dass sie nicht ausgeschlossen worden war, sondern sich selbst von der Versammlung zurückgezogen hatte. Niemand war interessiert daran, wie die Sache von ihrer Seite aus aussah, Brooklyn's Propheten hatten gesprochen. Brooklyn's Wort ist Gesetz und dies war Brooklyn's Befehl.

Die Einsamkeit wurde für sie immer unerträglicher. Obwohl Ingrid von der Versammlung als Ausgeschlossene betrachtet wurde, entschloss sie sich, einen Kreiskongress zu besuchen, wohl wissend, dass ein großer Teil ihrer Vettern, Kusinen, Onkel und Tanten anwesend sein würde. Wenn sie auf Trost oder menschlichen Kontakt oder zumindest auf ein kleines Zeichen, dass sich jemand trotz allem um sie bemühte, gehofft hatte, so wurde die Hoffnung schnell zunichte. Niemand von ihnen grüßte. Niemand zeigte irgend einen Ausdruck Freundlichkeit. Niemand gab zumindest einen freundlichen Blick oder Wink. Für sie existierte Ingrid nicht mehr.

Man kann es nicht fassen, dass eine Organisation ihre Mitglieder so beeinflussen kann, dass sie bei solch einer bösartigen und vernichtenden Politik mitmachen. Ingrid fuhr verzweifelt mit sorgenvollem Herzen nach Hause. Sie hatte in ihrer stillen Art auf ein kleines Zeichen von Mitgefühl gehofft, doch vergebens. Danach hatte sie keine Lust mehr, zu leben und unternahm innerhalb kurzer Zeit drei Selbstmordversuche. Einer dieser Versuche geschah einige Tage, nachdem sie von dem Kreistreffen nach Hause gekommen war und war das unmittelbare Resultat der christlichen Liebe der Zeugen Jehovas. Sie verbrachte ein ganzes Jahr in einem psychiatrischen Krankenhaus. In diesem Krankenhaus befanden sich auch noch andere Zeugen Jehovas, ein deutliches Zeichen dafür, dass es im geistigen Paradies Probleme gab.

Im Laufe dieses Jahres besuchten außer Jellie und mir sie niemand von den Verwandten. Für die übrigen Verwandten, die alle Zeugen Jehovas waren, war sie schon tot. Heute bin ich sehr dankbar, dass ich damals nicht die Politik der Wachtturmgesellschaft auf diesem Gebiet akzeptierte. Ingrid war meine Tochter, ich schaffte es ganz einfach nicht, sie als tot zu betrachten. Sie war trotz allem unsere eigene Tochter und irgendwo musste es ja Grenzen geben!

Als Ingrid aus dem Krankenhaus heimkam, machte ihr das Einsamkeitsgefühl immer noch zu schaffen. Sie beschloss, die Versammlung zu ersuchen, sie wieder als Mitglied aufzunehmen, da sie es nicht vermochte, auf diese Weise weiterzuleben. Völlig allein in der Welt, ohne Freunde und Verwandte, ohne jeden Umgang, ohne jemanden, mit dem man sprechen konnte; das war ganz einfach zu hart für sie. Doch erst jetzt erhielt sie den härtesten Schock. Viele Zeugen Jehovas und alle Verwandten wurden plötzlich ungewöhnlich freundlich, selbst die weit entfernt wohnenden schrieben und telefonierten. Sie hatte den Forderungen der Wachtturmgesellschaft nachgegeben, obwohl sie in ihrem Inneren nicht mit der Lehre des Wachtturms übereinstimmte.

Wie war es möglich, die Freundschaft zurückzuerhalten, nur weil man als Bittsteller zu einem aus drei Männern bestehenden richterlichen Komitee gekrochen kam? Welche Art von Freundschaft und Liebe war das? Wer kann sich von einer Freundschaft und Liebe angezogen fühlen, die von Brooklyn dirigiert wird?

Wieder unternahm sie einen Selbstmordversuch und fast wäre er ihr gelungen. Als sie nach vielen Stunden im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein kam, sagte der Arzt: »Es ist unfassbar, dass du es geschafft hast, du musst einen Schutzengel gehabt haben«.
Als ich alles dies mit unserer Tochter erlebte, überkam mich eine Verzweiflung, die ich eigentlich nicht mit Worten beschreiben kann. Ich würde es gerne tun, aber ich schaffe es nicht. Die Hoffnung, welche die Lehre der Zeugen Jehovas uns gab, brachte uns in dieser Situation weder Linderung noch Trost. In der Versammlung geschahen Dinge, die mir unbegreiflich waren. Gott ließ mich das wahre Antlitz der Organisation sehen, aber damals begriff ich nicht, was ich eigentlich sah. Meine jahrelangen Gebete um Hilfe wurden erhört, aber nicht auf die Weise, wie ich es gedacht hatte. Es waren die guten Dinge in der Organisation, an die ich mich geklammert hatte, aber jetzt wurde das Böse so offenkundig, dass ich es nicht mehr länger übersehen konnte."

Immerhin hatten die vorgenannten drei Wochen Zwangspause vom permanenten Streß als Ältester, doch ihre Eigendynamik entwickelt. Wilting hatte zumindest für diese drei Wochen Zeit, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Und bei diesem Nachdenken ohne äußeren Stress, wandelte er sich faktisch. Er befand sich nun in einer ähnlichen Situation, die der Schriftsteller Stefan Heym in seinem Roman "Der König David Bericht", in eine Parabel gekleidet hatte.

Gemäß Heym erteilte Salomo einem renommierten Historiker den Auftrag, eine Geschichte zu schreiben "die allen Zweifeln ein Ende bereiten sollte." Der Historiker indes befand, für diesen delikaten Auftrag wäre wohl ein "Newcomer" der von tuten und blasen noch keine Ahnung hat, geeigneter. Indes Salomo bestand darauf. Es müsse ein renommierter Name auf der "Geschichte, die allen Zweifeln ein Ende bereitet" stehen. Da saß er nun ganz schön "in der Tinte". Das vergiftete Wohlwollen seines Auftraggebers abzulehnen, meinte er sich nicht leisten zu können. Würde er es tun, liefe er Gefahr, wie andere vor ihm schon, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Darauf wollte er es denn doch nicht ankommen lassen. Und so schrieb er denn die erwartete Lobeshymne in den erwarteten wohlgesetzten Worten. Nur hier und da lies er in unbedeutenden Nebensätzen, ein paar Andeutungen mit einfließen, wie es sich denn wirklich verhalten hätte.

Die Kommission, die dann diese "Lobeshymne" abnehmen musste, befand dass ihr beim lesen immer wieder mal ein "Klos im Halse stecken blieb". Zwar war alles wie gefordert in wohlgeformten Sätzen formuliert. Indes hier und da traten aber doch beim lesen, den Zensoren "unerlaubte Gedanken" in den Sinn.

Wer weis, vielleicht erging es Wilting ím übertragenem Sinne ähnlich, wenn man von ihm in seinem "Das Reich, das nie kam" folgende Begegebenheit mitgeteilt bekommt. Man müsste lediglich noch hinzufügen, dass die "Abnahmekommission" im Falle Wilting in der Form seiner Mit-Ältesten zu sehen ist.

"Aus eigenem Interesse fuhr ich oft nach Dänemark und nahm dort an Treffen der Zeugen Jehovas teil. Auf einem Treffen in Dänemark hatte ein Redner ein farbiges Hemd an. Ich erinnere mich noch genau, dass es dunkelbraun war und ich dachte, auch ich könnte es wagen, ein wenig die Regeln, das weiße Hemd betreffend, zu verletzen. In einem Geschäft fand ich ein weißes Hemd mit einigen dünnen roten Streifen. Ich fand es im Vergleich zu den einfarbigen weißen Hemden, die ich jetzt 20 Jahre lang getragen hatte, sehr schön. Dieses Hemd hatte ich an, als ich einen öffentlichen Vortrag hielt, ein Spiel auf Kosten des Gewissens anderer. Hätte ich nur das nicht getan!

Tags darauf erschien bei mir daheim ein Komitee und einer der Ältesten behauptete, er habe wegen des ungeheuerlichen Verstoßes gegen Takt und Ton die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Sache wurde natürlich dadurch nicht besser, dass ich meinte, dies sei kein Verbrechen und dass ich zu behaupten wagte, es wäre meinem Gewissen überlassen, ob ich ein Hemd mit oder ohne Streifen haben wollte. Die Ältesten waren offensichtlich über eine solch abtrünnige Einstellung erregt und behaupteten bei dieser Gelegenheit, ich triebe einen Keil in den Ältestenkörper. Der Ältestenrat der Versammlung hielt in dieser Angelegenheit ein Treffen ab. Fünf erwachsene, ernsthafte Männer verbrachten einen ganzen Nachmittag damit, herauszufinden, wie sie dieses Problem angehen sollten und fanden sich schließlich bemüßigt, eine Notiz in der Sache Wilting und das gestreifte Hemd an die Wachtturmgesellschaft zu senden. Sie teilten der Gesellschaft mit, dass ich den Regeln der Gesellschaft, Mode und Kleidung betreffend, nicht mehr folgte.

Hinter meinem Rücken warnte der reisende Kreisaufseher die anderen Ältesten, dass ich in der Versammlung ein störendes Element sei. Das breitete sich wie ein Lauffeuer aus und bald merkte ich, wie mich die ganze Versammlung als Abtrünnigen betrachtete, obwohl ich offiziell noch Mitglied der Organisation war."

Heym hatte seinen Roman unverkennbar mit Blick auf die DDR konzipiert. Die reagierte denn auch wie erwartet. Heym der zwar in der DDR lebte, aber ein gewisses Maß von "Narrenfreiheit" sich herausnehmen konnte. Eine "Narrenfreiheit" welche die DDR mit Sicherheit anderen nicht zubilligte. Nur eben Heym war nicht einer der "anderen". Er hatte schon im zweiten Weltkrieg in der amerikanischen Armee mitgekämpft. Die Eindrücke die er dort gesammelt in seinem Roman "Kreuzfahrer der Gegenwart" zu Papier gebracht, welcher der kommunistischen Propaganda sehr willkommen war. Erst recht als Heym Anfang der 50er Jahre in die DDR übersiedelte, als das vermeintlich "bessere" Deutschland. In diesem "besseren" Deutschland musste er dann allerdings auch noch so seine Erfahrungen sammeln. Erfahrungen, die er auch in dem "König David-Bericht" zu Papier gebracht hat. Die genannte Parabel lässt er denn auch mit einer "Salomonischen Entscheidung" ausklingen.

Der "weise Salomo" entschied, angesichts der "hinterhältig" ausgefallenen "Geschichte die allen Zweifeln ein Ende bereiten" sollte. Salomos Entscheidungsspruch war. Keine Zeile dieses Autors soll das Volk mehr erreichen.

Und (fast) genau, das trat auch im Fall Heym ein. Sein "König David Bericht" konnte zuerst (wie auch andere Heym'schen Schriften), nur im Westen erscheinen.
Erst Jahre später - angesichts des Politikklimas das die DDR auch diplomatische Beziehungen zu führenden westlichen Industriestaaten anstrebte. Erst in dieser Konstellation bewilligte man auch eine (für DDR-Verhältnisse knapp bemessene) Auflage dieses Romans, die den prompt in den Buchhandlungen eher unter als den auf dem Ladentisch, gehandelt wurde.

Mag Heym auch die politische DDR im Auge gehabt haben. Es gibt auch eine, wie schon Marko Martin formulierte auch eine "religiöse DDR"!

Marko Martin über die religiöse DDR

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