Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Rutherford's "Die Welt in Not"

In dieser 1923 erstmals erschienenen WTG-Broschüre, bewegt sich Rutherford noch im "Gedankenkorsett" von Russell. Zugleich gab es davon noch eine von der WTG-Druckerei in Bern veranstaltete Ausgabe, unter dem geringfügig variierten Titel "Die Welt-Bedrängnis". Letztere differiert auch in der Seitenzählung, im Vergleich zur WTG-Ausgabe Barmen 1923.

1923, dass war noch das Jahr, indem Deutschland als Folge des ersten Weltkrieges, von der Inflation geschüttelt wurde. Die Vokabel "Not" sprach daher etliche durchaus existentiell an. Sie bewirkte denn auch das anschwellen der deutschen Bibelforscher, von der "Handvoll" von rund 500 vor 1914 auf rund 10 000 ums Jahr 1925. Bis 1933 setzte sich das Wachstum der deutschen Bibelforscher zwar fort, aber doch auch nicht mehr mit dem Tempo, wie gerade in den frühen zwanziger Jahren. Zieht man noch den Leserkreis der WTG-Zeitschrift "Das Goldene Zeitalter" mit in die Betrachtung ein (und bezeichnet deren ständige Leser mal als "Sympathisanten"), dann kann man mit Fug und Recht sagen: Das Sympathisantenumfeld war in Deutschland in jenen Jahren weit größer, als in den USA, wo die Bibelforscher unter "ferner liefen" damals rangierten.

Hat Rutherford mit seinem Satz (S. 11) "Aber warum sehen wir überall Krieg, Hungersnot, Streit, Bolschewismus und andere furchtbare Dinge?" den Nerv seiner Klientel getrofffen? Möglich!

Aber was bot er als Antwort auf seine eigene Fragestellung an? Schon einleitend (S. 3) kann man die zur Kenntnis nehmen. Dort schreibt er:

"Warum läßt ein gerechter, weiser und liebevoller Gott die Menschheit so lange Zeit vom Bösen heimsuchen?

Böses erzeugt Not und gebiert Verfall …Warum ließ Gott zu, daß unsere Stammeltern von Satan versucht und zur Übertretung seines Gebotes veranlaßt wurden? Hätte er nicht alle diese Übel … verhindern können? Da Jehova, wie die Heilige Schrift erklärt, allmächtig ist, so würde er, wenn seine Weisheit es für gut befunden hätte, dies ohne Zweifel verhütet haben können. Die Tatsache aber, daß es nicht geschah, beweist, daß er das Böse zu einem besonders weisen und guten Zweck zugelassen hat."

Mit letzterem ist denn auch die Kernthese der Russell-Rutherford's beschrieben. Ein ominöser "göttlicher Plan" zur Lösung aller Problem. Peinlich nur, dass er sich auf den "Sankt Nimmerleinstag" verschiebt und "zwischendurch" die Menschheit von immer neuen Problemen geschüttelt wird. Reichte nicht ein erster Weltkrieg vollends aus, im Sinne dieser Theorie?! Mußte dann die Menschheit noch das Trauma eines zweiten Weltkrieges erdulden? Peinlich auch dass immer neue Generationen, mit immer neuen Problemen konfrontiert werden. Rutherford's zitierte These erweist sich als durch und durch fadenscheinig.

Noch anders formuliert. Die Rutherford's und Co wähnen sich als "Erklärer" eines "göttlichen Planes", den es mit Verlaub gesagt, so überhaupt nicht gibt. Sie gedenken ihren Lebensunterhalt als symbolische "Priester" als "Erklärer Gottes" zu gestalten. Und offenbar ging diese Rechnung bis heute auf, wenn man sich beispielsweise die Auflagenzahlen der WTG-Literatur mit ihrem philosophischen Schrott ansieht. Es muss klar auch an dieser Stelle ausgesprochen werden. Es gilt auch für die Rutherford's und Co die Kritik. Die Philosophen (und Religionen) haben die Welt nur verschieden erklärt; es kommt aber darauf an sie zu verändern. Und wer mit dem Autor dieser Aussage absolut nichts am Hut hat; der kann es dann auch mit jenem Spruch halten, der in der Legende dem Martin Luther zugeeignet wird.

Und wenn morgen der jüngste Tag anbricht, so will ich heute dennoch mein Apfelbäumchen pflanzen!

Auch Rutherford's Broschüre "Die Welt in Not" hatte so ihre Highlights. Eines davon noch in Faksimile.

"Die Welt in Not" stand so ziemlich noch mit am Anfang der Rutherford-Ära. Bemerkenswert auch ihr Ende. Da publizierte die WTG um 1995 ein Video mit dem Titel "Bis ans Ende der Erde". Es thematisiert ihre Missionarsschule Gilead. Bemerkenswert schon die Einleitung. Es werden Bilder vom 1942-er Kongress gezeigt, auf dem der neue "König Knorr" seinen epochemachenden Vortrag "Weltfriede ist er von Bestand?" hielt. Kommentar in diesem Video. Die Kongreßbesucher erwarteten, dass der noch andauernde zweite Weltkrieg in Harmagedon ausmünden werde. Knorr hingegen ließ verlautbaren. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges kommt noch eine "kurze Friedenspause". Und damit der Anhängerschaft, dieser blökenden Herde geführt werden wollender, das ganze etwas schmackhafter werde, eben auch die Einrichtung der Missionarsschule mit dem Ziel der weiteren Expansion.

Von "Weltfriede ist er von Bestand?" veröffentlichte die Schweizer WTG im Jahre 1945 (also zeitversetzt zu den USA) auch noch eine gleichnamige Broschüre. Die ist aber meines Erachtens im Vergleich zum USA-Original inhaltlich schon etwas "entschärft". Immerhin finden sich in ihr (S. 24, 25) auch die folgenden Ausführungen:

"Welchen Frieden auch immer Religion unter den Nationen durchsetzen wird, sie wird sie nicht zu dem Frieden mit Gott, zudem von ihm gebilligten und allein auf Gerechtigkeit gegründeten und dauerhaften Frieden hinführen!

Von den 'zehn Königen' lesen wir, daß sie ihre Macht und Gewalt dem 'Tiere' geben und mit ihm 'herrschen eine Stunde'. In dieser 'einen Stunde' glaubten wir die kurze Periode, die zwischen dem Ende des jetzigen Krieges und der Schlacht von Harmagedon liegt, erkennen zu können, das heißt eine verhältnismäßig kurze Zeit. Während dieser Zeit wird die Welt-Friedens-Organisation mit dem Segen der organisierten Religion herrschen und mit den Verkündigern des Königreiches Gottes … 'Krieg führen', das heißt die Botschaft vom Königreiche, als für die Interessen der Welt Satans schädlich, bekämpfen."

Und die S. 28 schließt mit dem Ausruf:

"Nochmals stellen wir die Frage: Ist der kommende Friede von Bestand? Und wir antworten mit einem entschiedenen Nein des Wortes Gottes!"

Wie schon angedeutet, muss dieser Einstandsvortrag von Knorr als durchaus "revolutionär" eingeschätzt werden. Legte er doch die akute Endzeiterwartung zum xten mal wieder zu den Akten und vertagte sie. Angeblich auf eine "kurze Zeit". Wie "kurz" diese Zeit war, darüber können die heutigen sich sicherlich ein eigenes Urteil bilden, denn auch die Knorr-Ära gehört inzwischen schon der Vergangenheit an.

Aber um den vorstehend skizzierten Sachverhalt richtig zu würdigen, muss man sich auch nochmals den Ausläufer der Rutherford-Ära vor Augen führen. Hatte doch Rutherford besonders in seiner Altersphase die Endzeiterwartungen künstlich geschürt. Etwa in "Schau den Tatsachen ins Auge", mit der dortigen Forderung, mit dem Heiraten bis "nach Harmagedon" zu warten. Auch sein berüchtigtes Buch "Kinder", 1941 in Englisch publiziert. In Deutsch (in der Schweiz) um 1943 spielt auch auf diesem "Klavier". Schon bezeichnend die dortige, zwar relativ harmlose Polemik auf Seite 348/49, die jedoch durchaus in den Gesamtkontext eingeordnet werden muss. Und dieser bestand (und besteht) in der WTG-Forderung, sich total für sie zu verausgaben. Auf der genannten Seite konnte man lesen:

"Manche Eltern, darunter auch etliche, die behaupten Jehova und seinem Königreich völlig ergeben zu sein, ziehen heute ihre Kinder im Müßiggang auf. Sie handeln nach der Theorie, Kinder sollten spielen und keine Arbeit tun. Dies steht in Widerspruch mit Gottes Gesetz."

Auch in dieser Publikation wird die These vertreten mit dem Heiraten bis "nach Harmagedon" zu warten. Etwa wenn man auf S. 366 die "Empfehlung" liest:

"Unsere gegenwärtige Pflicht ist klar: Wir müssen jetzt Zeugen für den Namen Jehovas und sein Königreich sein. Wir können weiterhin bei unseren Eltern wohnen, solange dies Gottes Wille ist, und wir werden am Dienste des Herrn teilnehmen, indem wir die Botschaft von seinem Namen und Königreich andern überbringen, die nach der Gerechtigkeit hungern."

Und was den Endzeitaspekt anbelangt, lässt Rutherford in diesem Buch (S. 312) verkünden:

"Von der Zeit an, da die 'andern Schafe' zum Herrn hin versammelt werden, bis Harmagedon verfließen nur einige wenige Jahre. Diese ganze Zeit ist eine Zeit großer Drangsal, und sie endet mit der größten Drangsal, die die Welt je gekannt hat."

Und als Motivationserklärung für dieses künstliche hochspielen von Endzeiterwartungen erklärt Rutherford im gleichen Buch (S. 252) noch:

"In ganz Europa werden die Diener des Reiches Gottes heute grausam verfolgt. Dasselbe gilt für Asien und Afrika. In Kanada, das jetzt von einem religiösen Diktator beherrscht ist, sind Jehovas Zeugen als 'illegale' Organisation erklärt worden und werden gefangengenommen…"

Die Ära Rutherford

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