Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Cornelia Gerecke

In einer auch als Buch vorliegenden juristischen Dissertation aus dem Jahre 2001, geht Cornelia Gerecke der Frage nach: "Elterliches Erziehungsrecht und die Religion des Kindes". Ihr erfasster Beobachtungszeitraum umfasst die Jahre von 1900 bis 2000; soweit sich diesbezüglich relevantes auch in juristischen Publikationen (Bücher, Zeitschriften) niedergeschlagen hat.

Wundert es einen? Von den klassischen "kleineren Religionsgemeinschaften" findet man weder über die Neuapostolische Kirche, noch die Siebenten-Tags-Adventisten, noch etlichen anderen diesem Bereich zuzuordnenden Religionsgemeinschaften, irgendwelche Ausführungen zum Thema, die sich justitiabel niedergeschlagen hätten. Mir scheint, es gibt da wohl nicht viel zu wundern; dieweil vorgenannte eben nicht in relevantem Umfang die Gerichte beschäftigt haben.

Ganz anders indes (auch da gibt es nichts zu "wundern") im Falle Zeugen Jehovas. Die sind in der Tat bis heute Gerichtaktenkundig geworden. Und so beschäftigt sich denn ein wesentlicher Teil der Ausführungen von Frau Gerecke, eben mit letzteren.

Auch hier ist noch zu unterscheiden. Zur Zeit der Weimarer Republik waren auch die Bibelforscher (Zeugen Jehovas) kein diesbezügliches Thema. Das sollte sich erst mit dem Anbruch des Naziregimes ändern. Hier wurde alsbald deutlich. Das Staatsinteresse optierte dafür, den Zeugen Jehovas das Erziehungsrecht abzusprechen und viele leidvolle Beispiele dafür sind bekannt. Ob die indes mit dem jeweiligen Kindeswohl auch "identisch" waren, kann man zu recht bezweifeln. Dennoch bemühte sich der NS-Staat nach Kräften, seine staatliche Interessenlage in der Frage durchzusetzen.

Der Nachfolgestaat Bundesrepublik Deutschland geht die diesbezüglichen Fragen und Fälle grundsätzlich behutsamer an. Staatsraison ist hier nicht das Kriterium. Kriterium ist das Kindeswohl. Trotz dieser grundsätzlichen Änderung sind aber auch in der BRD etliche Fälle dieses Bereiches vor die Gerichte gelangt; und einen Detailausschnitt davon, findet man auch in der Arbeit von Frau Gerecke widergespiegelt.

Zitat (S. 145):

"Die Probleme, die hier auftreten, stehen im Zusammenhang mit den oftmals von Sektenanhängern vertretenen restriktiven Erziehungsmethoden. Problematisch erscheint die Zugehörigkeit zu Sekten erst zu werden, wenn die Ehe der Eltern geschieden wird und das Familiengericht die Frage der Sorgerechtszuweisung zu klären hat. Der eine Elternteil möchte die Zugehörigkeit des anderen Elternteils zu einer Minderheitenreligion zu seinem Vorteil nutzen, indem er eine Erziehung in diesem Glauben als nachteilhaft darstellt, während bei bestehender Ehe diese Religionsunterschiede offensichtlich weniger Probleme verursacht haben.

Die Religionsfreiheit gibt den Eltern nicht das Recht, ihre Kinder zum Instrument und Objekt ihres Glaubens zu machen. Die Entwicklung des Kindes zu einem selbständigen, gesellschaftsfähigen Menschen darf nicht beschnitten werden. Dies kann sich zum einen als Begleiterscheinung der an sich grundrechtlich geschützten Religionsausübung der Eltern (wie beispielsweise Vernachlässigung des Kindes oder Mitnehmen zu Missionstätigkeiten) oder aus der Grundstruktur der Sekte, die die Persönlichkeitsentfaltung des Kindes direkt beschränkt, ergeben."

Ein für die Zeugen Jehovas positiv ausgegangener Fall ist der vom Landgericht Lübeck mit Beschluss vom 2. 12. 1963 verhandelte. Da hatte ein fünfzehnjähriges Mädchen, offenbar von ihrer Mutter im Sinne der Zeugen Jehovas erzogen und auch beim Zeugen-üblichen "Predigtdienst" mit eingesetzt; denn Versuch unternommen, sich von den Zeugen Jehovas abzunabeln. Sie wollte (als Fünfzehnjährige) nunmehr in die evangelische Kirche eintreten und ihre Mutter war über diesen Entschluss wohl so konsterniert, dass der Fall schließlich vor Gericht landete. Durch das Alter bedingt, bestand da eine gewisse "Grauzone". Einerseits akzeptierte das Gericht eine schon bestehende Religionsmündigkeit. Andererseits war die Betreffende mit fünfzehn Jahren, auch noch gewissen elterlichen Auflagen unterworfen; dieweil sie gesetzlich noch nicht volljährig war. In der gerichtlichen Beweisaufnahme ergab sich dann, dass sie einen 23jährigen Freund hatte; und ihrerseits die Eltern dieses Freundes, auch als Eltern titulierte.

Das Gericht urteilte:

"Der Eintritt in die evangelische Glaubensgemeinschaft diene hauptsächlich dazu, das Verhältnis zu ihrem Freund zu verstärken. Wenn die Mutter dieser Verbindung entgegentreten möchte und durch ihr Verhalten auch im religiösen Bereich Einfluß auf ihre Tochter nehme, sei darin noch kein Mißbrauch des Sorgerechts zu sehen."

Formal hatten in diesem Fall also die Zeugen gesiegt. Nicht ausgeführt indes ist, wie die Betreffende dann wohl nach dem erreichen des 21. Lebensjahre (damaliges Alter für die Volljährigkeit in der alten BRD) verhalten hat. Nicht kommentiert ist; ob dies wirklich "für" die Zeugen Jehovas spricht, wenn die Mutter glaubt den Ausbruchsversuch ihrer Tochter von den Zeugen Jehovas, nur mittels des Gerichtes stoppen zu können.

Der nächste vorgestellte Fall, Beschluss des Oberlandesgerichts Celle vom 21. 2. 1994, betrifft einen Bluttransfusionsfall. Es handelte sich um ein zu früh geborenes Kind, und die ärztliche Einschätzung, es könne nur mittels einer Bluttransfusion gegebenenfalls überleben.

Das bekannte Trauerspiel begann. Die Eltern sagten: Nein. Daraufhin wurde das zuständige Vormundschaftsgericht mit eingeschaltet, und per einstweiliger Anordnung den Eltern teilweise das Personensorgerecht entzogen.

"Die Eltern haben am gleichen Tag Beschwerde gegen den Beschluß der Gerichtes eingelegt … Das Gericht hat die Beschwerde direkt dem Beschwerdegericht vorgelegt, welches diese zurückgewiesen hat. Die Eltern legten weitere Beschwerde ein, woraufhin das Gericht die elterliche Einwilligung durch Beschluß ersetzte."

Also zusammengefasst. Der Fall beschäftigte mehrere Gerichtsinstanzen und in der Sache unterlagen die Zeugen Jehovas-Eltern. Es fragt sich nur. Um das bestätigt zu bekommen. Bedarf es da Gerichtsverhandlungen über mehrere Instanzen?

Ein Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 2. 12. 1993 wird auch noch zitiert. Zu ihm merkt die Autorin an, dass er "entgegen der sonst wohl vorherrschenden Meinung" in vergleichbaren Fällen erfolgte. Dennoch ist nicht uninteressant zu sehen, zu welchem Ergebnis dieses "Außenseiter-Gericht" da kam. Es hatte es nämlich abgelehnt in der Frage des Sorgerechtes, nach einer Scheidung, dass Sorgerecht dem Ehepartner zuzubilligen, der den Zeugen Jehovas angehört.

Zitat (S. 171):

"Das Gericht stützte seine Entscheidung darauf, daß die Kinder durch fundamentalistische Auffassungen und Erziehungsmethoden psychisch beeinträchtigt würden. Durch die Erziehung würden die Kinder in eine Außenseiterrolle gedrängt werden, was vom Staat aufgrund seines Wächteramtes, das er durch Art. 6 G(rund)G(esetz) zugewiesen bekommen habe, nicht hingenommen werden könne. Durch die Beschwörung der Entscheidungsschlacht von Harmagedon würden die Kinder in Angstzustände versetzt werden. Der Mutter, die Zeugin Jehovas war, werde ein Vorwurf wegen ihres repressiven Erziehungsstiles gemacht, nicht wegen ihres Glaubens. Da anderen Eltern ihr repressiver Erziehungsstil im Sorgerechtsverfahren auch zum Nachteil gereichen könne, könne auch ein auf einem religiösen Glauben basierender Erziehungsstil Berücksichtigung finden. Der Vater konnte die Kinder besser und angstfrei erziehen, weshalb ihm alleine das Sorgerecht übertragen wurde."

Und die Autorin merkt noch weiter mit an:

"Anhand der steigenden Anzahl von Entscheidungen, die gerade in den letzten Jahren veröffentlicht wurden, zeigt sich die zunehmende Praxisrelevanz, die die Erziehungsvorstellungen der Zeugen Jehovas im Rahmen von Sorgerechtsverfahren inne hat."

Allerdings - es wurde schon gesagt. Die zitierte Auffassung des Oberlandesgerichtes Frankfurt/M. erweist sich im Kontext anderer, ähnlicher Gerichtsentscheidungen, als Minderheiten-Urteil. Bemängelt wird dabei unter anderem, dass die Sorgerechtsübertragung auf den Vater, nicht pauschal außer Kraft setzen kann; welcher Elternteil die emotional engeren Beziehungen zu den Kindern hat. Und das eine "Angsterziehung" auch durch etliche andere Umstände denkbar wäre (keinesfalls nur religiös motivierte). Und: "Bei der Entscheidung sei außerdem zu beachten, ob die Eltern einvernehmlich miteinander umgehen, oder ob die Kinder zum Streitgegenstand werden.".

Insgesamt erweckt die Autorin aber doch den Eindruck; als schließe auch sie sich den Kritikern der Entscheidung des OLG Frankfurt/M. an. Man mag auch durch das "Auf und Ab" der unterschiedlichen Positionen in solchen Fragen "hin- und hergerissen" sein; so macht doch allein der Umstand nachdenklich; dass solche Fälle bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechtsfragen gezogen wurden, wie in einem ursprünglich in Österreich anhängigen Fall aus dem Jahre 1993.

Es bleibt der fade Nachgeschmack zurück, wie es wohl um die inneren Strukturen einer Religionsgemeinschaft bestellt ist, die ihre vermeintlichen Rechte, nicht selten erst auf höchstrichterlicher Ebene glaubt wahren zu können.

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