Marx und der Sozialismus

Karl Marx rieb sich erstaunt die Augen. Es war ihm, als sei er aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Alles um ihn herum erschien ihm so fremd, so unbegreiflich. Wieso befand er sich auf einmal in dieser Umgebung? - Allmählich begann er sein Gedächtnis wiederzuerlangen. Er hatte den Eindruck, als ob vor seinen Augen Bilder aus seinem jahrelangen Kampf um ein besseres Dasein der Arbeiterschaft vorüberzogen, wie er, aus seiner Heimat ausgewiesen, in fremden Ländern Obdach suchen und oftmals großen Mangel leiden mußte. Auch der letzten Augenblicke erinnerte er sich, wie er aus dem Leben schied. Es war dies im Jahre 1884. Wie denn, die Menschen zählen jetzt das Jahr 1937? Sollte er über fünfzig Jahre lang leblos gewesen und nun von den Toten auferstanden sein? Er, der einst so leidenschaftliche Verfechter der materialistischen Doktrin sollte an sich das Wunder der Auferstehung erfahren haben?

Es dauerte einige Zeit, bis Marx sich halbwegs mit den großen Änderungen vertraut gemacht hatte, die in der Zwischenzeit im menschlichen Leben eingetreten waren. Natürlich wurde in ihm bald das Verlangen wach, zu erfahren, wie es mit der früher von ihm vertretenen Weltanschauung stand. Nach Ablauf von über fünfzig Jahren ist die Welt gewiß nicht mehr weit entfernt von der gänzlichen Verwirklichung seines Ideals, d. h. der Umgestaltung der gesamten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung im Sinne der sozialistischen Grundsätze.

Karl Marx entschloß sich, incognito als Professor der Soziologie die größten Staaten Europas zu besuchen, angeblich um Material zu sammeln für ein wissenschaftliches Werk über die Anwendbarkeit des Sozialismus im staatlichen und gesellschaftlichen Leben der Völker.

Zuerst begab er sich nach England, wo man ihm als maßgebendste Persönlichkeit auf diesem Gebiete den ehemaligen Führer der englischen Arbeiterpartei, Macdonald, nannte, der sich auch bereit erklärte, ihm auf seinem Landsitz eine Unterredung zu gewähren. Marx wurde von diesem einst so berühmten Vorkämpfer für die gerechte Sache der Arbeiterschaft sehr freundlich begrüßt. Wie verwundert war er jedoch, an Stelle eines feurigen Idealisten einen gebrechlichen Greis anzutreffen, auf dessen Antlitz sich Gram und Enttäuschung widerspiegelten.

"Sie wollen von meinen Erfahrungen mit dem Sozialismus hören?" wendete sich an ihn mit etwas leiser Stimme Macdonald. "Ich habe dieser Idee den größten Teil meines Lebens gewidmet, habe seit meinen Jugendjahren für die sozialistische Doktrin gekämpft. Durch harten, unermüdlichen Kampf errangen wir verschiedene Erfolge, bis schließlich im Jahre 1924 der von der englischen Arbeiterschaft sehnlichst herbeigewünschte Moment kam, da die Arbeiterpartei nach siegreichen Wahlen die Regierung übernahm. Ich wurde Premierminister. Damals jedoch erst erkannte ich in seiner ganzen Rücksichtslosigkeit den Feind, der mir gegenübertrat. Ich stand Auge in Auge der allgewaltigen City gegenüber. Und in dem Kampfe, der bald einsetzte, siegte in kurzer Zeit die Hochfinanz."

"Ich kann nicht recht begreifen", bemerkte Karl Marx, "Sie hatten die ganze Regierungsgewalt in der Hand und konnten die Macht des Großkapitals nicht brechen?"

"Mein lieber Herr, es ist dies ein schreckliches Ungeheuer, das vor keinen Mitteln zurückschreckt", entgegnete Macdonald. "Nachdem ich die Regierung übernommen hatte, setzte sofort die Opposition der City ein, bis diese das Land in ein finanzielles Chaos stürzte. Das ganze Britische Imperium drohte aus den Fugen zu gehen, und da mußte ich als guter Engländer kapitulieren. Ich liquidierte dass Arbeiterkabinett und bildete eine nationale Regierung. Von meinen Genossen folgten mir nur ganz wenige, die große Mehrheit verschrie mich als Verräter der Arbeiterschaft Nach mehrjähriger Dauer der nationalen Regierung wurde ich schließlich ganz kaltgestellt. Nun bin ich ein gebrochener Mann. Das Ziel meines vieljährigen Kampfes erwies sich für das Britische Weltreich einstweilen als nicht durchführbar."

Karl Marx konnte ein Gefühl der Niedergeschlagenheit nicht unterdrücken, nachdem er aus dem Munde Macdonalds dieses traurige Geständnis vernommen hatte. Er verabschiedete sich von seinem Gesprächspartner und begab sich hierauf nach Frankreich. Wer anders als Leo Blum dort den nötigen Aufschluß geben. Mit feurigem Eifer begann dieser große Sozialtheoretiker die Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit der sozialistischen Doktrin darzulegen. "Allein die Durchführung unserer Grundsätze vermag die verfahrene Welt auf ein neues Geleise zu bringen. Als ich vor über einem Jahre die Regierung in Frankreich übernahm, machte ich bald dieselben Erfahrungen wie mein ehemaliger Genosse Macdonald. Die Hochfinanz brachte es zum Sturz des Franken, verursachte die Flucht des Kapitals nach dem Auslande und suchte auf jede mögliche Art die Durchführung sozialer Reformen zu sabotieren. Diesen internationalen Gangstern liegt das Wohl eines Landes nur so weit am Herzen, als sie die Möglichkeit haben, sich auf Kosten der Arbeiterschaft zu bereichern. Als ich mich anschickte mit ihnen den Kampf aufzunehmen, kam ich zu Fall und mußte zurücktreten. Die Volksfront besteht jedoch immer noch, und unser Programm wird, wenn auch in langsamerem Tempo, weiter durchgeführt. Die Stunde der Entscheidung hat geschlagen! Entweder wird das Proletariat dem Ansturm der Reaktion die Stirn bieten und überall die Macht in seine Hände nehmen können, oder die ganze Welt verfällt in eine nie dagewesene Barbarei!"

Nach dieser Unterredung wünschte Karl Marx, sich noch selbst von den sozialen Fortschritten in diesem Lande zu überzeugen. Fürwahr, die Arbeiter haben sich schon manches erkämpft. 40stündige Arbeitswoche? - Das ist ja herrlich! Andererseits mußte er aber feststellen, daß die materiellen Errungenschaften immer wieder durch schlaue Schachzüge des Großkapitals vereitelt werden. Was bedeutet die starke Gärung unter der ganzen Bevölkerung? Es schien ihm, als sei das Land in zwei feindliche Lager getrennt, die nur auf den günstigen Moment warten, um über sich herzufallen. Überall sprach man von Spanien. Angeblich war auch dort eine Volksregierung am Ruder, die kaum mit der Durchführung gewisser Reformen zugunsten der bedrückten Massen begonnen hatte, als verbrecherische Kreise mit Hilfe fremder Staaten das Land in einen schrecklichen Bürgerkrieg stürzten. Sollte etwa dasselbe Schicksal auch Frankreich bevorstehen? Karl Marx verließ dieses Land mit einem Gefühl tiefster Besorgnis.

Sein nächstes Reiseziel war Italien. Schon an der Grenze hörte er lautes Waffengeklirr und phrenetische Rufe: Duce! Duce! Mit Mißtrauen schaute man auf ihn, als er sich über den Zweck seines Kommens geäußert hatte. "Wir haben mit der roten Seuche endgültig aufgeräumt, und auf diesem Gebiete sind bei uns keinerlei Studien durchzuführen!" erklärte

man ihm barsch. "Wir werfen jetzt der faulen Demokratie der ganzen Welt den Fehdehandschuh hin und haben bereits den Siegesmarsch zu ihrer vollständigen Vernichtung angetreten. Unsere Soldaten kämpfen jetzt in Spanien, und Sobald der für die ganze Menschheit heilbringende Faschismus dort den vollständigen Sieg errungen haben wird, kommen andere Länder an die Reihe. Unser großer Führer Mussolini ist nicht allein der Retter unseres Landes, sondern will auch andere Völker vor der aus Rußland kommenden Pest befreien. Acht Millionen Bajonette warten nur auf den Befehl des Duce, um zum Kampfe hinauszuziehen!"

Marx wurde die Einreise verweigert, und als er den Wunsch äußerte, mit Mussolini persönlich zu sprechen, vernahm er nur ein höhnisches Lachen.

Das, was Marx von einer angeblich aus Rußland kommenden Seuche vernommen hatte, veranlaßte ihn, sich darauf nicht gleich nach seiner früheren Heimat, d. h. Nach Deutschland zu begeben, sondern zuerst nach jenem Lande zu fahren, das einst unter tyrannischer Herrschaft stand. An der russischen Grenze begrüßten ihn gewaltige Aufschriften: "Proletarier aller Länder vereinigt euch!" Hat er hier endlich einen Arbeiterstaat, ein nach sozialistischer Doktrin regiertes Land gefunden? Marx äußerte sich über über den Zweck seiner Reise und über den erfreulichen Eindruck, den er beim Passieren der Grenze davontrug. Man begrüßte ihn daher sehr herzlich und begann sofort, ihm alle Leistungen des Sowjetregimes zu zeigen. Auf Schritt und Tritt begegnete er einer abgöttischen Verherrlichung Stalins, neben dem die Erinnerung an den Schöpfer des jetzigen Rußland, Lenin, ganz verblaßte. Was er sonst zu sehen bekam brachte ihn zuerst zum Staunen. Man erklärte ihm, daß Rußland, früher fast nur Agrarstaat, jetzt auch zu einem gewaltigen Industriegebiet aufgebaut werde. Er besuchte neuerrichtete Industriewerke, Kollektiv- Musterfarmen, schön eingerichtete Erholungsstätten für Arbeiter, Krankenhäuser, Kinderbewahranstalten und. dergl. Immer wieder wurden zu seinen Ehren Festessen veranstaltet. Man rühmte dabei das große Werk Stalins, der ganz Rußland in ein Paradies umwandle. Karl Marx konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß vor ihm vieles verborgen wird. In einem günstigen Moment befreite er sich daher von der Obhut der ihn begleitenden Beamten und begab sich allein auf den Weg, um sich zu überzeugen, ob wirklich überall solche herrliche Zustände herrschen. Welche Enttäuschung mußte er da bald erleben! Unzufriedene Bauern, schlecht bearbeitete, vernachlässigte Landwirtschaften, in den Städten vor den Lebensmittelgeschäften lange Schlangen, der Lebensstandard der Massen ein ganz niedriger. Außerdem schien das Volk überall wie unter einem Terror zu stehen. Von Mund zu Mund gingen Gerüchte über Massenverhaftungen von Oppositionisten, über die Hinrichtung von Marschällen, Generalen und hohen Staatsbeamten, von denen angeblich viele zur ältesten Garde des Kommunismus gehörten und einst die vertrautesten Mitarbeiter Lenins waren. Marx wurde es sehr ungemütlich. Er entschloß sich, um eine Audienz bei Stalin selbst nachzusuchen, um aus seinem Munde Näheres über sein Regime und über die Grunde der in Rußland herrschenden Verhältnisse zu erfahren. Bevor er jedoch nach Moskau kam, wurde er von der überall alarmierten Geheimpolizei verhaftet und als verkappter Spion und Faschist über die deutsche Grenze abgeschoben.

Die Ausweisung aus Rußland war für Marx eine gute Empfehlung gegenüber den Machthabern des Dritten Reiches. Das Propagandaministerium verbreitete diese Nachricht durch alle Zeitungen und über alle Radiostationen und begleitete die Kunde davon mit einer Flut von Verwünschungen gegen die sowjetrussischen Barbaren. Zu Ehren dieses angeblichen Professors fand ein großer Empfang statt, auf dem immer wieder die große Mission des Nationalsozialismus hervorgehoben wurde. Das Beiwort "National" störte Marx. Der Sozialismus sollte doch gerade die Nationalunterschiede überbrücken und die Arbeiterschaft aller Länder vereinigen. Man begann darauf, Marx mit den verschiedenen Errungenschaften des Dritten Reiches bekannt zu machen. "Die soziale Frage ist bei uns glücklich gelöst worden. Die Arbeiter und das Kapital arbeiten harmonisch Hand in Hand am Aufbau des neuen Deutschland", erklärte man ihm mit Stolz. "Diese Harmonie wird durch keinerlei Streike, durch kein Feilschen um Lohnerhöhungen usw. gestört. Der oberste Schiedsrichter ist in allen Angelegenheiten der Liebling des ganzen Volkes, unser großer Führer, Adolf Hitler; ihm verdanken wir auch die restlose Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. In brüderlicher Eintracht marschieren alle deutschen Volksgenossen einer herrlichen Zukunft entgegen!" Von der Art dieses "Marschierens" erhielt Marx einen richtigen Begriff, als er ein Umzügen zuschaute, die dort unaufhörlich aus diesem oder jenem Anlaß stattfinden. Wie eine zusammengeschweißte Masse marschierte da Jung und Alt, die Beine wie Soldaten stramm nach vorn werfend und immer wieder patriotische, kriegerische Lieder singend. In den Betrieben, die Marx besuchte, stellte sich die Arbeiterschaft in straffer Ordnung zum Appell, setzte sich auf Kommando und stand auf Kommando wieder auf, grüßte mit dem Aufheben des rechten Armes, sang und rief "Heil Hitler!" Unter den zahlreichen überall sichtbaren Aufschriften, die an den Patriotismus des Volkes appellierten, waren auch die mit großen Lettern aufgezeichneten Worte Görings zu lesen: "Kanonen sind wichtiger als Butter!" Man erklärte ihm, daß der Nationalsozialismus eine große Sendung zu erfüllen habe, und daher müsse sich Deutschland in ein Heerlager umwandeln. Demzufolge müßten die Arbeiter zwar vorläufig den Riemen immer enger ziehen, dafür würden sie aber bald das Vorrecht haben, den Segen des Nationalsozialismus weit über die Grenzen Deutschlands hinauszutragen. Der deutsche Arbeiter sei diszipliniert, und seine patriotische Einstellung befähige ihn zu den größten Opfern."

Von diesem "Patriotismus" der Arbeiterschaft empfing Marx eine ganz andere Meinung, als er hier und da unter vier Augen mit verschiedenen Arbeitern einige Worte wechselte. Sie schauten sich jeweils zuerst ängstlich um, worauf sie ihm von einer Bedrückung erzählten, wie sie die deutschen Arbeiter noch nie erlebten; daß sie für schwere Arbeit nur kärgliche Löhne erhielten, daß das gesamte Volk einer schrecklichen Tyrannei ausgesetzt sei, und viele Tausende, die irgendwelchen Widerstand leisteten, die Gefängnisse und Konzentrationslager füllten.

Zuletzt sollte Marx die hohe Ehre zuteil werden, dem Liebling aller Deutschen, dem Führer des Dritten Reiches, gegenüberzutreten, dem diese "Liebe" seiner Volksgenossen offenbar so zu Herzen geht, daß er es vorzieht, hoch oben in den Bergen zu hausen und sich vom Volke außerdem durch einen großen Stab von Geheimagenten zu isolieren. Nach langen, ermüdenden Verhören auf einigen Posten der geheimen Polizei auf dem Wege nach Berchtesgaden stand Marx schließlich dem höchsten Machthaber des Deutschen Reiches von Angesicht zu Angesicht gegenüber, der ihn bei der Begrüßung mit seinem scharfen Blick schier durchbohrte. Darauf mußte Marx eine wahre Flut mit wilder Leidenschaft gesprochener Worte über sich ergehen lassen. Das war keine Unterredung, sondern eine wahre Agitationsrede. Was Marx da nicht alles zu hören bekam von Novemberverbrechern, die den Versailler Schmachfrieden unterzeichneten, vom schändlichen Weimarer System, von der kommunistischen Seuche, vom verfluchten Marxismus etc.! Marx erkannte sofort, daß er es mit einem halb anormalen Menschen zu tun hatte, der sich zuerst austoben muß, bevor er ein vernünftiges Wort herausbringen kann. Das Antlitz des "Führers" nahm ein schreckliches Aussehen an. "Tod und Verderben diesen Verbrechern und Verrätern! über ihre Leichen schreitet Deutschland in eine neue Zukunft!" Marx fühlte sich bis ins Innerste verletzt durch die Bemerkung von dem "verfluchten Marxismus". "Sie gestatten, Herr Reichskanzler, ich … (Marx hätte sich beinahe verraten), ich wollte sagen, der Marxismus hat doch nur das Wohl des Proletariats der ganzen Welt im Auge." - "Des Proletariats? - fort mit diesem Schmachwort! Der deutsche Arbeiter ist ein sich seiner Ehre bewußter Volksgenosse. - Der ganzen Welt? - fort mit diesem Internationalismus! Für die edle deutsche Rasse gibt es in einer jüdisch-marxistischen Internationale keinen Platz!" Marx wollte wieder etwas einwenden, doch da durchbohrte ihn der "Führer" wiederum mit seinem Blick und drückte mit einer raschen Handbewegung auf einen Knopf. Den hereinstürzenden Beamten der Gestapo gab er Befehl, Marx zu verhaften. Mit "traumwandlerischer Sicherheit" hatte er festgestellt, daß dies ein Bolschewik, ein Kommunist sei, der nur vorgab, aus Rußland ausgewiesen worden zu sein.

Marx wanderte in die finsteren Keller der Gestapo, und seitdem ist jede Spur von ihm verschwunden.

Hätte man es gedacht?

Vorstehender Text stammt aus einer Zeugen Jehovas-Zeitschrift. Dem „Goldenen Zeitalter" vom 15. 9. 1937. Sicherlich Wasser auf die Mühlen jener, die schon v o r diesem Artikel die Zeugen Jehovas in die kommunistische Ecke stellten.

Religion sei auch Seufzer der bedrängten Kreatur, gab ein Herr (na wer wohl?) auch einmal zu Protokoll. Vergleicht man dazu ein Titelbild genannter Zeitschrift, erscheint mir diese Tendenz auch dort nachweisbar.

Einen gewichtigen Unterschied gilt es aber auch noch zu benennen. Die eine Variante dieser Geisteshaltung, glaubt notwendige Veränderungen mit „beten" befördern zu können; die andere glaubt dies grundsätzlich nicht!

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