Ziel erreicht …

In die Rubrik Überblicksdarstellungen die Zeit 1933-45 betreffend, gehört auch das im Jahre 2000 in deutscher Übersetzung erschienene Buch von Eric A. Johnson unter dem Titel „Der nationalsozialistische Terror". Johnson stützt sich insbesondere auf eine Auswertung einschlägiger Aktenbestände der Gestapo aus dem Bereich Köln und Krefeld. Auch die Zeugen Jehovas kommen in seiner Betrachtung mit vor. Man kann sie diesen Aspekt betreffend, als weitgehend sachgerecht ansehen. Jedenfalls ist Johnson nicht der Gefahr erliegen, die man von einigen WTG-Gefälligkeitschreibern zur Genüge kennt, nur einen geschönten Bericht abzugeben. Er benennt sowohl Pro als auch Contra und als Resumee bleibt das Ergebnis zurück, dass das Ausmaß der tatsächlich eingetretenen Verfolgungsmaßnahmen, nur durch das „Singen" der davon mitbetroffenen möglich wurde. Jedenfalls erweist sich auch anhand dieser Darstellung, dass z. B. de Frost'schen Thesen „geschwiegen" zu haben in der Praxis nicht haltbar ist.

Symptomatisch ist dafür auch der wertende Satz von Johnson (S. 262):

„Diese Dokumente belegen, dass die Gestapo selbst bei den Zeugen Jehovas, die den Foltermethoden lange standhielten, schließlich doch ihr Ziel erreichte und die Informationen erhielt, nach denen sie suchte."

Nachstehend ein paar Auszüge aus den diesbezüglichen Ausführungen von Johnson:

Die Nachsicht, mit der die Polizei und die Gerichte die meisten Fälle von religiöser Opposition behandelten, zeigt einmal mehr, daß die Nationalsozialisten unterscheiden konnten zwischen geringfügigen Akten der Missbilligung, die sich gegen einige politische Maßnahmen und Führer des Regimes richteten, und ernsthaften Versuchen, die Autorität des NS-Staates zu untergraben. … Erinnern uns daran, dass das Regime gnadenlos reagieren konnte, wenn es sich bedroht fühlte. Eine Gruppe, die vermutlich wie keine andere den Mut fand, dem NS-Regime die Stirn zu bieten, waren die Zeugen Jehovas, die nach Juden und „Zigeunern" am meisten unter dem nationalsozialistischen Terror zu leiden hatten. … waren die Zeugen Jehovas in Deutschland eine vergleichsweise kleine religiöse Minderheit … Tief religiös, aufrecht, nüchtern und arbeitsam, stammten die Mitglieder dieser Gemeinschaft der „Ernsten Bibelforscher", wie sie auch genannt wurden, überwiegend aus den unteren Gesellschaftsschichten. …

Während einige nationalsozialistische Hardliner wie der Ideologe Alfred Rosenberg die Zeugen Jehovas ständig mit Bolschewisten, Freimaurern und Juden in Verbindung brachten, hatten andere NSDAP-Führer richtig erkannt, dass solche Vergleiche völlig unangebracht waren, denn die Zeugen Jehovas hatten für diese Gruppen wenig Sympathie und im Allgemeinen mit ihnen nichts zu tun. Wären sie bereit gewesen, mit der neuen Ordnung Kompromisse einzugehen, und hätten sie ihre Aktivitäten auf den religiösen Bereich beschränkt, wie die meisten anderen religiösen Minderheiten taten, dann hätte das Regime in ihnen lediglich eine unbedeutende Belästigung gesehen und sie weitgehend in Ruhe gelassen. Doch die Zeugen Jehovas waren unbeugsam.

Da sie in dem neuen Regime zunehmend die Inkarnation des Teufels sahen, verweigerten die Mitglieder dieser winzigen Glaubensgemeinschaft nicht nur jeden Kompromiss, sondern gingen mutig und häufig fanatisch in die Offensive. Obwohl ihre Gemeinschaft im Frühjahr 1933 verboten wurde, hielten sie weiterhin ihre Versammlungen ab, organisierten sich und warben neue Mitglieder an, zunächst ganz offen, später im Untergrund. Sie lehnten den Deutschen Gruß und jede Beteiligung an politischen Zeremonien oder politischen und betrieblichen Organisationen der NSDAP ab selbst wenn diese Haltung sie häufig die Stelle kostete, und sie weigerten sich auch dann noch, Militärdienst zu leisten, als das NS-Regime im Frühjahr 1935 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt hatte. Wenn man ihnen anbot, eine Erklärung zu unterschreiben, sich jeglicher illegaler Tätigkeit zu enthalten und ihrem religiösen Glauben zu entsagen, um aus der KZ-Haft entlassen zu werden, langen Freiheitsstrafen oder sogar einem Todesurteil zu entgehen, ließen die wenigsten sich darauf ein. Aus Sicht des Regimes am schlimmsten war jedoch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Zeugen Jehovas unverhohlen ihre Gegnerschaft zum NS-Regime demonstrierte, indem sie Flugblätter und Broschüren in Briefkästen steckten und vor Haustüren legten, die einzelne Beispiele für die nationalsozialistischen Grausamkeiten anprangerten, Folterer in der Partei, der Polizei oder Gestapo namentlich nannten und die Bevölkerung aufriefen, sich vom falschen Propheten Adolf Hitler abzuwenden und ihr Vertrauen in den wahren Erlöser Jesus Christus zu setzen.

Die Zeugen Jehovas mussten für ihre Unnachgiebigkeit und ihren Mut teuer bezahlen.

Vor dem „Röhmputsch« im Juni 1934 ging die SA mit ungezügeltem Terror gegen die Zeugen Jehovas vor; sie organisierte Boykotte ihrer Geschäfte, verwüstete ihre Wohnungen und Werkstätten hei Durchsuchungen und misshandelte sie gnadenlos in den Kellern der SASturmlokale. Nach der Ausschaltung Ernst Röhms setzten die Gerichte und die Gestapo den Terror fort. Das Maß an Sadismus allerdings blieb dasselbe. Wenn die Sondergerichte, die für die meisten dieser Fälle zuständig waren, in ihren Urteilen Milde walten ließen, »korrigierte« die Gestapo die gerichtlichen Entscheidungen und überstellte die Verurteilten unmittelbar nach Verbüßung ihrer Haft in ein Konzentrationslager. In der Regel beauftragten die Leiter der Gestapostellen jeweils einen besonders eifrigen Beamten, den Kampf gegen die Ernsten Bibelforscher zu führen, jemanden, der vor nichts zurückschreckte, um an Informationen zu kommen; manche Zeugen Jehovas überlebten ihre »Vernehmungen" nicht.

Der in Krefeld für die Zeugen Jehovas zuständige Gestapobeamte war Otto Dihr.

Aus den Akten eines Ermittlungsverfahrens wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das am 30. Januar 1948 auf Grund der Klage einer Zeugin Jehovas gegen ihn eröffnet wurde, gewinnt man einen Eindruck von der Brutalität seines Vorgehens und der Mittel, die auch von vielen anderen Gestapobeamten angewandt wurden. Als Dihr sechs Monate später, im Juli 1948, zu der Sache gehört wurde, bestritt er sämtliche Vorwürfe. Er war damals 46 Jahre alt, verheiratet und hatte eine zwölfjährige Tochter. Obwohl er zu dieser Zeit nicht mehr bei der Kripo beschäftigt war und von der öffentlichen Fürsorge lebte, gab er als Beruf Kriminalobersekretär an, seinen letzten Rang. Dihr war 1902 in Krefeld als Sohn einer Kleinbauernfamilie geboren und hatte noch acht Geschwister. Nach Verlassen der Volksschule hatte er bei der Feldarbeit mithelfen und sich mit um die jüngeren Geschwister kümmern müssen. Mit zwanzig Jahren war er in den Polizeidienst gegangen, zunächst zur Brandenburger Schutzpolizei, und hatte bis 1926 in Berlin als Verkehrspolizist gearbeitet. Im April desselben Jahres wurde er nach Krefeld versetzt, wo er bald darauf zur Kripo ging. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung kam er zur Krefelder Gestapo, und im Mai 1937 wurde er Mitglied der NSDAP.

Während seines Prozesses kamen zahlreiche Beispiele für seine Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Sprache. Die 26-jährige Frau, die gegen ihn geklagt hatte, war immer noch Mitglied der Zeugen Jehovas und arbeitete als Büroangestellte in Düsseldorf. Nachdem sie vor Gericht ausgesagt hatte, sie habe von vielen Menschen gehört, dass sie von Dihr misshandelt und ohne Gerichtsurteil ins Konzentrationslager geschickt worden seien, schilderte sie ihre eigenen bedrückenden Erfahrungen, als sie 1943 selbst von Dihr verhört wurde:

»Als ich demselben auf seine Fragen nicht die gewünschte Auskunft gab, verabfolgte er mir eine kräftige Ohrfeige. Dann rief er telefonisch zwei weitere Gestapobeamte, die mich in den Keller führten. Dort traf nach kurzer Zeit Dihr ein. Auf Veranlassung von Dihr zogen mich die beiden Beamten über einen stehenden Tisch. Nach Aufhebung des Kleiderrockes schlugen dann die beiden Beamten mit einem Stock oder etwas ähnlichem auf mein Hinterteil. Nach mehreren Schlägen hielten die Schläger [inne] und Dihr befragte mich erneut. Als ich dann noch keine befriedigende Antwort gab, wurde erneut auf mich eingeschlagen, bis ich erklärte, daß ich aussagen wolle. Darauf wurde ich wieder nach oben gebracht, wo Dihr dann wieder mit der Vernehmung begann. Ich habe meine Straftat, die in illegaler Arbeit gegen die Hitler-Regierung bestand, zugegeben, weil ich es vorzog, eher ein Todesurteil zu erhalten als zu Tode gequält zu werden. Durch die Mißhandlungen war ich einige Tage kaum in der Lage zu gehen, da die Stellen, wo die Schläge hingekommen waren blutunterlaufen waren […] Wegen Beihilfe zur Vorbereitung zum Hochverrat wurde ich am 1.8. 1944 zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt […1 Wegen meiner Glaubensüberzeugung, die auf biblische Lehren sich stützt, kann ich keinen Eid ablegen.«

Weitere Zeugen Jehovas aus Krefeld sagten in ähnlicher Weise darüber aus, wie Dihr ihnen durch Misshandlungen ein Geständnis abgepresst hatte. Andere Zeugen, die nicht zu den Ernsten Bibelforschern gehörten, berichteten ebenfalls über Schläge, und sie sagten unter Eid gegen Dihr aus. Es gehörte zu den Ironien dieses und ähnlicher Prozesse, dass die Zeugen Jehovas zwar häufig die Einzigen waren, die wirklich die Wahrheit sagten, ihre Aussagen aus religiösen Gründen nicht beeideten. Am Ende verurteilte das Krefelder Landgericht Dihr zu zwei Jahren Zuchthaus, wobei ihm sieben Monate seiner Internierungszeit direkt nach dem Krieg angerechnet wurden.

Diese Dokumente belegen, dass die Gestapo selbst bei den Zeugen Jehovas, die den Foltermethoden lange standhielten, schließlich doch ihr Ziel erreichte und die Informationen erhielt, nach denen sie suchte. Dafür mussten die Mitglieder dieser tapferen Religionsgemeinschaft lange Freiheitsstrafen in Gefängnissen und Zuchthäusern verbüßen und wurden häufig anschließend sofort in ein Konzentrationslager verbracht, wo sie barbarische »Willkommenszeremonien« erdulden mussten: Sie wurden wiederholt mit Stahlpeitschen geschlagen oder gezwungen, stundenlang mit im Nacken gefalteten Händen Kniebeugen zu machen. Ihnen wurden in der Regel die schrecklichsten Aufgaben wie das Reinigen der Krematorien und Kloaken zugeteilt, und sie mussten sieben statt der üblichen sechs Tage in der Woche arbeiten. Trotz alledem blieben die meisten Zeugen Jehovas standhaft und ungebrochen. Am Ende trug ihnen ihr Martyrium sogar den widerwilligen Respekt vieler ihrer schlimmsten Peiniger ein. Himmler hatte im Sommer 1944 an Kaltenbrunner geschrieben, »er wolle die Verfolgung der Sekte nach dem Kriege beenden und alle Sektenmitglieder als Pioniere der nationalsozialistischen Herrschaft im Osten gebrauchen«. Dort sollten sie die religiöse Betreuung der »Wehrbauern« vor dem noch zu schaffenden deutschen »Ostwall" übernehmen.

Eine groß angelegte Flugblattaktion vom Juni 1937 ist eines der besten Beispiele für die unerschütterliche Hingabe der Zeugen Jehovas an ihre Sache und die nicht minder fanatische Entschlossenheit des NS-Regimes, ihren Einfluss nachhaltig auszuschalten. Am 20. Juni 1937 exakt um zwölf Uhr mittags begannen Zeugen Jehovas in ganz Deutschland von Tür zu Tür zu gehen und ein zweiseitiges großes Flugblatt mit der Überschrift »Offener Brief: An das bibelgläubige und Christus liebende Volk Deutschlands!« zu verteilen.

In diesem »Offenen Brief« wurde die Staats- und Parteiführung mit starken Worten beschuldigt, gegen die Zeugen Jehovas eine brutale Politik der Verfolgung zu betreiben. Das Flugblatt zählte dafür mehrere konkrete Beispiele auf, auch Fälle von Folterungen, die manchmal tödliche Folgen hatten, durch Gestapobeamte, die in dem Brief namentlich genannt wurden. Es beklagte die Versuche der Nationalsozialisten, die Zeugen Jehovas als Staatsfeinde. Kommunisten und Juden zu brandmarken. Es enthielt den exakten Wortlaut einer eidesstattlichen Versicherung, die nach dem Willen der Nationalsozialisten von den Zeugen Jehovas unterschrieben werden und mit der diese ihrem Glauben abschwören sollten. Und das Flugblatt enthielt die mutige Erklärung der Ernsten Bibelforscher, dass sie weder gebrochen noch eingeschüchtert werden könnten und dass sie im Notfall sogar bereit seien, für ihren Glauben in den Tod zu gehen. …

Zwar gelangten anscheinend 100 000 oder mehr Exemplare des »Offenen Briefs« in die Briefkästen und in die Hauseingänge von Menschen in ganz Deutschland, doch zahlreiche Zeugen Jehovas, die an der Aktion mitwirkten, mussten dafür teuer bezahlen. Die Art und Weise, wie Gestapobeamte Jagd auf die Beteiligten machten, war typisch dafür, wie sie auch in anderen Fällen gegen die Zeugen Jehovas vorgingen. Hatten sie erst einmal einen von ihnen gefasst, misshandelten sie ihn so lange, bis er die Namen von einigen Glaubensgenossen preisgab, die ihrerseits verhaftet und gefoltert und anschließend in ein Konzentrationslager verbracht wurden, wo viele von ihnen umkamen.

Der erste, der wegen dieser Flugblattaktion verhaftet wurde, war ein 55 Jahre alter Krefelder Arbeiter, Kriegsveteran und Vater von sechs Kindern namens Hubert H., der im Jahr zuvor bereits eine sechsmonatige Gefängnisstrafe wegen seiner Aktivitäten als Ernster Bibelforscher verbüßt hatte. Hubert H. wurde von einem Zellenleiter namens Ludwig W. ertappt, als er gerade in der Prinz-Ferdinand-Straße in Krefeld die letzten Exemplare des »Offenen Briefs« verteilte. Ludwig W. nahm ihn fest und brachte ihn unverzüglich ins Polizeipräsidium, wo Kriminalassistent Otto Dihr den Fall übernahm. Während seiner Vernehmungen, die sich über mehrere Tage erstreckten, bemühte sich Hubert H. tapfer, keine Informationen preiszugeben, die andere belasten konnten. In seiner ersten Aussage vom 22. Juni gab er zu, Mitglied der Zeugen Jehovas zu sein und Exemplare des »Offenen Briefs« verteilt zu haben. Im Übrigen versuchte er, Dihr auf eine falsche Fährte zu locken. In seiner ersten Darstellung der Ereignisse erklärte er, er habe am 20. Juni um 11.30 Uhr seine Krefelder Wohnung verlassen, um seine entlaufene Katze zu suchen. An der Haustür des Mietshauses, in dem er wohnte, begegnete ihm eine junge Frau, die ihn fragte, ob er Hubert H. sei, was er bejahte. Daraufhin gab sie ihm einen zusammengefalteten, handgeschriebenen Brief mit dem Briefkopf der Zeugen Jehovas, den er anschließend auf der Toilette in seiner Wohnung las. Das Schreiben enthielt die Anweisung, um zwölf Uhr mittags zum Krefelder Hauptbahnhof zu gehen. Dort würde eine Frau in dunkler Kleidung mit einem weißen Taschentuch in der linken Hand auf ihn warten. Er selbst solle als Erkennungszeichen ein weißes Taschentuch in der rechten Hand halten. Sie würde ihm 25 Exemplare eines Briefes aushändigen, die er in verschiedene Briefkästen in Krefeld werfen sollte. Als Ludwig W. Ihn festnahm, hatte Hubert H. nur noch drei Exemplare des Flugblattes bei sich.

Dihr gab sich mit dieser Geschichte keineswegs zufrieden und vernahm Hubert H. am selben Tag noch einmal. Dieser beteuerte erneut, er kenne weder die Namen noch den Aufenthaltsort der beiden Frauen, von denen er den Brief und die Flugblätter erhalten habe. Auch könne er ihr Äußeres nicht beschreiben, da er sie nur kurz gesehen habe. Er räumte ein, ihm sei bekannt, dass das Verteilen der Flugblätter eine unerlaubte Handlung gewesen sei, aber er habe es trotzdem gemacht, um den [sic!] großen Schöpfer Jehova seinen Willen auszuführen«. Und schließlich behauptete er, ansonsten sei ihm über die Bewegung der Zeugen Jehovas oder die Flugblattkampagne nichts bekannt.

Zwei Tage später vernahm Dihr Hubert H. erneut. Diesmal war er erfolgreicher und bekam heraus, was er von ihm erfahren wollte - Informationen, die zur Verhaftung von acht weiteren Personen führten, fünf Männern und drei Frauen, zumeist Bergleute, einfache Arbeiter und Hausfrauen. Hubert H. begann seine neue Aussage mit den Worten: »Nachdem ich eingehend zur Wahrheit ermahnt worden bin und mir auch die Vorteile eines Geständnisses vor Augen geführt worden sind, erkläre ich hiermit, daß ich jetzt die Wahrheit sagen will.« Offenbar war Hubert H. Nachdrücklich vor den Konsequenzen für ihn selbst und seine Familie gewarnt worden, falls er sich weiterhin weigern sollte, auszupacken. Nach allem was wir über die Vernehmungsmethoden Dihrs in anderen Fällen wissen, dürfen wir davon ausgehen, dass Hubert H. in den vorangegangenen Tagen körperlich und seelisch brutal misshandelt wurde. In Dihrs eigenem Bericht über den Fall, den er knapp einen Monat später, am 16. Juli, verfasste, erklärte er, seine Vernehmung von Hubert H. sei zwangsläufig »eingehend« gewesen und habe »sich zunächst infolge seines hartnäckigen Leugnens über einige Tage erstreckt«.

In seiner neuen Schilderung der Vorgänge, die zu seiner Verhaftung geführt hatten, gab Hubert H. zu, dass seine ursprüngliche Geschichte eine Erfindung war. In Wirklichkeit wusste er seit längerem von der bevorstehenden Flugblattaktion. Nachdem er im Dezember 1936 aus dem Gefängnis entlassen worden war, hatte der Führer der Sekte in Rheinberg und Moers, ein 46-jähriger Lokomotivführer namens Johann C., Verbindung mit ihm aufgenommen und ihn gebeten, sich auch weiterhin an den illegalen Unternehmungen der Glaubensgemeinschaft zu beteiligen. Im Frühjahr 1937 kam Hubert H. mit einem anderen Mann, einem 54 Jahre alten Bergmann namens Heinrich T., zusammen, der ihm nähere Einzelheiten über die bevorstehende Flugblattaktion mitteilte, die „in ganz Deutschland« durchgeführt werden sollte. Heinrich T. sagte ihm, die Aktion werde überall genau um zwölf Uhr mittags beginnen und exakt eine halbe Stunde dauern. Die Geschichte, die Hubert H. ursprünglich zur Irreführung Dihrs erzählt hatte, sei dieselbe Geschichte, die alle Zeugen Jehovas in ganz Deutschland erzählen sollten, falls sie verhaftet würden.

Nach diesem Geständnis nahm Kriminalassistent Dihr Hubert H. in »Schutzhaft«, verhaftete alle acht Personen, deren Namen dieser ihm genannt hatte, und vernahm sie ebenfalls. Dihrs Bericht vom 16. Juli zufolge weigerten sich alle Verhafteten zunächst hartnäckig, die Wahrheit zu sagen, doch auch sie legten letztlich alle ein Geständnis ab. Als Ersten verhörte er einen 28-jährigen ledigen Maschinisten namens Karl H. aus Krefeld. Nachdem Dihr ihn entsprechend unter Druck gesetzt hatte, sagte Karl H. schließlich aus, er gehöre seit 1933 den Zeugen Jehovas an und habe an der Flugblattaktion vom 20. Juni teilgenommen. Nachdem er die Namen von mehreren Personen genannt hatte, die ebenfalls beteiligt waren, wurde seine Vernehmung abgebrochen. Später setzte er seine Aussage mit den einleitenden Worten fort: »Ich muss zugeben«, was darauf hindeutet, dass Dihr ihm schwer zugesetzt hatte. Er nannte die Namen von etlichen weiteren Beteiligten und setzte hinzu, dass Hubert H. die Aktion in Krefeld geleitet habe. Außerdem gestand er, selbst mehrere Personen für das Verteilen der Flugblätter angeworben zu haben, darunter seine eigene Mutter.

Diese Frau war eine 48-jährige Witwe. Sie wurde verhaftet und wie die anderen erheblich unter Druck gesetzt. Am Ende schilderte sie ausführlich, wie die ganze Aktion abgelaufen war, und nannte sogar ihre beiden Söhne als Mitbeteiligte. Sie und ihr bereits vernommener Sohn waren nicht die Einzigen, die im Verlauf ihrer ng Familienmitglieder belasteten. Bevor die Vernehmungen der beschuldigten Zeugen Jehovas in Krefeld abgeschlossen waren, hatten sich auch noch zwei Ehepartner gegenseitig belastet, und ein Mann hatte eine Aussage gemacht, die zur Verhaftung seines Sohnes führte.

Wie brutal diese Vernehmungen geführt wurden, zeigt auch die ,Akte eines damals 38-jährigen Färbereiarbeiters namens Karl W. Der Vater von zwei Kindern und Träger des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg war einer der Zeugen, die 1948 in dem Prozess gegen Otto Dihr aussagten. Bei seiner ersten Vernehmung durch Dihr 1937 hatte W. sofort zugegeben, den Zeugen Jehovas anzugehören und an früheren Flugblattaktionen beteiligt gewesen zu sein.

Er bestritt jedoch entschieden, bei der jüngsten Aktion mitgemacht zu haben. Als Dihr ihn ein zweites Mal verhörte, stritt er seine Beteiligung immer noch ab und gab auch sonst keine Informationen oder Namen von Beteiligten preis. Während seiner dritten Vernehmung wurde Hubert H. ins Vernehmungszimmer gebracht. Im Beisein von Karl W. sagte Hubert H. aus, er habe Karl persönlich zwei Pakete mit den Flugblättern ausgehändigt, die dieser sehr wohl verteilt habe. Bei seiner vierten Vernehmung W.s Widerstand schließlich gebrochen, und er sagte alles aus, was er wusste. Nach seiner Aussage in dem Prozess gegen Dihr nach dem Krieg hatte dieser ihn von Anfang an brutal behandelt. Als Dihr bei bei Karl W.s erster Vernehmung nichts aus ihm herausbringen konnte, habe er ihn zweimal ins Gesicht geschlagen, »sodaß das Zahnfleisch blutete und die Zähne schmerzten«. Es war ein Wunder, dass er überhaupt so lange durchhielt.

Die Informationen, die Dihr aus diesen Leuten herauspresste, ermöglichten ihm die Verhaftung von 25 Personen in Krefeld, die ein Prozess vor dem Düsseldorfer Sondergericht am 6. August 1937 alle zu Gefängnisstrafen zwischen vier Monaten und zwei Jahren verurteilt wurden. Mehr noch: Die Gestapo konnte auch in anderen Städten zahlreiche Verhaftungen vornehmen.

Otto Dihrs Abschlussbericht zu dem Fall lässt sich einiges über den Ursprung und den weiteren Verlauf der gesamten Flugblattaktion sowie über die wichtige Rolle entnehmen, die Dihr persönlich beim Vorgehen der Gestapo gegen die Zeugen Jehovas in einem Großteil von Mittel- und Norddeutschland gespielt hat. Während der Vernehmung der Verdächtigen in Krefeld erfuhr Dihr, Johann C. (dessen Namen Hubert H. ihm genannt hatte) habe die Aktion in der gesamten Region Niederrhein geleitet. Johann C. und ein weiteres führendes Gemeindemitglied namens Albert W., der zum Zeitpunkt von Johann C.s Verhaftung geflohen und unauffindbar war, hatten einen Bauern und ehemaligen Lkw-Fahrer namens Peter L. aus Moers beauftragt, mehrere große Pakete mit den Flugblättern auf seinen Lkw zu laden und in verschiedenen deutschen Städten auszuliefern.

Peter L.s lange Reise begann am 9. Juni. Um elf Uhr abends traf er Albert W. vor dem Krefelder Hauptbahnhof. Albert W. gab ihm die Hälfte eines in der Mitte durchgerissenen Zehnmarkscheins und wies ihn an, bei jedem der folgenden Treffs als Erkennungszeichen einen Kunstblumenstrauß hinter den Scheibenwischer zu klemmen. Zunächst solle er nach Herford fahren, wo ein Mann auf ihn warten und ihm die andere Hälfte des Zehnmarkscheins sowie weitere Instruktionen geben werde. Von dort sollte er weiter nach Hannover fahren, wo ihn wiederum ein Mann erwarten und ihn fragen werde, ob er zehn Mark wechseln könne. Danach sollte er verschiedene andere Städte anfahren und bei bestimmten Kontaktpersonen, die ihn alle fragen würden, ob er einen Zehnmarkschein wechseln könne, die Pakete abladen. Als Peter L. seine Kontaktperson in Herford traf, gab diese einem Dritten ein Zeichen, und beide stiegen zu ihm in den Wagen. Die beiden Männer wiesen ihn an, durch eine dunkle und ihm unbekannte Gegend zu fahren. Etwa 20 bis 30 Kilometer außerhalb Herfords fuhren sie an einer unbeleuchteten Tankstelle vorbei. Das Einzige, was er unterwegs erkannt habe, sei ein Straßenschild mit der Aufschrift »Lemgo« gewesen. Nach einer weiteren Fahrt von einigen Kilometern bogen sie auf einen unbefestigten Feldweg ein. Kurz danach musste Peter L. vor einem Haus anhalten, vor dem zwei Männer warteten. Diese Männer brauchten etwa zehn Minuten, um Pakete einzuladen, die vielleicht dein Gewicht von fünf erwachsenen Personen entsprachen. Von da an fuhr er ohne Begleitung zu einem bestimmten Treffpunkt in Hannover. Seine dortige Kontaktperson fuhr mit einem Fahrrad vor ihm her und führte ihn zu einem leeren Lagerschuppen, wo er zehn bis zwölf Pakete ahlud, in denen sich seiner Schätzung nach 60 000 Flugblätter befanden. Von dort fuhr er nach Dortmund, wo er weitere sechs Pakete mit schätzungsweise 30 000 Flugblättern entlud. Dort traf er Albert W., der mit ihm nach Duisburg fuhr. In Duisburg packte Albert W. einen großen Koffer mit den Flugblättern voll und verließ Peter L., der nach Moers zurückfuhr und die letzten 1500 Flugblätter seinemVater übergab.

Die meisten dieser Details verriet der 32 Jahre alte Peter L. der Gestapo während seiner Vernehmung in Krefeld. Später fuhr er mit zwei Krefelder Gestapobeamten, Dihr und van der Rheydt, und einem Düsseldorfer Beamten namens Heinzelmann zu den einzelnen Stellen, an denen er die Pakete mit den Flugblättern aufgeladen und später wieder abgeladen hatte, und zeigte ihnen genau, wo er gewesen war. Das führte zu zahlreichen weiteren Verhaftungen in den Städten, die er angefahren hatte. Am Ende war die Gestapo in der Lage, fast alle zu verhaften, die an der Aktion beteiligt waren. Zur »Belohnung« für seine Aussagebereitschaft empfahl Dihr dem Gericht »eine entsprechend milde Beurteilung« von Peter L. L. erhielt sechs Monate Gefängnis. Sein Vater, ein 58-jähriger Bauer aus Moers, kam nicht so glimpflich davon. Nachdem er seine Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verbüßt hatte, nahm die Gestapo ihn erneut fest und schickte ihn in ein Konzentrationslager, aus dem er nicht mehr lebend herauskam.

Es ist wichtig festzuhalten, dass Denunziationen bei der Verfolgung der Zeugen Jehovas ebenso wenig eine Rolle gespielt haben wie bei der Verfolgung von Geistlichen der beiden christlichen Kirchen in Deutschland, die den Mut fanden, gegen das NS-Regime und dessen Vorgehen gegen die linke Opposition aufzustehen. Die Beweise, auf deren Grundlage die Gestapo die religiösen Gegner des Regimes vor Gericht brachte, stammten zum größten Teil aus erzwungenen Geständnissen oder aus Informationen von Gestapospitzeln.

ZurIndexseite