Die Leer-Jahre des Andreas Schmidt

Um es gleich vorweg zu sagen. Dies ist kein Buch, dass einen wesentlichen auf die Zeugen Jehovas bezüglichen Inhalt hätte. Sie werden nur an einer Stelle in einer beiläufigen Bemerkung gestreift. Die ist zudem noch sehr knapp gehalten. Man hätte sich an dieser speziellen Stelle etwas mehr Ausführlichkeit gewünscht, hat aber zu registrieren. Sie ist nicht vorhanden. Gleichwohl ist das fragliche Buch ein Dokument, dass noch heute einem das Blut in den Adern erstarren lässt. Sagt es doch etwas über den verflossenen DDR-Staat aus.

Wenn man heutzutage beispielsweise registriert, dass die SED-Nachfolgepartei PDS zunehmend aufs abschüssige Gleis gerät, dann kann ich dazu nur sagen. Je eher, je besser. Wer sich in der Kontinuität zur SED sieht, der kann meine Unterstützung nicht haben.

Es ist also die Rede von dem 1986 erschienenen Buch des Andreas Schmidt: "Leer-Jahre. Leben und Überleben im DDR-Gulag".

Schmidt, 1957 geboren, hatte, sollte man meinen, einen guten Start. Seine Eltern waren Textilfabrikanten und besaßen eine Fabrik die im Familienbesitz sich schon vor 1945 befand.

Allerdings hatten sie ein "geographisches" Pech. Ihre Fabrik befand sich auf dem Territorium der DDR. Und auf kaltem Wege wurden auch sie faktisch zu DDR-Zeiten enteignet. (Anfang der 1970er Jahre zu Honeckers Machtantritt, der sich dadurch einen "Namen" machen wollte, dass jene Privatbetriebe die Ulbricht noch hatte überleben lassen, verstaatlichen ließ. Mit entsprechendem staatlichen Druck durchgesetzt).

Das verkraftete durchaus nicht jeder, der davon betroffen war. So auch nicht die Familie Schmidt. Einer seiner Bruder versuchte auf dem Fluchtwege nach Westdeutschland zu gelangen und wurde dabei erschossen. Ein zweiter Bruder beging Selbstmord. Andreas Schmidt selbst stellte einen offiziellen Ausreiseantrag, dem allerdings jahrelang nicht stattgegeben wurde. Stattdessen sollte er zweimal in die Justizmaschinerie der DDR gelangen.

Habe ich seine Ausführungen richtig verstanden, die an einigen Stellen doch etwas nebulös bleiben, warf man ihm unter anderem vor, geheimdienstliche Kontakte zum BRD-Geheimdienst BND gehabt zu haben. Grund genug, für den DDR-Staat zuzuschlagen. 12 Jahre Zuchthaus wurden ihm dafür angedroht. Das ganze spielte sich wohl im Jahre 1977 ab.

Formaler Auslöser war wohl, dass Schmidt, der seit seinem Ausreiseantrag gezwungen war, allerniedrigste Arbeiten auszuführen und der sich nach eigenen Angaben innerhalb von 9 Monaten an 13 Stellen 15 mal erfolglos um andere Arbeit bemüht hatte. Und der vom DDR-Staat als "asozial" eingestuft und daher festgenommen wurde. Die "Asozialität" war der eigentliche erste Verhaftungsgrund. Erst später ermittelte die Stasi dann die BND-Kontakte. Jetzt kommt der Punkt wo die Stasi subtil wirkt. In die Verhörmangel genommen wird er erpresst. Forderung der Stasi. Nehmen sie ihren Ausreiseantrag zurück und arbeiten sie mit uns zusammen, dann behalten wir (die Stasi) die BND-Geschichte für uns und es bleibt "nur" bei der Asozialitätsanklage. Schmidt wird schwach und geht auf dieses Ansinnen ein.

Jetzt sei einmal eine entsprechende Passage aus dem Buch von Schmidt zitiert (S. 186, 187):

"Der V(erbindungs) O(ffizier) (der Stasi) lenkte nach einer von Allgemeinplätzen gespickten Strafpredigt ein und gab zu verstehen, daß es Sonderbestimmungen gibt, die sogar Sonderbestimmungen außer Kraft setzen und daß das MfS unter bestimmten Bedingungen nun doch von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens Abstand nehmen würde.

Wie ein Blitz durchzuckte mich die Erleuchtung, was ich eigentlich hier sollte: Das war eine handfeste Anwerbung!

Und schon offenbarte sich der VO vollends.

'Sagen Sie, Schmidt, in Ihrer Zelle liegt doch der Kohlmüller. Was, nun, was halten Sie denn so von dem?'

Ich verstand die Frage nicht so ganz und sagte das auch.

'Nun, stellen Sie sich doch nicht so an. Ich meine, was Sie für einen Eindruck haben von ihm. Er wird ja wohl auch irgendwas von sich geben.

Was erzählt er denn so, der Kohlmüller?'

Ich wußte jetzt, was die Stunde geschlagen hatte. Und was Peter Kohlmüller anbetraf, so war es keineswegs verwunderlich, daß der VO gerade über ihn etwas wissen wollte. Peter war nämlich Zeuge Jehovas, gehörte damit einer streng verbotenen Sekte an und es war klar, daß die Stasi irgendwelche Aktivitäten von ihm auch noch innerhalb des Zuchthauses befürchtete, sei es auch nur die Beeinflussung labiler Mithäftlinge. Ich wußte, Peter hatte 3 ½ Jahre bekommen für die Weitergabe eines Exemplares der Zeitschrift 'Wachtturm'. Logisch, daß die Stasi annehmen mußte, er würde noch weitere Zeitschriften irgendwo versteckt halten.

Ich hätte jetzt sagen können, sagen müssen, daß ich diese Frage nicht beantworte, da ich an einem Haftkameraden keinen Verrat begehen will.

Ich sagte dies nicht. Sondern antwortete.

'Kohlmüller … Naja, da gibt es nicht viel zu sagen. Er ist Zeuge Jehovas, so viel ich weiß. Ansonsten weiß ich nichts von ihm, denn er ist ganz verschlossen und spricht fast nie. Nur das Allernotwendigste geht ihm über die Lippen, und seit er vor einigen Tagen eine Bibel ausgehändigt bekam, vergräbt er sich in dieser und schaut stundenlang nicht auf. Mehr kann ich dazu nicht sagen.'

Trotz der sehr dürftigen Information, die nun wirklich nichts Neues zu bieten hatte, schien der Verbindungsoffizier zufrieden. Er schenkte mir die dritte Tasse Kaffee ein, als er sagte:

'Gut! Sehr gut! Ich sehe, Sie gehören nicht zu den unverbesserlichen Märtyrern - sie glauben jedenfalls, solche zu sein. Nein, Sie sehen der Realität ins Auge. Sie wissen, worauf es ankommt. Und - Sie schätzen den Augenblick richtig ein.

Offenbar werden Sie nicht geplagt von solchen oft vorgeschobenen Bedenken, wie ich immer wieder höre. Das ist gut, wirklich gut. Ich nehme an, Sie sind sich Ihrer Situation bewußt. Nicht von ungefähr deutete ich vorhin an, daß es Ausnahmeregelungen gibt, die Sie unter Straffreiheit stellen können.

Im Klartext: Sind Sie bereit, mit uns oder, besser gesagt, mit mir zusammenzuarbeiten? Es wird Ihr Schade nicht sein. Und vergessen Sie nicht: Zwölf Jahre !!!

Er hatte recht und er wußte, daß er recht hatte. Ganz besonders aber wußte er, daß ich wußte, daß er recht hatte. Das war entscheidend. Analysierte man die Geschichte, wägte man hin und her und auf und ab, beleuchtete man aus allen Richtungen, legte man die verschiedenartigsten Aspekte zugrunde - man kam zu dem Schluß, war man einigermaßen intelligent, daß wohl nur zwei Kategorien Mensch sich verweigerten, könnten sie auch bei anderer Handlungsweise 12 langen Zuchthausjahren entgehen: Nur Idioten oder eben Märtyrer konnten so handeln.

Zu beiden Kategorien fühlte ich mich nicht zugehörig, weder zur einen noch zur anderen. Kann es vernünftig sein, ein Hilfsangebot, ist es auch eine Erpressung, auszuschlagen, wenn man 12 Jahre seines Lebens retten kann, 12 Jahre, in denen man, ist man in Freiheit, so unendlich viel zur Entlarvung des Unrechts namens Kommunismus beitragen kann, so unendlich viel, daß man das begangene Verbrechen hundertfach wiedergutmacht dadurch, so, genau so, wie ich es eben jetzt tue, da ich dies Bekenntnis, diese Beichte ablege? …

Ich sagte zum VO:

'Sie wollen mich also zu Spitzeldiensten anwerben. Ist Ihnen klar, wer ich bin? Kennen Sie meine Familientragödie? Wissen Sie, daß mein einer Bruder von tschechischen Grenzposten abgeknallt worden ist wie ein Hase? Daß der andere Bruder sich erhängte, weil er in einem solchen Land, wie es diese Ihre Republik ist, nicht länger leben konnte? Wissen Sie, was ich schon als Kind durchmachte, weil ich kein Pionier war? Weil mein Vater zu den Blutsaugern und Ausbeutern gehörte? Wie man mich nach dem Tod der Mutter ausgeplündert hat? Mir mein Erbe stahl? - Sie wissen es sicherlich. In Ihren Akten steht doch bestimmt alles. Und da werben Sie mich an, in Ihrem Verein mitzutun? Für wen halten Sie mich eigentlich? Für ein Schwein?'

Schmunzelnd hakte der VO ein.

'Für einen äußerst intelligenten jungen Mann halte ich Sie, der keine Lust verspürt, für 12 oder noch mehr Jahre hinter Gittern zu verschwinden. Und deshalb werden Sie früher oder später ja doch einverstanden sein. Ich rate Ihnen, es lieber früher als zu spät zu tun. Wir können Sie nicht monatelang gegen den Staatsanwalt decken. Wir sind kein Wohltätigkeitsverein, sondern das Ministerium für Staatssicherheit.

Aber wir sind auch keine Unmenschen. Ich gebe Ihnen Bedenkzeit. Sagen wir - in drei Tagen hole ich Sie wieder her. Dann sagen Sie mir, wie Sie sich entschieden haben. Dann aber endgültig.'"

Zum weiteren Verlauf ist anzumerken, dass Schmidt offenbar auf die angedeutete abschüssige Bahn einging. Im Rahmen einer Amnestie wurde er dann im Jahre 1979 entlassen. Entgegen seiner Hoffnung allerdings nicht in die BRD, sondern in die DDR.

Er fuhr nach Ostberlin und gab im dortigen Studio des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) ein an den Fernsehmoderator Löwenthal adressiertes Schreiben ab indem sein Ausreisebegehren erneut untermauert wurde. Später bekam er unter fingiertem Absender eine Antwort vom ZDF. Da befand er sich aber schon erneut wieder in Haft (ab 1981). Jenes Antwortschreiben gelangte in die Hände der Stasi. Da nützte auch der fingierte Absender nichts. Im Rahmen finanzieller Transaktionen, wurde Schmidt im Jahre 1982 von der Bundesrepublik Deutschland dann in den Westen freigekauft.

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