Geschrieben von Kopfschüttler am 13. November 2005 12:48:42:
Als Antwort auf: Re: Institutioneller Rassismus geschrieben von
gert am 13. November 2005 12:11:55:
Sorry jetzt mach ich's schon wieder und zitiere einen schlauen Ratgeber.
Aber eine einseitige
Betrachtungsweise verschlimmert alles nur. Hier ein interessanter Beitrag von Ernst Ulrich
von Weizsäcker, den man auch mit "Brauchen wir eine zweite Aufklärung?"
überschreiben könnte:
Vom Ende eines Märchens
Das Verhältnis von Markt und Demokratie ist mit der Globalisierung aus dem Lot
geraten. Auf nationaler Ebene lässt sich dieses Gleichgewicht kaum wieder herstellen
Demokratie und Freiheit waren Ziele der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Wir haben uns
daran gewöhnt und halten beides für Selbstverständlichkeiten. Doch heute, 15 Jahre nach
der Wiedervereinigung, stehen wir unerwartet vor einer Krise der Demokratie. Schlimmer
noch: Der Fall der Mauer hat ursächlich mit der neuen Schwäche der Demokratie zu tun.
Wie das? Vor 1990, als der Ost-West-Konflikt noch das alles bestimmende Thema war, hatte
das Kapital ein massives Interesse daran zu beweisen, dass die Marktwirtschaft dem
Kommunismus auf alle Fälle vorzuziehen ist, auch für die Schwachen. Diese Interessenlage
hat die soziale Marktwirtschaft ermöglicht und die Demokratie stabilisiert. Seit 1990 ist
dieses Kapitalinteresse weg.
Plötzlich herrscht ein unnachgiebiger globaler Standortwettbewerb um die besten
Bedingungen für die Maximierung der Kapitalrendite. Plötzlich müssen sich die Staaten
verrenken, um die Wünsche der Investoren zu erfüllen. Die Investoren sind zu
Hauptauftraggebern der Politik geworden. Die Wähler schauen verängstigt zu. Das ist der
Kern der Demokratiekrise.
Wie kommen wir dem Problem bei? Ich behaupte, dass wir die Aufklärung neu verstehen
müssen. Heute entdecken wir, dass es nicht eine Aufklärung gab, sondern zwei! Es gab und
gibt die angelsächsische und die kontinentaleuropäische Aufklärung. Aber es gab auch
starke Gemeinsamkeiten. Die Befreiung der Menschen vom autoritären Fürstenstaat war das
gemeinsame Ziel aller Aufklärer. Zu ihnen gehörten Montesquieu, John Locke, Rousseau und
Kant.
In England kam noch einer dazu, der immer mehr ins Zentrum rückte: Adam Smith. Er hatte
den kühnen Gedanken, dass die Verfolgung des Eigennutzes Wohlstand schafft, welcher,
vermittelt über die unsichtbare Hand, letztlich allen zugute kommt. Dafür braucht man
nicht Freiheit und Demokratie, sondern auch den Markt. Der Markt sollte sich wegen der
Wohlstandsvermehrung auch für die Demokratie als großer Segen erweisen: Es gab auch was
zu verteilen.
200 Jahre lang überwogen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Wahrnehmungen der
Aufklärung. Es gab ja auch gemeinsame Gegner, die Fürsten, später die Faschisten und
schließlich die Kommunisten. Sie alle bekämpften Demokratie, Freiheit und Markt.
Im angelsächsischen Raum verfestigte sich sogar die Auffassung, dass ein Konflikt
zwischen Demokratie, Freiheit und Markt prinzipiell unmöglich ist. Wenn Präsident Bush
2003 sagte, er bringe die Demokratie in den Irak, dann meinte er damit auch, dass er den
Markt dorthin bringt. Viele Menschen im Irak finden diese Auffassung befremdlich, ja
schockierend.
Auch wir in Deutschland oder die Menschen in Frankreich oder Südamerika fühlen uns
unwohl bei dieser Gleichsetzung. Und es ist auch logisch gar nicht zwingend, dass Markt
und Demokratie zusammengehören. Singapur und China haben viel Markt und wenig Demokratie.
Schweden hatte lange Zeit viel Demokratie und wenig Markt.
Nach 1990, wo nun die gemeinsamen Gegner der Aufklärung weitgehend verschwunden sind, ist
die Harmonie der beiden Formen der Aufklärung auseinander gebrochen. Jetzt entdeckt man,
was der Marktguru Friedrich von Hayek schon vor Jahrzehnten sagte, dass die Demokratie
ökonomisch "ineffizient" ist. Und die Wirtschaft singt das Lob von Singapur und
China, wo es viel Markt und wenig Demokratie gibt.
Die "Effizienz" ist für die Ökonomie der Schlüsselbegriff. Sie dient dem
heutigen Zeitgeist der Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung als
Rechtfertigung. Aber die Ökonomie hat keine guten Antennen für die langfristige
Ineffizienz der Märkte, des ökologischen Raubbaus, der riesigen und wachsenden sozialen
Ungleichheit. Die Globalisierung nach 1990 hat diese Gefahren rasant verschärft.
Adam Smith' "Effizienz" beruhte darauf, dass zu seiner Zeit die geografische
Reichweite des Gesetzes und die des Marktes im Wesentlichen gleich war. Auch wenn es
internationalen Handel gab, blieben die britischen Firmen voll und ganz dem britischen
Gesetz unterworfen. Und die Demokratie entwickelte auch die Gesetze für Firmen weiter.
Das Volk hatte ein legitimes und legales Sagen über die Wirtschaft. Es blieb nicht alles
den Aktionären und dem ökonomischen Effizienzgebot überlassen.
Die Globalisierung hat diese geografische Kohärenz zerstört. Der Markt ist global
geworden, das Gesetz blieb national. Mühsam entwickeln wir in der EU wenigstens einen
gemeinsamen Gesetzesrahmen. Aber selbst die für die Fairness auf dem Markt so zentralen
Unternehmensteuern haben wir überhaupt nicht harmonisiert. Irland, Estland, Slowakei und
die britischen Kanalinseln trumpfen mit Dumpingsteuern auf. Aber wehe, wenn da mal einer
nach einer anständigen Bandbreite ruft, dann kommen sofort die Briten und sagen, das sei
unmöglich.
Wenn wir Markt und Demokratie wieder ins Lot bringen wollen, müssen wir drei Dinge tun:
Erstens müssen wir es zum erklärten politischen Programm machen, die geografische
Kohärenz zwischen Markt und Gesetz wiederherzustellen. Das gilt für Europa und weltweit.
Das, was der Markt nicht von sich aus produziert, also Menschenrechte, soziale Kohärenz
oder Umweltschutz, müsste in verbindliche Regeln gefasst werden. Nicht nur die
Welthandelsorganisation (WTO) braucht Muskeln, sondern auch Umweltprogramm der Vereinten
Nationen (UNEP) und der internationale Gewerkschaftszusammenschluss ILO! Das ist ein
langer Weg, aber die Bevölkerungsunterstützung dafür nimmt stetig zu.
Zweitens müssen wir demokratisch gesonnene internationale Gegenkräfte entwickeln gegen
die kurzfristige und in vielen Fällen brutale Logik des Wettbewerbs. Hier denke ich
insbesondere an die Zivilgesellschaft. In Seattle 1999 hat sich da etwas formiert. In
Porto Alegre hat es sich weiterentwickelt. Und in Mar de la Plata hat es dieser Tage einen
bedeutenden politischen Erfolg gefeiert, nachdem sich südamerikanische Regierungen mit
ihrem Volk endlich einmal gegen die Marktdominanz zur Wehr gesetzt haben.
Drittens müssen wir uns und unseren angelsächsischen Freunden klar machen, dass das Jahr
1990 zweihundert Jahre der Gemeinsamkeit der Aufklärung zum Einsturz gebracht hat.
Solange das Märchen übermächtige Gültigkeit hat, dass sich Markt und Demokratie
unwiderruflich gegenseitig unterstützen, wird eine Weltbewegung für soziale
Gerechtigkeit, für Demokratie und für Langfristigkeit nicht mehrheitsfähig. Die
Aufklärung dient also der Entzauberung jenes zerstörerischen Märchens.
ERNST ULRICH VON WEIZSÄCKER ist der Sohn des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker und
Neffe des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Weizsäcker war von 1988
bis 1991 Vorsitzender der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Seit 1991 ist er Mitglied
des Club of Rome. Seit 1997 gehört er dem Präsidium des Deutschen Evangelischen
Kirchentages an.
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