Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Es war alles so hohl, so hohl!

Es gibt Menschen, die bereits über eine religiöse Sozialisation verfügen. Aber auch solche, wo das weniger der Fall ist. Zwar gehörte auch die siebzehnjährige Martina Schmidt (geborene Piepgras) formal einer Kirche an; was angesichts deren Kindertaufpraxis nicht viel besagen will. Sieht man von Formalien ab, war ihr Wissensstand in Sachen Religion doch eher "bescheiden". Das muss sie wohl auch selbst so gesehen haben. Ersichtlich auch an dem Umstand, dass sie just zu jener Zeit, sich als einzigste ihrer Familie nunmehr käuflich eine Bibel zulegte. Weder Vater noch Mutter, hatten dafür Interesse; hinderten aber ihre Tochter auch nicht an dem Vorhaben.

Und sich etwas in jenes Buch "einlesend".  Zu dem Zeitpunkt erhält auch diese Familie Besuch von der Klinkenputzerfirma Zeugen Jehovas. Unhöflich will man nicht sein. Also fertigt man den Besuch nicht an der Wohnungstür ab; sondern gestattet ihm, in die eigene Wohnküche einzutreten. Vater, Mutter wussten aber doch nichts so rechtes mit dem Besuch anzufangen. Und da die Tochter gerade mit dem Bibellesen begonnen, ward sie denn auch als geeigneter Ansprechpartner präsentiert. Man ahnt es schon; was das Ende vom Liede sein würde. Nun Frau Schmidt teilt es selbst schon auf dem Buchumschlage mit. Es sollte eine zweieinhalbjährige Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas daraus noch werden.

Wie man aus dem Buchbericht an vielerlei Stellen entnehmen kann, spielte sich das ganze zu der Zeit ab, wo die WTG-Literatur noch zu Festpreisen vertrieben wurde. So liest man beispielsweise, dass Frau Schmidt sich durch Direktbestellung bei der Wachtturmgesellschaft weitere WTG-Bücher zulegte, und per Post zugestellt bekam, was heute schon nicht mehr möglich wäre. Die Distanziertheit der Familie gegenüber der sich anbahnenden Entwicklung kommt auch in der Frage des Vaters an seine Tochter zum Ausdruck. Ob sie denn selber demnächst Klinkenputzer für die Zeugen spielen wolle? Nein, das wollte Martina Schmidt zu dem Zeitpunkt sicherlich nicht. Und das sagte sie auch so. Aber immerhin, der Fakt bleibt bestehen, dass ihrerseits ein gewisses Interesse an religiösen Fragen bestand. Und genau an diesem Punkt verstanden es die Zeugen, gezielt bei ihr mittels ihrer Nachbesuchstätigkeit nachzuhaken; auch den Umstand hinnehmend, dass das ganze sich auf dem flachen Lande, weit entfernt von der nächsten Kreisstadt, abspielte.

Am 18. Juni 1989 war es dann soweit. Den Zeugen war es gelungen, ihre Interessierte zum erstenmal in einen Königreichssaal zum Besuch hinzulotsen.

"Morgen, Michael, Morgen Christian. So früh auf dem Posten? Ruth gab den beiden Männern an der Tür schwungvoll die Hand.

'Oh, du hast jemanden mitgebracht?' Der eine, Michael offenbar dünn und schlaksig, streckte mir seine Hand entgegen. 'Herzlich willkommen!' Zögernd ergriff ich sie. Mit einer solch herzlichen Begrüßung hatte ich nicht gerechnet.

Das Empfangskomitee am Eingang war aber noch nichts gegen das, was nun folgen sollte. An jeder Ecke standen Zeugen, die Herren in Schlips und Kragen, die Damen in Rock und Bluse, in freundlichen Plausch vertieft, aber sobald sie Ruth sahen, begrüßten sie sie freudestrahlend mit einem herzlichen 'Guten Morgen, Ruth!' und sahen dann mich. Ich kam mir mit meinen Jeans sehr fehl am Platz vor.

Unzählige Hände, die die meinen schütteln wollen, blitzende Zähne an allen Enden, Schulterklopfen hier und da, und Ruth, die mich jedem Einzelnen vorstellte und mir auch deren Namen sagte. Mein Kopf war bald nur noch ein einziger Wirrwarr von dem vielen Bruder hier und Schwester da, so dass es mir kaum gelang, mich einmal in Ruhe umzusehen."

Als Erfahrungswert kann man zu vorstehender Schilderung wohl nur noch hinzufügen. Das war offenbar der Zeitpunkt, wo der Fisch den sprichwörtlichen Köder an der Angel herunterschluckte.

Man kann sich den weiteren Euphorieweg der sich daran anschloss auch so erahnen, ohne dass es dazu detaillierte Zitate aus dem Buche bedürfte. Wie das mit Euphorie so manchmal ist. Auch sie wird gelegentlich gestört. Noch war Martina  ja keine getaufte Zeugin Jehovas. Noch war sie dabei ihre Eindrücke zu sammeln und zu sortieren. Und da kam dann wohl eines Tages auch solch ein Eindruck, von dem sie anfänglich nicht so recht wusste, wie sie ihn denn einordnen solle:

In ihren Worten:

"Im März studierten wir in der Versammlung den Artikel über den 'Menschen der Gesetzlosigkeit'. Es war derselbe Stoff, der letztes Jahr auf dem Bezirkskongress dargeboten worden war, von diesem (gegen die Kirchen) hetzenden Redner, der wie Hitler geklungen hatte. Fast hatte ich dieses unangenehme Gefühl vergessen, das ich damals dabei gehabt hatte. Durch das Mikrophon hier im Königreichssaal klang es nicht mehr ganz so unwirklich, und außerdem stand es doch so in der Bibel. Vielleicht war es auch nur eine 'menschliche Schwäche' des Redners gewesen, dass er dieses Thema damals so übertrieben reißerisch vorgetragen hatte. Und wir sollten ja die Schwächen unserer Brüder 'mit Liebe zudecken.'

'Abschließend muss ich noch eine Bekanntmachung machen.' Klaus Hoffmann, der wie immer das Studium geleitet und die Fragen vorgelesen hatte, stand noch mit ernster Miene auf dem Podium. 'Bruder Helmut Gollersch ist von jetzt ab kein Ältester mehr.'

Der ganze Saal hielt die Luft an. Alle blickten auf den Mann neben Dieter, der offensichtlich auch sein leiblicher Bruder war. Familie Gollersch aber richtete den Blick nur starr auf das Podium.

'Ich verstehe gar nicht, warum er sich dann überhaupt erst hat zum Ältesten ernennen lassen', raunte Eva Ruth zu, und ich hörte deutlich die Verachtung in ihrer Stimme. Bruder Gollersch war also erst seit kurzem Ältester gewesen und nun anscheinend degradiert worden. Ich hätte zu gerne gewusst warum, aber etwas lag in der Luft, das mir deutlich sagte, dass Fragen hier unerwünscht waren."

Im weiteren Bericht erfährt man dann noch. Das war erst "Stufe eins". Der formelle Gemeinschaftsentzug mit allen Implikationen, wie nicht mehr gegrüßt werden, folgten in diesem Fall noch, ohne dass für Martina  die Gründe ersichtlich wurden. Aber wie sie selbst schon feststellte: Fragen waren da unerwünscht.

Nachhaltig wirksam war diese Episode allerdings nicht. Ersichtlich auch daran, dass Martina  dann am 16. 3. 1991 mit zu den Täuflingen anläßlich eines Reginalkongresses im Kongreßzentrum Trappenkamp gehörte.

Ihren Buchbericht, aufgegliedert in 20 Kapitel und einen Epilog. Diese wiederum in drei thematische Blöcke zusammengefaßt. In diesem Bericht, stellt sie dem dritten Teil, der nach der Taufe beginnt, als Motto ein Bibelwort voran. Mit der Auswahl dieses Mottos durch die Autorin, dürfte wohl, ohne dass man eine Zeile gelesen hat, schon vorab klar sein, was sie nun in der Praxis erwartete, nachdem die Gralulationskur zur Taufe abgeklungen.

Das diesbezügliche Motto entnahm sie 1. Korinther 13, 1.2:

"Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete

und hätte die Liebe nicht,

so wäre ich ein tönendes Erz

oder eine klingende Schelle.

und wenn ich prophetisch reden könnte

und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis

und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen könnte,

und hätte die Liebe nicht,

so wäre ich nichts."

Der Alltag sollte die frisch Getaufte alsbald einholen:

"In der Versammlung bestellte mich Klaus nach dem Studium ins Hinterzimmer.

'Hast du eigentlich schon deinen Blutpass?'

Blutpass? Davon hatte ich ja noch gar nichts gehört. 'Wie bitte?'

'Der Blutpass ist ein Dokument, das alle getaufte Zeugen immer bei sich tragen. Im Ernstfall, wenn man nach einem Unfall zum Beispiel bewusstlos ins Krankenhaus eingeliefert wird, zeigt dieser Pass dem Arzt, dass er keine Bluttransfusion durchführen darf. Du kennst doch das Gebot zur Enthaltung vom Blut?' Seine Stimme hatte einen strengen Zug angenommen, den ich so noch nie von ihm gehört hatte. Hier ging es offenbar um Gehorsam gegenüber Jehova. Ein auch nur ansatzweises Zögern von meiner Seite wäre als Illoyalität Jehova gegenüber aufgefasst worden.

'Nein, ich habe noch keinen. Niemand hat mir einen gegeben', stammelte ich deshalb kleinlaut.

'Ich habe hier einen für dich'. Klaus hielt mir ein kleines Formular unter die Nase, das ich entgegennahm. Es war aus extra dickem Papier, um viel auszuhalten. 'Kein Blut' stand vorne darauf, darunter war ein Transfusionsbeutel abgebildet und durchgestrichen.

'Du solltest so bald wie möglich einen Termin beim Rechtsanwalt ausmachen. Du musst dann vor seinen Augen das Dokument unterschreiben und er wird deine Unterschrift beglaubigen. Nur so ist der Blutpass wirksam!' Seine Stimme halte streng in dem kleinen Raum.

Ich wusste ja, dass ich keiner Bluttransfusion zustinmmen durfte, um das Gebot der Bibel nicht zu verletzten. Aber ich hatte mir ehrlich gesagt nie darüber Gedanken gemacht, was nun wirklich passieren würde, wenn es einmal so weit wäre. Ich hatte gedacht, dann wäre es immer noch früh genug, um mein Gewissen zu prüfen. Aber hier gab es wohl nichts zu prüfen. Hier gab es nur Gehorsam oder Ungehorsam. Nicht einmal Bewusstlosigkeit würde mich vor Gott entschuldigen können.

Ich steckte also die Pappe in meine Tasche und versprach, mich so bald wie möglich darum zu kümmern. Warum sah Klaus mich nur immer so unerbittlich an? Dachte er, ich wollte mich darum drücken, und er war wütend darüber? Oder war er gerade nur ganz der Älteste?"

Im weiteren Verlauf erfährt man, dass die Liebe auch vor dieser jungen Frau nicht halt machte. Allerdings nicht in den von den Zeugen vorgegebenen kanalisierten Bahnen. Man kann unschwer erraten, dass sich daraus ergebende Konflikte vorprogrammiert waren.

Der weitere Lauf der Dinge erschließt sich auch aus dem Satz:

"Am Sonntag, dem 29. September 1991, war ich zum letzten Mal im Königreichssaal. Es war alles so hohl, so hohl! Liebe hatte ich damals, beim ersten Mal, hier zu spüren geglaubt, Freunde zu finden gehofft. Was wusste ich damals von Predigtdruck und Kälte? Von Routine und Eintönigkeit? Von der Tatsache, dass die Angst vor der Vernichtung in Harmagedon nie ganz ruhte?"

Ihren Bericht lässt sie mit den Worten ausklingen:

"Ob die Lehren der Zeugen Jehovas nun eine Art 'Wahrheit' sind oder nicht, muss jeder für sich selbst beleuchten. Letztendlich kommt es aber gar nicht darauf an. Denn es ist die Art und Weise, wie diese Lehren vermittelt werden, die beurteilt werden muss.

Die Freiheit des Glaubens und des Denkens ist unverletzlich; jeder soll das glauben können, was er möchte. Doch anderen Glauben einflößen, Kritik zu ächten, Ängste zu schüren, das Denken, das Bewusstsein und das Verhalten zu kontrollieren und Informationen nicht frei zugänglich sein zu lassen - das ist es, was wir nicht zulassen dürfen.

'Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." (Art. 1, Absatz 1, Grundgesetz)

Und ein paar Sätze weiter vor schreibt sie:

"Vielleicht wäre ich nie so leicht Zeugin Jehovas geworden, wenn es Ruth nicht gegeben hätte und die Freundschaft, die sie mir anbot. Vielleicht wäre ich auch heute noch in diesem System der Bewusstseinskontrolle gefangen und nicht in der Lage Zweifel zuzulassen, wenn ich damals in der Versammlung einen Partner gefunden hätte. Was für ein Mensch wäre dann wohl aus mir geworden? Wahrscheinlich ein kinderloser Pionier, seelisch leer und ausgepumpt, den nur noch die Hoffnung auf die baldige Erlösung durch die Neue Welt und die Angst vor der eigenen Vernichtung bei der Stange hält. Ich bin unendlich dankbar, dass es nicht so gekommen ist.

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