Re: Wikipedia


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 20. November 2004 08:39:10:

Als Antwort auf: Re: In eigener Sache geschrieben von Drahbeck am 07. November 2004 18:39:48:

In der „Wikipedia" gelesen in einem Unterlink (Diskussion):

„Ich kann gleichwohl nicht verbergen, dass ich das, was den Zeugen Jehovas angetan wurde, als großes Unrecht empfinde. Ich kann mich nicht mit der teilweise hier vertretenen Meinung anfreunden, dass die Zeugen Jehovas (oder die Wachtturmgesellschaft) in irgendeiner Weise das ihnen zugefügte Leid selbst zu verantworten hätten. Wäre das so, könnte man daraus nur die Lehre ziehen, dass man auch Angesichts größten Unrechts immer den Mund halten sollte um sich selbst zu schützen. Detlef G. hat in seinem Buch einen interessanten Roman-Dialog zitiert, der, wie ich finde, die Situation des einzelnen Zeugen Jehovas gut veranschaulicht. Der Sohn eines Zeugen Jehovas wird gefragt: „Was ist das für ein Mensch, der im KZ sitzt, nach jedem halben Jahr nach Hause kann, unterschreibt er nur einen Wisch, und so einen Wisch hat doch kein vernünftiger Mensch damals ernst genommen. […] Er lässt seine Frau den Mörtel von den Wänden fressen, sein einziges Kind von der Schule fliegen, nur weil er ums Verrecken nicht unterschreiben will. Hat er was geändert, dein Vater?" Der Sohn antwortet: „Vater hat wahrscheinlich auch niemals gefragt, ob es was nützt, er konnte nicht anders." --

Dazu nachfolgende Anmerkung


„Wenn wir uns nicht mit Politik befassen, dann können wir einen Spruch nach dem anderen aus der Bibel entfernen.", soll laut „Christliche Verantwortung" (Nr. 4) der Zeugen Jehovas-Funktionär Willi P. einmal gesagt haben. Diese Aussage bezog sich zwar auf das DDR-Regime. Gleichwohl lässt sich auch in der Nazizeit ähnliches nachweisen. Etwa in der Untergrundpublikation „Mitteilungsblatt der deutschen Verbreitungsstelle des WT"; die denn prompt auch von der Gestapo als besonders krasses „Hetzblatt" eingeschätzt wurde.

Politische Aussagen haben immer die Eigenschaft, nicht all und jedem zu gefallen. Besonders dann, wenn sie im inhaltlichen Gegensatz zur vorherrschenden Meinung stehen. In Demokratien ist das kein sonderliches Problem. Sehr wohl aber in Diktaturen wie Hitlerdeutschland und der DDR. Es ist unter Diktaturbedingungen für Religionsgemeinschaften vielfach eine „Gratwanderung" vonnöten. Man sah das besonders krass in der vormaligen Sowjetunion mit ihrer Kirchenpolitik. Schon nach ganz kurzer Zeit stellte das sowjetische Regime die „Loyalitätsfrage". Die Antworten, die es von der russisch-orthodoxen Kirche dazu erhielt, befriedigten es offenbar nicht. Nachwirkend auch der Umstand, dass die ROK zur Zarenzeit Staatskirche war, jetzt aber nicht mehr.

In der Folge wurde der „Spielraum" jener Kirche immer mehr eingeengt. Sie konnte nur dergestalt überleben, dass sie sich auf das ihr wesenseigene kultische Element zunehmend beschränkte. Und gegen Gefühle befriedigende Kulthandlungen, konnte selbst das sowjetische Regime nicht allzuviel einwenden. Alles aber, was darüber hinausging, war schärfsten Restriktionen ausgesetzt. Man könnte es sich hierzulande kaum vorstellen; aber in der Sowjetunion war es vor 1943 Wirklichkeit. Nicht mal Bibeln konnten dort neu gedruckt werden in all den Jahren nach Ende der Zarenzeit. Die wenigen reduzierten kirchlichen Ausbildungsstätten, hatten keinerlei neuere theologische Literatur. Nur ihre Altbestände, und neueres bestenfalls in primitiver Samistattechnik (in dadurch bedingt nur sehr wenigen Exemplaren).

Beide Regime, Hitlerdeutschland und die DDR, stellten gleichfalls (de facto) die Loyalitätsfrage; und sie erhielten von den Zeugen Jehovas eine sie unbefriedigende Antwort. Die Folgen davon sind bekannt. Die Zeugen hätten in begrenztem Umfang auch im Naziregime überleben können, wären sie bereit gewesen, sich auf das streng religiöse zu beschränken, ohne politische Anspielungen. Beleg dafür ist auch, dass die aus einer Abspaltung von der Russellbewegung hervorgegangene Zeitschrift „Die Aussicht in die neue Zeit", sogar in Nazideutschland noch bis 1940 erscheinen konnte. Aussagen inhaltlicher Art, etwa dergestalt, Hitler in der Rolle des „Antichrist" zu sehen, wird man in ihr allerdings vergebens suchen. Man beschränkte sich wirklich auf das religiöse. Zwar war man keine Kultkirche, in der Substanz aber ähnliches. Bibelschriften im „erbaulichem Sinne" auszulegen.

Da wollten die Zeugen Jehovas nicht mitziehen; denn wie schon mal festgestellt würde, das „prophezeien ist ihnen ein Grundbedürfnis". Und wer dieses vermeintliche Grundbedürfnis hat, der ist sehr schnell auf der Suche nach Antichristen-Gegenbildern. Und der meint sie sehr schnell wahrzunehmen; sei es in der Person Hitler; sei es in dem 1949 Motto: „Es ist später als du denkst".

Damit wird deutlich, dass der Balanceakt unter Diktaturrahmenbedingungen, sehr schnell eine eindeutige Polarisierung erfährt hin zu Aussagen, sehr wohl mit politischer Substanz.
Diesen Balanceakt mussten auch andere Kirchen bewältigen. Beispiel der evangelische Bischof Otto Dibelius. Ein streitbarer Mann, dieser Herr Dibelius. Schon im ersten Weltkrieg konnte er sich „zugute" halten; beim „hineinpredigen in die Schützengräben" mitgeholfen zu haben. Deutschnational „bis auf die Knochen" stand er dem aufkommenden Naziregime eigentlich nicht sonderlich fern. Aber, natürlich war er auch in dieser Zeit nicht willenlos. Markant kommt das auch in einem Buchtitel von ihm (1937 erschienen) zum Ausdruck; zusammen mit seinem Koautor Martin Niemöller wollten sie das Volk wissen lassen:
„Wir rufen Deutschland zu Gott".

Da war sie wieder, die Überschreitung der „unsichtbaren Grenzlinie". Formal konnte das Naziregime eine solche Aussage nicht bemängeln. In der Sache schon. In der Sache hätte man lieber einen Aufruf gesehen: „Wir rufen Deutschland zu Adolf Hitler". Auch den gab es, reichlich, überreichlich. Einer der diesbezüglichen Claquere auch der Zeugen Jehovas-Gegner Julius Kuptsch.

Nicht zu den Claqueuren, zumindest zu diesem Zeitpunkt schon, gehörten Dibelius/Niemöller. Das war für sie besonders schmerzlich auch aus dem Grunde, eigentlich im tiefsten Inneren ihres Wesens, den Nazis relativ zugetan zu sein. Nicht unbedingt in seiner sich darbietenden Rabaukenfassade, wohl aber in den eigentlichen Intentionen. Auch Niemöller hatte da (zu diesem Zeitpunkt) keine besonderen Probleme, kam er doch selbst, wie er auch einmal per Buchtitel aussagte. „Vom U-Boot-Kommandant" zur Kanzel".

Beide Dibelius und Niemöller, gerieten trotz ihrer relativen Nähe zum Naziregime, alsbald in ernsthafte Konflikte zu ihm. Auch hierbei offenbarte sich. Sie hatten bei der Gratwanderung, Beschränkung auf Kultkirche, einen Absturz erlebt. Sie waren mit ihren Aussagen ins Politische abgedriftet. Sie hatten ernst gemacht mit dem weiter oben genannten Willi P.-Zitat.

Bei Dibelius sollte sich das in späteren Jahren erneut in aller Schärfe zeigen. Als Berliner Bischof der Evangelischen Kirche, kam er auch in hautnahen Kontakt zur DDR. Und weil er sich nicht dazu verstehen konnte, sich auf eine Kultkirche reduziert sehen zu wollen, ergaben sich vielerlei scharfe Kontroversen daraus. Einmal noch, machte er seinem angestauten Unmut Luft. Da liess er eine Schrift zum Thema „Obrigkeit" in die Welt hinausgehen. Und das erstaunte Publikum konnte darin unter anderem lesen.

In der BRD würde er Verkehrsvorschriften beachten; nicht aber in der DDR. Würde er dort auf der Autobahn ein Tempo Hundert-Schild lesen; würde ihn das nicht sonderlich interessieren. Er würde nach eigenem Ermessen handeln, nicht jedoch weil sich dort ein entsprechendes Verkehrsschild befände (jetzt gerafft, sinngemäß wiedergegeben). Und zur Begründung dieser erstaunlichen These wusste er zu vermelden. Die DDR-Regierung sei ja gar keine Obrigkeit gemäß Römer 13.

Da hatte Dibelius (wieder einmal) einiges auf den Punkt gebracht. Allein die Reaktion darauf, in seiner eigenen Kirche, liess ihn doch wohl eher „frösteln". Es waren nur wenige die ihm Beifall zollten. Ob es für ihn ein Trost war, ist nicht überliefert. Aber er bekam aus einer für ihn sicherlich völlig unerwarteten Ecke, Beifall. Nicht unbedingt für die Verkehrsschilderthese, wohl aber für die Grundthese; die DDR-Regierung sei ja gar keine Obrigkeit gemäß Römer 13. Man ahnt es schon, der Beifall kam von den Zeugen Jehovas, die ihm in ihrer Literatur Beifall klatschten.

„Bedauerlicherweise" befand sich aber nunmehr Dibelius auf der endgültigen Verliererseite. Seine Tage als Berliner Bischof begannen zählbar zu werden. Und seine Amtsnachfolger waren durchaus nicht bereit, sich im gleichen Umfange, wie Dibelius „aus dem Fenster hinauszulehnen". Die Niederlage des Dibelius hatte auch für die Beifallsklatscher Zeugen Jehovas, noch so ihre Nachwirkungen. Auch sie mussten ihre seit 1929 bestehende Obrigkeitslehre auf Dibeliusbasis noch verändern.

Was lehrt das alles? Herr P. hat sicherlich nicht unrecht, wenn er konstatiert, ist man nicht bereit sich auf den Status Kultkirche zu reduzieren, kommt man unweigerlich auch in den politischen Bereich hinein, ob man es will oder nicht.

Dann aber muss man es sich auch gefallen lassen, von der Gegenseite auch politisch bewertet zu werden. In aller Schärfe war das sowohl im Naziregime als auch in der DDR im Falle Zeugen Jehovas der Fall.


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