Der Thesenanschlag des Jürgen Fliege

Bergisches Land. Das ist die Gegend um Elberfeld und Barmen. Eine fromme Gegend. Eine Hochburg diverser kleinerer Religionsgemeinschaften. Auch heute noch. Eine Gegend wo die Bibelforscher in Deutschland ihre ersten Wurzeln schlugen. Eine Gegend die schon Friedrich Engels als "Muckertal" verschrie.

Wer hätte es gedacht. Genau aus diesem Bergischen Land stammt auch einer der bekanntesten deutschen Fernsehpfarrer, der Pastor und Talkmaster Jürgen Fliege.

Wer hätte es weiter gedacht: Jener Jürgen Fliege hat sich offenbar den historischen Thesenanschlag des Martin Luther an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg zum Vorbild genommen und hat seinerseits einen "Thesenanschlag" absolviert. Wahrlich kein unverbindliches "Sonntagsgerede". Er nennt da in der Tat Ross und Reiter. Und das alles noch dazu in deutlichen Worten.

Auch Fliege hatte, wie könnte es anders sein, einmal Kontakt mit den Zeugen Jehovas. Und rückblickend notiert er über sie:

Die beiden kamen zu mir an die Wohnungstür in Düsseldorf und stellten sich als Mitglieder der weltweiten Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas vor. … Aus heutiger Sicht ist mir klar, dass die beiden zu mir gekommen waren, um mir zu zeigen, dass es Sektierern nicht nur reicht, immer Recht haben zu wollen. Sie wollten uns auch noch Angst machen. Und das konnten diese beiden bieder gekleideten Zeugen besonders gut.

Sie nutzten dafür ein seit Ewigkeiten bewährtes Instrument. Sie halten ein merkwürdiges Verständnis vom Ende der Welt. Es sollte bald kommen, sagten sie. Alles lag ihrer Meinung nach klar am Tage. Man musste nur zwei und zwei zusammenzählen können und mit dieser Kunst die alte Heilige Schrift lesen Seite für Seite, Buch für Buch. Besonders aber das letzte Buch des Neuen Testaments, wo über das Ende der Welt geweissagt wird. Aber auch das Buch eines Sehers aus dem Alten Testament, das Buch des Propheten Hesekiel in der jüdischen Bibel.

In beiden Büchern beschränkten sich die beiden Zeugen auf Zahlen und Zahlengeheimnisse. Zahlenmystik war ihr Spezialgebiet.

Sie predigten und lehrten mich einen Jehova, der nur die Menschen in seinen Himmel lässt, die vorher bei Adam Riese in der Schule waren. Was sie lehrten war lächerlich. Trotzdem ist es, weltweit gesehen, nicht unwirksam.

Und als Gesamteinschätzung urteilt er über die Zeugen Jehovas:

Ihr Hauptmotiv schien mir nie die Befreiung der Menschen von der Lebensangst gewesen zu sein, sondern neues Blut für die Angstgemeinschaft saugen zu gehen. Je mehr Menschen mitmachen, desto plausibler ist das System. Millionen Leute können nicht irren. Glaubensgemeinschaften sind - wie der Kapitalismus mit dem Erreichten nie zufrieden. Mission ist da eine Art Substanzerhaltung.

Weitere Erfahrungen dieser Art schildert Fliege. Den Sektierern insgesamt bescheinigt er:

Ihr Sektierer seid da wohl einer wie der andere. Ich weiß noch, wie mir in meiner Jugend einer unserer Prediger empfahl, mich in eine psychiatrische Klinik einweisen zu lassen, nur weil ich mit ihm diskutieren wollte. Nur weil ich herausbekommen wollte, woher diese Enge kam, aus der heraus er den Frauen der Gemeinde weiterhin empfahl, in der Gemeinde den Mund zu halten. Nur, weil es so in der alten Bibel stand. Der den Frauen den Besuch beim Frisör übel nahm, nur weil sie mit abgeschnittenen Haaren zurückkommen könnten. Und das war verboten, nur weil es so in der Bibel stand! Was ist das für eine Religion! Vom Umgang mit sexuellen Minderheiten wie Schwulen oder Lesben will ich hier gar nicht reden. Da fürchte ich mich über vierzig Jahre später noch übergeben zu müssen - was da angedeutet und gepredigt wurde."

Auch beachtlich sein Urteil:

Etwas anderes zeichnet einen Sektierer aus. Er wähnt sich nicht nur im Besitz der Wahrheit - wer tut das nicht ein bisschen -,sondern er spricht den anderen jede Wahrnehmung von Wahrheit ab. Ich gut, du böse! Ich wahr. du falsch! Das ist das theologische Niveau der Animal Farm, jener von George Orwell ersonnenen Farm der Tiere, auf der den Schweinen von einem falschen Schweinepropheten und Guru beigebracht wird, dass die Welt in Gute und Böse zerfallen soll - also in die Hälfte der guten Menschen, die die Wahrheit kennen, und in die böse, dunkle Hälfte der Welt und ihrer Menschen, die die Wahrheit eben nicht haben. An dieser tiefen Überzeugung lässt kein Sektierer rütteln. Da hilft nicht einmal eine Gehirnwäsche....

Nachdem Fliege derart im Detail die verschiedenen Sektierer der Neuzeit charakterisiert hat, nimmt er sich die Freiheit einen weiteren Sektierer zu benennen. Ja, er bleibt auch da nicht im unverbindlichen. Er spricht diesen Sektierer mit seinem Klarnamen an! Er sagt dem so definierten klar ins Gesicht:

Ihre Sprache. Herr Präsident, kenne ich übrigens schon lange. Nicht erst von Ihnen. Ich meine gar nicht Ihre persönlichen Worte. Ich meine die Art zu sprechen, das Pathos, die Bilder, die ständig mitlaufende Drohung, sozusagen säuselnder Originalton mit drohendem Untertitel. Die Art und die Worte, die Sie wählen. sind mir sehr vertraut. Es ist die Sprache der Sektierer.

Erinnerungen steigen auf, wenn Sie reden Herr Präsident. Ich kenne diese Wortwahl und die begleitende Gestik aus meiner Kindheit. Da führten sieh einmal im Jahr in in meiner Heimat auf der Kanzel Wanderprediger auf. Die faszinierten die Menschen meiner kleinen Heimatstadt, die so groß ist wie Ihre kleine Stadt in Texas. Wanderprediger lieben offenbar kleine Städte. Und die Menschen der kleinen Städte lieben Wanderprediger. Die frommen Fremden und die fremden Frommen können einem so richtig schön Angst machen. Und nach einer guten Stunde Schaudern ist man erlöst. Sie machen einem die Hölle heiß und man erlebt das wie eine geistliche Sauna. Es erfrischt einen irgendwie. Wer die Mechanismen frommer Rhetorik nicht kennt, fällt ihnen gnadenlos zum Opfer.

Die meisten Menschen geben ihr Seelenheil gerne in anderer Leute Hände. Besonders wenn sie krank sind oder in Not. Es ist wie beim Arzt: "Herr Doktor, befiehl, ich folge dir!" Je fremder und exotischer der Arzt ist, um so bereitwilliger vertrauen ihm die Leute. Es ist wie ein Rausch. Der Kater kommt wie immer später. ..

Und so kamen und kommen die Menschen zuhauf in die Gotteshäuser und setzten sich und ihre Seelen der schwarzen Predigt und Pädagogik aus. Erst Bange machen, dann erlösen! Im Namen Gottes natürlich. Da wird gejohlt und gesiegt, dass sich die Kirchenbänke biegen. Es ist immer ein ungleicher Kampf. Und man hat bei mehrmaliger Aufführung desselben Stückes mehr und mehr Lust, mit seinem Herzen auf die Seite des Bösen umzuschwenken. Die Arroganz der Macht vergiftet sich selbst am besten.

Erinnerungen kommen, immer deutlicher: Wann war es bei uns zu Hause, in unserer Kirche im Bergischen Land, am vollsten? Wann drängten sich die Leute sogar auf den Gängen? Immer dann, wenn die Wanderprediger sich an einem sonst ganz normalen Donnerstag an die Endzeit heranmachten, wenn der Teufel endlich einmal wieder an die Wand gemalt wurde, mit Hofstaat und Dämonen. Wenn das große Harmageddon beschworen wurde und man in der Kirche von Radevormwald nur um Haaresbreite drumherum kam. Und das nur, weil der Wanderprediger und Jesus rechtzeitig für Erlösung sorgten. Wenn das Reich Gottes unmittelbar bevorstand und man sich für nächste Woche gar nicht mehr groß verabreden wollte.

Auch ich war fasziniert und konnte mich nur mühsam befreien. Schließlich standen da vor mir und den anderen zu allem entschlossene Männer auf der Kanzel. Und unten weinten Frauen und gestandene Männer, kamen nach vorne und bekannten, dass sie Sünder seien und ein neues Leben anzufangen sich vorgenommen hatten.

Nachdem Fliege so die Situation beschrieben, spricht er dem von ihm als Sektierer bezichtigten noch einmal persönlich an:

Wissen Sie, Herr Präsident, was schwierig war, ja unmöglich, das war Folgendes: Mit den Wanderpredigern und ihren Jüngern zu diskutieren. Mit Sektierern kann man nämlich nicht streiten. Man kann mit ihnen nicht argumentieren. Man kann mit ihnen nicht diskutieren. … Es ist im Grunde also dasselbe Phänomen, das ich bei Ihnen, Mr. Bush beobachte: Zum Rechthaber und Wanderprediger, zum Sektierer kommt auch bei Ihnen das wilde Gefuchtle mit dem Ende der Welt dazu. Da kommt das Gerede von der Endschlacht. … Herr Präsident. Umgang färbt ab. Und da machen mir die wiedergeborenen Christen in Ihrer Umgebung am meisten zu schaffen. Ihr Redenschreiber stammt aus den Wheaton-Colleges, einer evangelikalen Eliteschule. Er legte Ihnen den Ausdruck der "Achse des Bösen" in den Mund, mit dem Sie die "Schurkenstaaten" meinen. Wahrheitsfanatismus und Ungeduld ergeben eine ziemlich explosive Mischung, Herr Präsident. Übrigens nicht nur bei Ihnen. Ihr einziger weltpolitischer Kumpan, der britische Premierminister Tony Blair, trägt den Virus des Gut-Böse-Denkens genauso in sich.

Und das Umfeld des Mister Bush weiter analysierend fährt Fliege fort:

Zwei Männer in Ihrem Umfeld machen mir besondere Sorgen. Sie ahnen, wen ich meine? Richtig: Der eine ist Ihr Justizminister. John Ashcroft wurde unterstützt von der Christlichen Rechten Ihres Landes. Wie gut ist mir sein Saubermann-Image noch präsent aus den Zeiten, als Bill Clintons Affäre mit seiner Praktikantin die Nachrichten bestimmte. Da trat Ashcroft mit schockgefrorenem Lächeln als moralischer Ankläger Nummer eins auf und wollte den attraktiven Präsidenten mit Worten und Paragraphen aus dem Weißen Haus bomben. Eine Begebenheit aus dem Leben John Ashcrofts lässt verstehen, weshalb der pfingstlerische Pfarrerssohn sexuelle Sünde mehr verabscheut als die Sünde des Tötens. Bei seiner Hochzeit soll er den Brauttanz mit seiner frisch Vermählten mit der Begründung abgelehnt haben, dass dieser sexuelles Verlangen erzeugen könnte. Sexualität und Glaube: Ein unbeackertes weites Feld. Eine Vermutung liegt nahe: Je weniger körperliche Genüsse sich ein Mensch gönnt, desto gefährdeter ist er Gewalt anzuwenden. Was ist Ihnen lieber. Mr. President: ein politischer Führer, der der Versuchung der Lust erliegt, oder einer, der seine angestauten Energien mittels Kanonen abbaut?

Nach den Anschlägen vom 11. September haben Sie Ihrem Justizminister lief in die Augen geblickt und gesagt: „John. Ich will, dass Sie verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht!" Und der hat seinen Auftrag erfüllt mit Notstandsgesetzen, die an die Kommunistenhetze der McCarthy-Ära erinnern. Die Freiheit ist das erste Opfer eines Krieges, heißt es. Nicht nur die Freiheit der Iraker, sondern auch die Freiheit jener US-Bürgerinnen und Bürger, die sich offen gegen die Sünde des Krieges aussprechen.

Gier ist die Voraussetzung, auch gegen das siebte Gebot zu verstoßen. Ein Grund für Ihren Feldzug gegen den Irak. Mr. President ist die Gier nach dem Öl des Landes. Sie wollen dem selbstbestimmten Land stehlen, was ihm gehört. Ihre Ölkonzerne stehen Gewehr bei Fuß, um endlich den Reichtum des Iraks zu plündern. Auf dass Ihr Bruttosozialprodukt steige und die Reichen noch reicher werden.

Im Westdeutschen Rundfunk wurde mir erklärt, wie sehr Sie und Ihr Kabinett in das Ölgeschäft verwickelt sind. Ihr Vater war bereits Ölmillionär. In Ihrer Heimat Midland haben Sie unzählige Bonzen der Ölindustrie kennen gelernt, haben später Ihre eigene Bohrgesellschafi gegründet. die "Arbusto Energy". Sie wissen, wie die Geschäfte laufen. Mich wundert es gar nicht, dass die Energiekonzerne Ihren Wahlkampf finanziert und Sie dann an die entscheidendste Stelle der Welt katapultiert haben. 50 Millionen Dollar konnte Ihr Wahlkampteam einsacken - Geld, das eigentlich der Allgemeinheit gehört, aber von findigen Unternehmen abgeschöpft winde. Sie haben sich bedankt und viele Öl-Lobbyisten in Ihre Regierune geholt. Concolenza Rice, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Don Evans. Sie alle waren zu Hause in den Vorstandsetagen der Öl-Multis wie Chevron, Hallibur und anderen. Diesen Krieg. Mr. President, fuhren Sie nicht Namen der Menschenrechte, sondern im Namen der Öl-Lobby. Jenes Plakat auf den Friedensdemonstrationen trifft es auf Kopf: "Kein Blut für Öl."

Noch einmal kommt Fliege in seiner Abrechnung mit Bush auf die Zeugen Jehovas zu sprechen und vermeldet über sie:

Ich muss Ihnen das mit den Zeugen Jehovas noch einmal haarklein erzählen, Herr Präsident. Wie sie unbemerkt die normale Lebensangst der Menschen brauchten und missbrauchten, um die Reihen enger und enger zu schließen. Ich lernte auf einmal Leute kennen, die sich mit ihrer Angst als stärkstem Motor ihres Lebens auf mein Sofa setzten und anfingen, Berechnungen über den Untergang der Welt anzustellen. Das Blöde war nur, dass ich der vermeintlich Dumme war und sie die Klugen. Nie habe ich auch nur einen von ihnen überzeugen können, dass die eigene Wahrheit alleine genossen nicht frei macht, sondern versklavt. …

Und die alten Menschen, die sich darauf einstellen, bald gen Himmel zu fahren, interessieren sich auch nicht mehr für Zahlen. Den Himmel interessiert nur eins: Gnade! Und die kann nicht rechnen. Die Gnade ist für Bilanzen blind.

Das vergessen all jene Endzeitprediger, die den Tag des Jüngsten Gerichtes berechnen. Oder ihn durch ihr Wirken herbeibomben möchten.

Fliege bemüht sich in seiner Streitschrift Bush als Christen anzusprechen und auch unter diesem Gesichtspunkt seine Machtpolitik zu kritisieren. Er wirf laut Untertitel Bush vor "den Glauben vergiftet" zu haben und bezeichnet ihn in christlicher Wertung als falschen Propheten. Wie immer man zu dieser These auch steht. An eines fühlt man sich beim lesen im Vergleich gesehen doch immer wieder erinnert.

An den Thesenanschlag von Luther auf einen neuzeitlichen Fakt übertragen.

"Papst" George W. Bush mag darauf genauso reagieren wie der Papst zu Luthers Zeiten. Das hier jedoch ein Tischtuch auf dem besten Wege ist zerschnitten zu werden, sollte auch er bedenken!

Der falsche Prophet

ZurIndexseite