Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Marley Cole
Da gab es im Jahre
1956 ein Buch, von Marley Cole "Jehovas Zeugen - Die Neue-Welt-Gesellschaft". Es
handelt sich dabei um eine Übersetzung. Das Original erschien zuerst in den USA. Cole
veröffentlichte übrigens noch ein zweites Buch. Von dem gibt es allerdings keine
Übersetzung. James Penton vermerkt zu diesem Aspekt in seiner "Apokalypse
Delayed":
"Selbst der Zeuge Marley Cole, der unter der allzu engen Überwachung durch die
Wachtturm-Gesellschaft eine 'genehmigte' Geschichte veröffentlicht hatte, machte sich bei
einigen Wachtturm-Funktionären etwas unbeliebt, als er unabhängig von der Gesellschaft
ein zweites und weitaus besseres Buch über die Zeugen veröffentlichte, betitelt
'Triumphant Kingdom'".
Schon in der deutschen "Erwachet!"-Ausgabe vom 22. 10. 1955 belobhudelte ein Artikel die damals nur vorhandene Englischsprachige Ausgabe dieses Buches. Der Artikel schließt:
"Die erste Druckauflage von 20.000 Exemplaren ist von den amerikanischen Buchhandlungen aufgenommen worden. Der zweite Druck von 40.000 Stück ist fertig geworden. Sie können es in Deutschland durch den Wachtturm-Verlag erhalten." Also selbst für die englische Ausgabe dieses Buches verwandte sich die deutsche WTG. Dies um so mehr, als es dann auch noch eine deutsche Übersetzung davon gab.
Am 25. Juli 1956 versandte die Watch
Tower Bible and Tract Society ein "An alle Versammlungen" überschriebenes
Schreiben, aus dem nachfolgend zitiert werden soll. Es sagt einiges darüber aus, wie
Jehovas Zeugen "Stimmung zu machen" belieben. Und mögen sich die Details
inzwischen auch verändert haben, die Tendenz besteht nach wie vor - beispielsweise bei
ihrer "Standhaft"-Kampagne.
Im genannten Schreiben konnte man
lesen:
"Vom Pyramiden-Verlag, Frankfurt
am Main, wird jetzt ein Buch mit dem Titel "Jehovas Zeugen - Die
Neue-Welt-Gesellschaft" herausgegeben.
Wir glauben, daß viele Brüder in den
Versammlungen für ein Buch wie dieses eine Vielfalt von Verwendungsmöglichkeiten finden
werden.
Wir wissen, daß einige Menschen gegen alles, was durch die Watch Tower
Bible and Tract Society veröffentlicht wurde, ein Vorurteil hegen. Vielleicht läsen
solche gern eine Veröffentlichung, die ein Verlag herausgibt, der an Jehovas Zeugen kein
Interesse hat.
Da die Angaben in dem Buch gut zu gebrauchen sind, regen wir an,
daß jede Versammlung ein Exemplar in ihrer theokratischen Schulbibliothek im
Königreichssaal vorrätig hat, in dem die Brüder nachschlagen können. Auch für
Brüder, die der Öffentlichkeit irgendwie Informationen zu geben haben, kann es sehr
nützlich sein, besonders den Dienern für Informationen an die Öffentlichkeit.
Wenn diejenigen von Jehovas Zeugen,
die ein Exemplar dieses Buches wünschen, es bei ihrem Buchhändler am Ort kaufen, wird
als Ergebnis sehr viel Reklame dafür gemacht werden. Wenn man es dann in den
Schaufenstern sieht, werden auch viele Menschen der Öffentlichkeit es kaufen. Etwa Ende
Juli wird das Buch zu haben sein.
Deshalb empfehlen wir den Brüdern,
die ein solches Buch kaufen möchten, nach Erhalt dieses Briefes, in die Buchhandlungen zu
gehen und Bestellungen dafür aufzugeben. Wenn von diesen Büchern Tausende bestellt und
in zwei oder drei Wochen überall in den Buchhandlungen verkauft werden, kann es
vielleicht sein, daß das Buch
auf der Liste der meistgekauften Bücher des Landes
erscheint. Das wäre eine gute Reklame und würde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
erregen, die Bücher liest.
Mit diesem Brief übersenden wir Euch
die Anschriften einiger Buchhandlungen, die Listen der meistgekauften (Bestseller)
zusammenstellen. Wenn ein oder mehrere Läden für Eure Versammlung günstig gelegen sind,
schlagen wir vor, daß Ihr Eure Bestellung in jener Buchhandlung aufgebt. Das kann dazu
beitragen, daß das Buch auf einige Listen der meistgekauften Bücher kommt. Ihr könnt es
aber auch in jedem Buchladen bestellen, der Euch gelegen erscheint.
Wenn die
Versammlung die Bestellungen von Brüdern entgegennehmen will, ist das in Ordnung. In
diesem Fall geht der Versammlungs- oder Literaturdiener in ein auf der Liste aufgeführtes
Geschäft und bestellt fünf oder zehn Exemplare oder soviel, wie bei der betreffenden
Zusammenkunft bestellt wurde.
Je mehr Bestellungen von verschiedenen
Einzelpersonen in der ersten Woche aufgegeben werden, desto besser sind die
Möglichkeiten, durch die Listen der meistverkauften Bücher eine weitgehende
Bekanntmachung zu erzielen.
Die Versammlungen können in einem
Feldzug, der darauf abzielt, Bibliotheken für das Buch zu interessieren, gute Arbeit
leisten. Wir regen an, daß in jeder Versammlung drei oder vier Verkündiger während des
Monats August in die lokale öffentliche Bibliothek gehen und sich beim Bibliothekar das
Buch 'Jehovas Zeugen - Die Neue-Welt-Gesellschaft' erbitten.
Wird irgendein anderes Buch angeboten,
sollte man es prüfen, dann aber sagen, das Buch sei nicht neu genug. Man kann aber auch
einen anderen Einwand erheben.
In großen Städten, in denen es viele Versammlungen
gibt, wird in großen öffentlichen Bibliotheken das Buch oft verlangt werden. Das ist
sehr gut, weshalb auch jede Versammlung es einrichten sollte, ihre eigenen Verkündiger zu
schicken, die nach jenem Buch fragen. Wenn es in Eurem Gebiet eine Zweigbibliothek gibt,
sollten sich drei oder vier Personen auch dort das Buch ausbitten
"
Zeitweilig gab es auf der Webseite des Roland F. auch eine Internet-Ausgabe des Cole-Buches. F., in den Anfangstagen" des Internet's (deutschsprachiger Bereich) auf dem Sektor Zeugen Jehovas einige Zeit eine Art Institution", verlor in späteren Jahren wieder erhebliches Interesse daran. Namentlich hatte er auch etliche Zeugen Jehovas spezifische Texte wieder gelöscht, unter anderem auch das Cole-Buch.
Über weite Strecken kann man Cole als einen Pro-Zeugen Jehovas orientierten Propagandaschinken" bewerten. Insbesondere hatte es ihm der 1953er Kongress der Zeugen Jehovas in New York angetan, den er in nahezu euphorischer Weise darstellt. Gemessen an diesem seinem Hauptthema, sind einige geschichtliche Reminiszenzen, die er mit offeriert, eher nebensächliche" Beigabe. Man muss zudem wissen, dass in den 1950er Jahren, und auch etliche Jahre danach, Außenstehende, seitens der WTG keinerlei Archivzugang gewährt wurde. Cole, als Zeuge Jehovas, bekam so eine ´"Extrawurst gebraten". Genau diese seine geschichtlichen Reminszenzen sind es auch heute noch wert, mit dokumentiert zu werden.
Nachstehend ein paar Auszüge daraus:
Der Mann, den man in Verbindung mit den Zeugen Jehovas am meisten zu
erwähnen pflegte, war Charles Taze Russell. Das Wort "Russellismus" wurde zu
einem Ausdruck des Tadels für die Lehre der Zeugen oder "Bibelforscher", wie
sie einst hießen. "Russelliten" war der Name, den ihre Feinde ihnen anhefteten,
aus demselben Grund, aus dem man die Anhänger des deutschen Reformators
"Lutheraner" nannte.
Pastor Russell, wie ihn sowohl seine Kameraden als auch seine Feinde nannten, galt als
"Begründer" der modernen Organisation der Zeugen Jehovas. Die Zeugen
anerkennen, daß Mister Russell im Jahre 1884 die als "Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft" bekannte legale Körperschaft organisierte und daß er 1879 die
Zeitschrift "Wachtturm" gründete, die er dann 37 Jahre lang leitete und
herausgab.
Und in der Proklamation der "für 1914 bevorstehenden zweiten Wiederkunft oder
Gegenwart Christi und der darauffolgenden, zu jener Zeit beginnenden Errichtung des
Königreiches Gottes auf Erden" hatte, so sagen sie, Pastor Russell nicht
seinesgleichen. Er war der erste Prophet des tausendjährigen Reiches. Sein Nachfolger, J.
F. Rutherford, erklärte. "Er hat mehr getan für das Königreich des Messias als
irgendein anderer, der je auf Erden lebte." ("Der Wachtturm", 1. Dezember
1916, Seite 374.)
"SeineSchriften", erklärte einer seiner Feinde, "finden allwöchentlich eine größere Verbreitung in den Zeitungen als die irgendeines anderen Zeitgenossen; eine größere Verbreitung zweifellos als die Schriften aller Priester und Prediger in ganz Nordamerika zusammengenommen; eine größere sogar als die Schriften von Arthur Brisbane, Norman Hapgood, George Horace Lorimer, Dr. Frank Crane, Frederic Haskin und eines Dutzends anderer der bestbekannten Journalisten und Redakteure zusammen." ("Der Kontinent".)
Seine Vorträge wurden regelmäßig an mehr als 4000 Zeitungen versandt
und nachgedruckt, sie erschienen gleichzeitig in 1500 Blättern. Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts, ein Menschenalter vor dem Erscheinen des Tonfilms, brachte Pastor Russell
das Photo-Drama der Schöpfung heraus. Es war "eine Geschichte der Welt, wie sie in
der Bibel berichtet wird". Sie wurde in "geordnetem Zusammenhang
vorgeführt", in Form von zusammengesetzten, plastischen Farbaufnahmen und
Laufbildern. Aber was für ein Film ist das gewesen! Die Vorführung dauerte acht Stunden,
bestand aus zwei Teilen zu je vier Stunden. Überdies waren Vorspiel, Pausen und Abschluß
mit zwölf kurzen Reden in der Stimme Pastor Russells ausgestattet.
Der Film selbst war von synchronisierten Grammophonplatten begleitet. Die 96
Erläuterungen von je vier Minuten stammten vom Pastor selbst. Die Stimme, von der sie
gesprochen wurden, war die des damals berühmtesten plattenbesprechenden Künstlers Harry
Humphrey. Die 96 Vier-Minuten-Erläuterungen existieren noch im Druck.
Das Photo-Drama war der erste Tonfilm, der je einem Publikum vorgeführt wurde. Er wurde in Privathäusern, Theatern, auf Opernbühnen und in Vortragsälen rund um die Welt gezeigt. Neun Millionen Menschen sahen ihn. Einige Theaterdirektoren versuchten das Drama in regelmäßigen Aufführungen bei bezahltem Eintritt zu bringen, aber das Unternehmen schlug fehl. So haben eigentlich alle Zuschauer den Film unentgeltlich gesehen.
Pastor Russell war der erste Prophet des Millenniums, dessen Einfluß sich rund um die Erde auswirkte. Aus anderen Gründen wurde er zur Zielscheibe des vereinten Widerstandes der strenggläubigen Christenheit. Zum erstenmal seit Luther, stellten die Bibelforscher fest, fanden sich Katholiken, Protestanten und selbst Juden "auf gemeinsamen Boden" in den Anfeindungen von Pastor Russell. "Es ist eine bekannte Tatsache, daß Katholiken und Protestanten seit Jahrhunderten Todfeinde gewesen sind und der kirchliche Himmel wegen des tödlichen Kampfes zwischen den beiden lange in Unruhe war", wetterte des Pastors Rechtsberater, Richter Rutherford. "In der Streitfrage, die wir hier untersuchen, sind sich jedoch Katholiken und Protestanten einig."
Kein Teil der religiösen Welt hatte sich von der Raserei
ausgeschlossen, bemerkte Rechtsanwalt Rutherford. "Im vorliegenden Fall sehen wir
Griechisch-orthodoxe, Römisch-katholische, Anglikaner, Heiden und Juden, Presbyterianer,
Methodisten, Baptisten, Lutheraner, Kongregationalisten usw. usw., nicht nur in Amerika,
sondern auch in Kanada, in Europa und aus allen vier Windrichtungen der Erde, vereint in
der ausgesprochenen Absicht, diesen einen Mann niederzuwerfen", schrieb er. Der Kampf
gegen Martin Luther "scheint eine Kleinigkeit im Vergleich zu diesem", vermerkte
Rutherford.
Wenn die Worte des Richters aus dem Jahr 1915 unseren Ohren heute wie Höllenlärm
klingen, waren sie noch mild wie ein Frühlingslüftchen, verglichen mit der
Hochofenhitze, in der die Brandreden der Opposition losdonnerten. Eine der sanfteren
Bemerkungen aus dem feindlichen Lager kam von dem hochwürdigen Doktor der Theologie
William G. Moorehead, der schrieb, Pastor Russell "werde vom Satan dazu verwendet,
die göttlichen Wahrheiten zu verdrehen".
Im Hinblick auf den entfesselten Sturm erklärte ein neutraler Beobachter, Professor S. A.
Ellis, ein Erzieher und Schriftsteller aus dem Süden: "Ich glaube, es gibt keinen,
der ärger verfolgt, härter verdammt, jämmerlicher verkannt und mißverstanden worden
wäre als dieser furchtlose, gewissenhafte Mann Gottes." Der Professor fügte hinzu,
daß "keiner der gottlosen Schriftsteller, wie Hume, Voltaire oder Ingersoll, jemals
so unbarmherzige Angriffe erdulden mußte wie Pastor Russell".
Offenbar bestand Pastor Russells Gabe, in ein Wespennest zu stechen, so oft er den Mund auftat, nicht so sehr im Predigen der Lehre vom gekommenen Königreich, als vielmehr im Predigen jener Dinge, welche die große "von der Hoffnung auf das tausendjährige Reich ausgehende geistige Erneuerung" begleiten mußten. Mit anderen Worten, es waren die zusammengenommenen doktrinären Streitigkeiten, die den Brand entfacht hatten. Anscheinend hatte der Pastor drei Hauptsünden gegen die Orthodoxie begangen. ...
Kein Wunder also, daß Russell sich gegen den Papst stellte. "In
den nahezu 300 Jahren seit Luther entwickelten sich der Reihe nach protestantische
Sekten," erklärte Richter Rutherford, als er die Stellung Pastor Russells hervorhob.
"In einer Sekte kam es zu Meinungsverschiedenheiten, eine Spaltung war die Folge; ein
Teil der Mitglieder trat aus und organisierte eine neue Sekte; so entstanden die
Baptisten, Methodisten, Campbellisten, Kongregationalisten, die Brüderunität, die
River-Brüder, Christadelphianer usw. Jede Sekte ermächtigte kraft ihrer eigenen
Autorität bestimmte Personen zum Predigen, und anscheinend hatte bis etwa 1840 niemand
etwas dagegen."
Im Jahre 1840, fuhr Rutherford fort, trat ein Ereignis ein, das Pastor Russell
veranlaßte, dagegen Stellung zu nehmen. Zusammengefaßt in einem Artikel des
"Wachtturm" im Jahre 1915, "Kampf im kirchlichen Himmel", S. 9-10,
handelte es sich dabei um folgendes:
Die Bibel lehrt, daß die Kirche eine einzige ist, der Leib
Christi, während es der protestantischen Sekten, von denen jede behauptet, "die
Kirche" zu sein, nahezu 200 gibt. Wegen dieser ins Auge fallenden Ungereimtheit
fürchteten sie, daß ihre Organisationen in Mißkredit geraten könnten und schlossen
sich zu einem Bund zusammen: so entstand 1846 die Evangelische Allianz. Innerhalb des
Bundes bildete jede Sekte ihre eigenen Ordinationsausschüsse, denen die Gewalt zukam.
Prediger einzusetzen oder zu ermächtigen.
Es war und ist eine der Satzungen dieser Allianz, daß es niemand gestattet ist, zu
predigen, wenn er nicht die Ordination eines dieser bereits bestehenden
"Einsetzungsausschüsse" hat. Wer zu predigen versucht, ohne von einem dieser
"Einsetzungsausschüsse" ermächtigt oder in aller Form eingesetzt zu sein, wird
als "Streikbrecher" gebrandmarkt.
Diese Allianz ist im eigentlichen Sinne eine Prediger-Gewerkschaft geworden; es kam auch
ein Erlaß heraus, daß jeder, der predigen will, eine Gewerkschaftskarte (Ordination)
besitzen muß, sonst handelt er ungesetzlich. Einige der unabhängig Denkenden haben sich
von dieser Allianz ferngehalten und beanspruchen das Recht, Gott so zu verehren, wie es
ihnen ihr eigenes Gewissen befiehlt, ebenso bestehen sie auf dem Recht der Redefreiheit.
Der Verfechter dieser Ansicht, Pastor Russell, hat sich geweigert, eine solche Einsetzung
durch Menschenhand anzuerkennen, und hält sich lediglich an die in der Heiligen Schrift
durch Gott den Herrn vorgesehene Methode des Predigens und an keine andere.
Er lehnte es ab, in den Ringverband gezwungen zu werden; daher will ihn der Ringverband
dazu zwingen, das Predigen aufzugeben. Der priesterliche Beruf wurde, wie der des
Rechtsanwalts oder des Arztes, immer als eine Berufung aufgefaßt, deren Ausübung mehr
oder weniger finanzielle Sicherheit gewährt, zugleich mit hohem Ansehen und allgemeiner
Achtung. Pastor Russell lehnte diesen orthodoxen Standpunkt als "weltliche
Gesinnung" ab. Jedes menschliche Geschöpf sei schon aus reiner Dankbarkeit dazu
verpflichtet, sich im Ausmaß seiner Fähigkeiten in Spruch und Gebot seines Schöpfers zu
schulen. Ferner solle der Mensch den Wunsch haben, das, was er lernte, mit anderen zu
teilen, zum allgemeinen Wohl und zur Ehre und zum Zeugnis des Schöpfers. Dürfen die
Geschöpfe aus dem "Wort des Lebens" eine Handelsware machen? fragte er. Willst
du dafür bezahlt werden, daß du deinen Nächsten liebst wie dich selbst? Kannst du ein
wahrer Christ sein, wenn du nicht "den anderen bereitwillig gibst, wie auch dir
bereitwillig gegeben wurde?" Wieviele Anhänger der christlichen Urkirche gab es, die
nicht predigten? Waren sie nicht alle Lehrer und Prediger des Wortes Gottes? Gewiß, es
gab Wächter der Herden. Manche waren Apostel, manche Propheten, manche Prediger des
Evangeliums, manche Pfarrhirten und manche Lehrer. Aber warum? "Zur Heranbildung der
Frommen in der Ausübung des geistlichen Amtes, zur Erbauung des Leibes Christi."
(Epheser 4:11,12.) Mit anderen Worten, alle seien zum geistlichen Amt verpflichtet. Ein
Christ sein, heiße ein Diener Gottes sein. Die orthodoxe Unterscheidung zwischen
Geistlichkeit und Laien sei "eben nur wieder ein Zeichen des Abfalls der
Christenheit". Es sei eine Schande für jeden, der sich als Christ bekennt, Leben,
Hoffnung auf Errettung und die Verheißung einer besseren Welt entgegenzunehmen und dann
den klaren, einfachen Ausdruck der Dankbarkeit zu verweigern, die sich darin zeigt, daß
man das Wort Gottes den anderen predigt. Russell, der so dachte, wollte von einem
bezahlten Klerus nichts wissen.
Er ging mit gutem Beispiel voran, indem er sein persönliches Vermögen von mehr als einer
Viertelmillion Dollar - keine unbedeutende Summe für die damalige Zeit - dem keinerlei
Gewinn abwerfenden biblischen Erziehungswerk schenkte, welches das herannahende Millennium
und die damit verbundene Erneuerung der Lehre in der ganzen Welt verkündet. Er gab 40 000
Dollars aus, um eine Broschüre zu veröffentlichen, in der "die Lehre vom
höllischen Feuer" enthüllt wird. "Pastor Russell", bemerkte Rutherford,
"pflegte auf allen Ankündigungen seiner Vorträge eine Art Firmenzeichen anzubringen
- Eintritt frei. Es wird nicht abgesammelt' und die Allianz hielt dies für eine
Anspielung auf ihre fortwährende Bettelei und hatte damit einen Grund mehr, ihm zu
zürnen".
Mit einer Portion der "Erquickungen", die der Pastor
verabreichte, zog er sich tatsächlich den Bannfluch der gesamten Christenheit zu.
Nämlich mit der Lehre, daß die Hölle nicht heiß ist - daß sie der Zustand des Todes,
nicht ein Ort der Qualen ist. Vor allem, plädierte er, lehrt die Bibel nicht, daß der
Mensch eine "unsterbliche Seele" besitzt, die endloses, qualvolles Braten
ertragen kann. In zweiter Linie, wenn Gott die Verkörperung der Liebe ist, die alle
Menschen vor die Wahl stellt, sich für Leben oder Tod zu entscheiden - nicht für ein
Leben in himmlischer Seligkeit oder in höllischer Pein - wie könnte er da einen Ort der
Qualen unterhalten, den nicht einmal der Teufel langweilige Ewigkeiten hindurch in Betrieb
halten möchte? "Würdet ihr den Schwanz eines jungen Hundes drei Minuten lang ins
Feuer halten? Natürlich nicht, wenn ihr keine Untermenschen seid. Und doch lehrt man uns,
daß Gott seine Geschöpfe den ewigen Qualen in einem Feuer übergibt, das heißer brennt,
als wir uns vorstellen können?" "Wenn Gott die Liebe ist, dann zieht er seine
Geschöpfe einzig auf Grund der Liebe an sich. Er zieht keinen durch Furcht an sich. Die
reinen Herzens sind, reagieren auf Liebe. Furcht kann sogar den ärgsten Verbrecher zum
Gehorsam treiben, aus rein selbstsüchtigem Erhaltungstrieb. Aber Gott duldet es nicht,
daß die Bösartigen das Leben gewinnen. Nur die auf Liebe reagieren, gewinnen seine
Gunst. Es hat daher keinen Zweck, Menschen entgegen ihrem innersten Drang durch Furcht und
Schrecken zur Rechtschaffenheit zu zwingen. Eine Religion der Angst, die sich auf die
Lehre von den ewigen Qualen gründet, wäre das letzte, worauf Gott zurückgreifen würde,
um die Menschen an sich zu fesseln."
So sei die Lehre vom Höllenfeuer, erklärte der Pastor, eine der ältesten und
furchtbarsten Waffen der Priesterschaft, sowohl der heidnischen als auch der christlichen.
Damit trachtete sie ihre Herden in den Kirchensystemen beisammenzuhalten. "lst das
Höllenfeuer dahin, fließen die Geldspenden spärlich", mutmaßte Russells Biograph,
Rutherford.
Der Einwand der Orthodoxen auf die "Keinehöllenlehre", wie sie sie nannten, war der, daß Pastor Russell die einzige Schranke niedergerissen habe, die das Volk in Schach hielt. Nun werde die Welt gewiß zum Teufel gehen. Worauf die Bibelforscher entgegneten: "Sagt nicht die Bibel, daß die Welt bereits dem Teufel gehört? Daß die ganze Welt im Bösen liegt? Und dort bleibt, bis zu ihrer endgültigen Zerstörung durch Gottes eigene Hand? Wo ist der Beweis in der Bibel oder in der Geschichte, daß die Welt jemals zum Christentum bekehrt wurde?"
Mehr als alles andere trugen diese drei doktrinären Streitfragen "Einsetzung durch Menschenhand", "bezahlter Klerus" und "Höllenfeuer" - dazu bei, daß Pastor Russell der meistgehaßte und meistgefürchtete Mann wurde, den die "strenggläubige Christenheit seit dem ersten Jahrhundert nach Christi Geburt kennengelernt hatte," sagte Rutherford.
Die Opposition gegen den Pastor kam zum großen Teil in Form von
persönlichen Angriffen zum Ausdruck. Der heftigste Vorstoß war gegen seine Geldgebarung
gerichtet.
Russell muß ein Wunderkind in der Geschäftswelt gewesen sein. Er war noch nicht dreißig
Jahre alt, als er seines Vaters Bekleidungsgeschäft in der Stadt Allegheny im Staate
Pennsylvania vergrößert und in rascher Reihenfolge vier Niederlagen errichtet hatte. Als
er dreißig Jahre alt war, verkaufte er das ganze Unternehmen um eine Viertelmillion
Dollar. Dieser Betrag war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehr wert als
eine Million Dollar im Jahr 1950.
An diesem Wendepunkt seines Lebens nahm das Bibelstudium den jungen Russell so sehr in
Anspruch, daß er beschloß, die Welt der Geschäfte zu verlassen und seine Zeit und sein
Geld einem Erziehungswerk religiösen Charakters zu widmen. Das bedeutete allerdings
nicht, daß er Geistlicher im herkömmlichen Sinn werden wollte. Die presbyterianische und
später kongregationalistische Umgebung, in der er aufwuchs, brachte ihn zu einer hohen
sittlichen Weltanschauung, war aber kein fruchtbarer Boden für die in ihm reifenden
revolutionären Überzeugungen. Auch keine der bestehenden Religionsformen war dazu
geeignet.
Um den jungen Russell sammelte sich ein immer größer werdender Kreis von Männern und
Frauen, die sich mit einem systematischen Studium der Bibel befaßten, besonders in bezug
auf die Lehre von der zweiten Herabkunft oder Gegenwart Christi. Schließlich fanden sich
in dieser Gruppe Geistliche von 29 Sekten zusammen.
Diese Pastoren und ihre Kameraden waren der Ansicht, daß sie auf Grund der
Verschiedenheit ihrer Glaubenslehren die Menschen durch immer mehr miteinander
unvereinbare Spaltungen trennten, und zwar aus keinem vernünftigen Grund. "Wie viele
Bibeln gibt es?" fragten sie sich. "Nur eine", gaben sie zu. "Wie
viele Götter?" "Nur einen." "Wie viele wahre Glauben?"
"Logischerweise nur einen." "Wozu brauchen wir dann 29erlei
Glaubensbekenntnisse?". Die Bibel brandmarkt das Sektierertum als "Kennzeichen
der Fleischlichkeit", stellten sie fest.
Sie gestanden sich ein, daß ihr Glaubensunterschied auf einer Meinungsverschiedenheit
über einzelne Lehrsätze beruhte. "Lehrt die Bibel eine Wahrheit auf 29 verschiedene
Arten?" fragten sie sich. Die Beantwortung der Frage lag auf der Hand. "Eine
Bibel. Ein Gott. Ein Glaube. Eine Glaubenslehre."
Es mußte einen Weg geben, um das Problem der 29 verschiedenen Meinungen zu lösen und
"Gott wahr, wenn auch jeden Menschen einen Lügner" sein zu lassen. Es fand sich
ein Weg. Er bestand einfach darin, einen Glaubenssatz herauszuheben und dann die ganze
Bibel nach den Belehrungen zu diesem Glaubenssatz zu durchforschen. "Als wir dann
unsere Vorurteile und Voreingenommenheiten an den Nagel hingen und Geistiges mit Geistigem
verglichen, war es keine unmögliche oder undankbare Aufgabe, zur Wahrheit zu gelangen,
die uns frei macht."
Was gut genug war, um 29 "Verwirrungen" zu klären, mußte auch für 129
genügen, fanden sie. Besonders wenn ihre Überzeugung sich als richtig herausstellte,
daß die Zeitangaben der Bibel auf 1914 als das Ende der "heidnischen
Herrschaft" und als den Zeitpunkt für das Kommen des Königreichs hinwiesen. Jetzt
war keine Zeit mehr für sektiererische Zänkereien. "Es war höchste Zeit, daß eine
doktrinäre Reform die Christenheit mitriß."
Die Aussicht auf eine solche geistige Wiedergeburt faszinierte Russell so sehr, daß er
sich mit seinem ganzen Vermögen und mit allen seinen Kräften in den Kreuzzug stürzte.
Er gab sich keinen Illusionen darüber hin, daß es ihm gelingen würde, "die Welt zu
bekehren, ebensowenig wie Noah die Welt seiner Zeit bekehrt hatte." Aber
"diejenigen zu erreichen, die hören wollten", war schon den Preis eines
weltumspannenden Evangeliumkreuzzuges wert, eines Kreuzzuges, wie er noch nie versucht
worden war.
1879 erschien die Zeitschrift "Zions Wachtturm und Bote der Gegenwart Christi" mit Russell als Schriftleiter und Herausgeber. 1884 nahmen Russell und seine Gefährten die behördliche Eintragung von "Zions Wachtturm-Traktat-Gesellschaft" (später, 1896, abgeändert auf "Wachtturm-Bibel-und-Traktat-Gesellschaft") für Pennsylvania vor. Dies sollte ihr Verlags- und Zentralbüro werden.
Seine Feinde behaupteten, dies alles sei nur Vorwand, um einen Verlag
als Ausgangspunkt für Russells reiche schriftstellerische Produktion zu schaffen und ihm
einen Reingewinn zu bringen, der seine Einnahmen aus dem Herrenmodegeschäft in den
Schatten stellen würde.
Darauf antwortete sein Mitkämpfer und Rechtsberater, Richter Rutherford: "Als Pastor
Russell vor vielen Jahren sein Geschäft aufgab, besaß er mehr als eine Viertelmillion
Dollar. Den größten Teil davon verausgabte er großzügig zur Veröffentlichung von
biblischer Literatur, die kostenlos verteilt wurde, um die Menschen über Gottes
harmonischen Plan aufzuklären, wie in den Heiligen Schriften gelehrt wird." Der Rest
seines Vermögens fuhr der Anwalt fort, "wurde im Einvernehmen mit seiner Gattin, die
als Mitarbeiterin an seinen religiösen Bestrebungen teilnahm, der Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft überschrieben."
Rutherford führt die Urkunde über die Errichtung der Gesellschaft an. Es war eine
"Körperschaft ohne Kapitalanteile", die "weder Dividenden noch Gehälter
bezahlte", und: "niemals hat, wie aus der Buchführung klar hervorgeht,
irgendjemand finanziellen Nutzen daraus gezogen". Zu Russells Zeiten erhielt die
Gesellschaft ihre hauptsächlichste finanzielle Unterstützung von den tausenden
stimmberechtigten Mitgliedern, die für jeden Zehn-Dollar-Beitrag ein Stimmrecht erwerben
konnten. Im Verlauf der gegen Russell und seine Gesellschaft angestrengten Prozesse wurde
die Buchführung bei Gericht überprüft. Obgleich Russell persönlich der Organisation
mehr als jede andere Einzelperson gespendet hatte, wurde der Beweis erbracht, daß weder
er noch irgendjemand anderer jemals etwas von diesen Geldern für sich persönlich
verbraucht hatte.
Pastor Russelt starb arm, vermögenslos, im Jahre 1916, ohne Bankkonto, ohne persönlichen
Besitz, hinterließ nur eine Handvoll persönlicher Wertgegenstände. Während der letzten
vierzig Jahre seines Lebens bekam er, wie alle anderen Mitarbeiter, im Versammlungshaus
Bethel, dem Hauptquartier der Gesellschaft, Zimmer und Verpflegung, Reisekosten und
monatlich zehn Dollar für gelegentliche Ausgaben. Dieses monatliche Taschengeld wurde auf
zwanzig Dollar erhöht, dann aber, während der Präsidentschaft seines Nachfolgers,
Richter Rutherford, der 1942 starb, wieder auf zehn Dollar herabgesetzt. Kürzlich wurde
es auf 14 Dollar monatlich erhöht.
Zur finanziellen Bedrängnis kam noch die Mißbilligung der
Öffentlichkeit, unter der Pastor Russell wegen seiner häuslichen Schwierigkeiten zu
leiden hatte. Sie wurden schließlich durch eine gesetzliche Trennung von seiner Frau
beendet.
Mrs. Russell hatte schon vor der Heirat im Jahre 1879 an seinem religiösen Werk
mitgearbeitet. Dreizehn Ehejahre hindurch lebten die Russells "glücklich
miteinander". Sie hatten keine Kinder, aber 1889 nahmen sie ein zehnjähriges
Waisenmädchen ins Haus und behandelten es "als Mitglied der Familie".
Gegen Ende der achtziger Jahre begannen zwischen den Russells Meinungsverschiedenheiten
über die Leitung der Wachtturm-Zeitschrift. "Sie war mit der Art, wie er das Blatt
führte, nicht mehr einverstanden und versuchte ihm eine andere Richtung zu geben,"
erzählte Rutherford. "Als Oberhaupt des Hauses", fügte er energisch hinzu,
"wollte sich Pastor Russell nicht dem Diktat seiner Gattin in der Führung seiner
geschäftlichen Angelegenheiten beugen."
Nach etwa fünf Jahren zunehmender Reibungen entschloß sich Mrs. Russell, die
Angelegenheit zur Entscheidung zu bringen. Sie stellte ein Dreierkomitee zusammen und
berief es zu einer Sitzung, auf der beide Seiten gehört werden sollten.
Der einzige strittige Punkt zwischen den Russells schien, wie zwei Komiteemitglieder
bezeugten, "die Führung des Blattes" zu sein. Frau Russells Komitee entschied
gegen sie.
Die Dame schien sich mit ihrer Niederlage abzufinden. Die Russells "umarmten und
versöhnten sich."
Aber die Aussöhnung dauerte kaum länger, als das Komitee brauchte, um die Sitzung
abzubrechen und heimzugehen. Noch im selben Jahr, 1897, "trennte sich Mrs. Russell,
ohne vorher etwas zu sagen ... freiwillig von ihm ... nahezu 18 Jahre nach ihrer
Hochzeit."
Ungefähr sechs Jahre lebte sie dann getrennt vom Pastor. Endlich, im Juni 1903, reichte
sie in Pittsburgh die Klage auf gesetzliche Trennung ein. Im April 1906, neun Jahre
nachdem sie ihren Gatten verlassen hatte, kam es zur Gerichtsverhandlung.
Vor Gericht ließ Mrs. Russell eine Bemerkung fallen, daß sie noch
andere Gründe gehabt habe, ihren Mann zu verlassen, als den einst beigelegten Zank um die
Führung der Wachtturm-Zeitschrift. Von ihrem Anwalt dazu ermuntert, erzählte sie eine
kleine Geschichte von einem Fisch, der für die Waffen der Feinde des Pastors so viel
Munition lieferte, daß sie noch auf Jahre nach seinem Tod hinreichte.
Die Geschichte, die Mrs. Russell erzählte, betraf eine Eröffnung, die der Pastor
angeblich dem Waisenmädchen gemacht hatte, das bei den Russells aufgewachsen war. Wie
Mrs. Russell angab, hatte der Pastor dem Mädchen gegenüber listig bemerkt. "Ich bin
wie eine Qualle. Ich schwimme dahin und dorthin, ich berühre diese und jene, und wenn sie
darauf reagiert, nehme ich sie zu mir, wenn nicht, schwimme ich weiter zu anderen."
Die Geschichte von der Qualle machte im Gerichtssaal Sensation. Der Gerichtshof fragte, ob
die Klägerin das Mädchen, ein Frl. Ball, mitgebracht habe, um ihre Aussage zu bezeugen.
Nein, Mrs. Russell hatte sie nicht mit. Wußte sie vielleicht, wo Miss Ball derzeit
wohnte? Ja, das wußte sie. Wann hatte der Pastor dem Mädchen die Geschichte von der
Qualle erzählt? Das war 1894 gewesen. Hatte Frau Russell, nachdem ihr die Geschichte von
der Qualle bekanntgeworden war, noch weitere drei Jahre mit ihrem Mann zusammen gelebt?
Ja, das hatte sie.
Die nächste Frage betraf 1897, als Frau Russell ihren Mann vor das Dreierkomitee gebracht
hatte, das dann zu seinen Gunsten entschied. "Teilten Sie damals dem Komitee mit,
daß der Pastor so wahllos wie eine Qualle sich mit jeder einließ?"
Mrs. Russell erwiderte: "Nein."
Ihr eigener Anwalt legte sie jetzt fest. "Sie wollen doch nicht sagen, daß Ihr Mann
Ehebruch begangen hat."
"Nein."
Als Russell befragt wurde, sagte er aus, daß er die Geschichte von der Qualle soeben zum
erstenmal gehört habe.
"Was das Mädchen betrifft, das im Hause war", belehrte Richter Collier die
Geschworenen, "das gehört nicht zur Klage und hat nichts mit dem Fall zu tun, da es
nicht vorgebracht wurde; es war seinerzeit verziehen oder übergangen worden."
Da die Russells bereits sieben Jahre getrennt gelebt hatten, bevor sie
sich an das Gericht wandten - oder fast zehn Jahre vor der Gerichtsverhandlung -
bestätigte der Gerichtshof die Trennung. Die Scheidung der Ehe wurde jedoch niemals
ausgesprochen.
Von da an wurde dem Pastor immer wieder die Geschichte von der Qualle vorgeworfen. Die
"Washington Post" stürzte sich auf den "Skandal". Sie beschuldigte
den Pastor der "Unmoral". Dies wurde mit einer Verleumdungsklage beantwortet.
Das Gericht entlastete den Pastor von dem Vorwurf, durch den ihn das Blatt verleumdet
hatte, und sprach ihm 1 Dollar Entschädigung zu.
Anwalt Rutherford fand, daß der Richter die Geschworenen in offenbar irriger und
voreingenommener Weise über den Beklagten, die "Post", belehrt hatte. Er
appellierte an die nächste Instanz. Sie stieß das Urteil des Erstgerichts um. Der Fall
wurde zur Wiederaufnahme zurückverwiesen.
Als er neuerdings zur Verhandlung kam, stellte Russell einen Beweisantrag. Daraufhin bot
die Zeitung einen Vergleich an. Das Blatt übernahm die Gerichtskosten und bezahlte dem
Pastor "eine bedeutende Geldsumme". Danach veröffentlichte sie seine Predigten.
Nächste auf der Liste war die Zeitung "Missionsfreund" in Chikago. Sie brachte
den Angriff eines Geistlichen aus New Jersey, der den Pastor als Schürzenjäger
darstellte und zum Beweis dafür die Quallenepisode anführte. In dem darauffolgenden
Prozeß suchte sich der "Missionsfreund" mit dem Pastor zu vergleichen. Pastor
Russell, der kein "Blutgeld" nehmen, sondern nur seinen guten Namen
wiederhergestellt wissen wollte, erklärte sich unter folgenden Bedingungen, die dann auch
durchgeführt wurden, mit dem Vergleich einverstanden:
"Der Missionsfreund' zahlt alle Kosten und bringt eine Richtigstellung, in der
er zugibt, die Miss-Ball- oder Quallengeschichte über Pastor Russell unrichtig
veröffentlicht zu haben; ferner stellt das Blatt fest, daß Pastor Russell ein Christ und
Ehrenmann von hochanständiger und moralischer Gesinnung ist, der die Hochachtung und
Wertschätzung aller guten Menschen verdient."
Der Quallen-"Skandal" verflüchtigte sich als "unerhörte Übertreibung", wie des Pastors Freunde sagten. Doch es sollte sich noch ein weiterer, nicht weniger bizarrer Zwischenfall ereignen.
Es war die Episode vom Wunderweizen.
Diejenigen, die Pastor Russell übelwollten, konnten sich nichts Sensationelleres
wünschen als die Abenteuer, die ihm zustießen. Die Geschichte vom Wunderweizen erinnert
mich an den unbezähmbaren Herodot, der berichtete, daß in Babylon "die Hafer- und
Weizenhalme volle vier Finger breit werden; und obzwar ich weiß, was für eine Höhe
Hirse und Sesam erreichen, will ich es nicht erwähnen, denn ich bin überzeugt, alle
jene, die noch nicht im babylonischen Lande waren, werden das, was über seine Erzeugnisse
gesagt wurde, für unglaublich halten."
Am 23. November 1907, ein Jahr nach Russells gerichtlicher Trennung von seiner Frau, hatte
der landwirtschaftliche Berater der amerikanischen Regierung, ein Mann namens H. A.
Miller, gewiß nicht die Absicht, dem Herodot Konkurrenz zu machen. An jenem Morgen
bearbeitete er einen Bericht über eine erstaunliche Weizensorte. Vor drei Jahren, 1904,
war sie anscheinend ganz unvermittelt in der Gemüsegärtnerei eines Farmers namens K. B.
Stoner in Fincastle im Staate Virginia aufgetaucht.
Ohne daß man vorher etwas davon bemerkt hätte, trat diese phantastische Pflanze in
Mister Stoners Garten ganz überraschend in Erscheinung. Auf den ersten Blick hielt er sie
für eine als "Parlorgras" bekannte Grasart.' Glücklicherweise -
vielleicht auch unglücklicherweise - riß er sie nicht sofort aus. Denn als sie noch ein
Stück größer wurde, stellte es sich heraus, daß es Weizen war. Und was für ein
Weizen! Die Pflanze besaß 142 Halme, von denen jeder eine vollausgereifte Ähre trug.
Bescheiden gestand M. Stoner ein, daß ihm so etwas noch nie untergekommen sei. Seine
Feststellung, daß er noch keinen Weizen "mit mehr als 5 Ähren" gesehen habe,
dürfte wohl die in jenem Jahr mit einem Preis als beste anerkannte Sorte betreffen.
Das klang, als stamme es direkt aus dem Herodot. Es war ein richtiges Wunder. Mr. Stoner
nannte die Pflanze "Wunderweizen".
Einige Jahre hindurch säte und pflanzte er nun die Sorte, und jedesmal brachte sie enorme
Wurzelstöcke hervor, die jedermann im Lande verblüfften. Mister Stoners Weizen prangte
natürlich auf den Titelseiten der Zeitungen.
"Mr. Stoner war starr vor Staunen", hieß es in einem sehr konservativen Blatt.
"Es schien unglaublich. Als 1842 ein Franzose meldete, daß er in der
Mittelmeergegend eine Weizensorte entdeckt habe, die vier Ahren pro Pflanze erzeugte,
sagten die Leute, er sei verrückt geworden. Und nun hatte man ein Pflanze mit 142
Ähren!"
An dieser Stelle war in dem objektiven Bericht ein begreifliches Ausrufungszeichen
eingesetzt worden. Dann hieß es weiter: "Ein Jahr nach der Entdeckung der Pflanze
erhielt er 2000 Körner. 1906 erhielt er 16 Scheffel, und jetzt hat er den Weizenertrag
auf 800 Scheffel gebracht und alles sorgfältig als Saatgut bewahrt."
Das sonderbarste an diesem Wunderweizen aber war, wie die Zeitung erklärte, folgendes:
"Während in den Weizengegenden von Virginia durchschnittlich höchstens 17 Scheffel
(Scheffel = 36,35 l) pro Ar erzielt werden, war der durchschnittliche Ertrag des
Wunderweizens in den letzten drei Jahren 56 Scheffel pro Ar; und während man acht bis
zehn Viertelscheffel Saatgut pro Ar benötigte, brauchte Mister Stoner nur zwei
Viertelscheffel; und im Vergleich zum gewöhnlichen Erträgnis von acht Scheffel Körnern
für jeden Scheffel Saatguts bekommt er 57 Scheffel von einem einzigen. Der gewöhnliche
Weizen nimmt mit seinem Wurzelstock ungefähr vier Zoll Raum ein, der Wunderweizen bedeckt
12 Zoll Ackerboden."
Daraus ist zu ersehen, warum der Wunderweizen so bekannt wurde, daß schließlich die
Regierung der Vereinigten Staaten ihren Fachmann Mr. Miller beauftragte, das Erzeugnis zu
prüfen. In seinem Bericht heißt es: "Diese Weizensorte ist unbekannter Herkunft und
wurde im Glashaus ... und ... auf Ackerboden gezüchtet ... und brachte ausgezeichnete
Resultate. Bei den Mahlproben erwies sich die Qualität der Sorte als den anderen
Spielarten von Winterweizen ebenbürtig, wenn nicht überlegen."
Diesem Bericht nach "erreicht der Weizen eine durchschnittliche Höhe von vier Fuß
vier Zoll." (132 cm).
Ein Absatz aus Mr. Millers Berichterstattung an die Regierung sollte nun auch noch ein-
oder zweimal einen Kongreßausschuß beschäftigen.
"Es heißt", so lautete dieser Absatz, "daß die russische Regierung sich
eine Option auf den Weizen gesichert hat und eine Lieferung von 80 Millionen Scheffel
kaufen wird, sobald diese zur Ernte kommt."
Natürlich war Rußland damals, im Jahre 1908, eine ehrwürdige Säule der Christenheit
unter der Herrschaft eines Zaren von Gottes Gnaden. Mr. Stoner war weder ein russischer
Spion noch ein Mitglied von Pastor Russells Religionsgesellschaft, sondern nur ein
bescheidener Farmer aus Virginia, der durch irgendeinen Zufall von einem Wunder
heimgesucht wurde, wie es Herodot berichtet haben könnte.
Übrigens sagen Leute aus der damaligen Zeit, habe der Wunderweizen sich allmählich mit
minderwertigen Abarten vermischt und sei mit der Zeit darin aufgegangen, so daß die Sorte
sich schon vor 1920 wieder verlor. Rußland bekam offenbar nichts davon. Daß es eine
"große Sache" war, bezweifelt niemand in der Gegend. Die Farmer hatten nur
einen Einwand gegen den Wunderweizen: er bekam einen Bart.
Wer sich erkundigt, wird erfahren, daß die Mühlenfachleute den Bartweizen nicht gern
putzen.
Was aber hatte Pastor Russell mit dem Wunderweizen zu tun? Hier ist die Geschichte:
Zunächst veröffentlichte er den oben wiedergegebenen Pressebericht in seinem Blatt. Auch
Mister Millers Bericht an die Regierung fügte er bei. Pastor Russell brachte die
Geschichte als einen Artikel von vielleicht ungewöhnlicher Bedeutung für die Leser des
"Wachtturms".
Als er in der Ausgabe seiner Zeitschrift vom 15. März 1908 erschien, war er
selbstverständlich von den Tageszeitungen bereits fünf Monate früher zur Zeit von Mr.
Millers Bericht an die Regierung, am 28. November 1907 gebracht worden. Was also der
Pastor veröffentlichte, war durchaus kein "Erstdruck". Die Erläuterungen, die
er in Form einer Einleitung den zitierten Pressemeldungen beifügte, waren gleichfalls
nicht originell. Sie brachten das allgemeine Ernpfinden zum Ausdruck. "Die Presse
führt die Herkunft des Wunder-Weizens auf die Erhörung eines Gebetes zurück",
begann der Pastor. Dann sprach er seine eigene Ansicht aus: "Die Schilderung hat die
Kennzeichen der Wahrheit an sich."
Wahrscheinlich wirklich originell war aber an dem Artikel des Pastors seine
Schlußfolgerung. Da stellt er folgende Betrachtung an: "Selbst wenn dieser Bericht
nur zur Hälfte wahr ist, beweist er von neuem Gottes Fähigkeit, Dinge hervorzubringen,
die notwendig sind für die Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, wovon Gott
geredet hat durch den Mund aller heiligen Propheten seit Anfang der Welt' (Apg.
3:21)."
Mit anderen Worten, der Pastor hoffte, der Wunderweizen sei ein Zeichen dafür, daß das
tausendjährige Reich vor der Tür stand - sogar in einem materiellen, körperlichen Sinn.
Nach Erscheinen dieses Artikels im "Wachtturm" interessierten
sich einige Bibelforscher lebhaft für den Wunderweizen. Im Jahr 1911 spendeten J. A.
Bohnet aus Pittsburgh in Pennsylvania und Samuel J. Fleming aus Wabash im Staate Indiana
gemeinsam ungefähr 30 Scheffel Wunderweizen für die "Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft". Sie schlugen vor, die Gesellschaft solle den Weizen als
Saatgut zu einem Dollar pro Pfund verkaufen. Der Marktpreis betrug damals durchschnittlich
$ 1.25 pro Pfund. Die Spender hatten verfügt, daß der Erlös von etwa 1800 Dollar der
Gesellschaft zukommen und für ihre religiöse Tätigkeit verwendet werden sollte.
Die Gesellschaft, deren Präsident Pastor Russell war, nahm den Beitrag dankend entgegen
und verkaufte den Wunderweizen.
Dann kam der 22. März 1911, und das Brooklyner Blatt "Daily Eagle", ein
gehässiger Gegner des "Wachtturm", begann mit einer Serie von Artikeln und
Zeichnungen, die sich über den Pastor, seine Religion und seinen Weizen lustig machten.
Am 23. September brachte der "Eagle" eine Karikatur des Pastors und darunter die
Frage: "Wenn Pastor Russell einen Dollar je Pfund Wunderweizen kriegen kann, was
hätte er als Direktor der alten Unionbank für die Wunderaktien und -obligationen
bekommen können?"
Russell verklagte den "Eagle" wegen Verleumdung. Der Prozeß, der darauf folgte,
war einer der sensationellsten Gerichtsfälle in den Annalen von Kings County im Staate
New York. Es ging um den Streit, "ob der in Frage stehende Weizen dem gewöhnlichen
Weizen überlegen war oder nicht".
Des Pastors Religion mußte während der Gerichtsverhandlung allerhand beißende Kritik
über sich ergehen lassen. Mister Stoner kam aus Fincastle mit einem Empfehlungsbrief,
unterzeichnet vom Gouverneur des Staates Virginia, dem Ehrenwerten Herrn Claude A.
Swanson. Er und sieben andere von den elf vorgeladenen Weizenfarmern beschworen, daß sie
"vor dieser Gerichtsverhandlung noch nie etwas von Pastor Russell oder seinen
religiösen Lehren" gehört hätten. Da die Streitfrage aber der Weizen und nicht die
Religion war, scheine den Geschworenen - zum großen Teil Männer von starker religiöser
Voreingenommenheit, einer von ihnen ein Atheist - der Gegenstand der Klage entgangen zu
sein, beschwerte sich der Anwalt des Pastors, Richter Rutherford. Der Brooklyner
"Eagle" gewann den Prozeß, und Russell berief an den Appellationshof des
Obersten Gerichts (168 App. Abt./2d/121).
Seine ehelichen Konflikte, welche die Geschichte von der Qualle und die
Episode vom Wunderweizen zur Sensation gemacht hatten, waren nicht die einzigen
Schwierigkeiten, die Pastor Russells Laufbahn bedrohten. Auf das ganze Auf und Ab seines
Lebensweges näher einzugehen, würde ein umfangreicheres Buch füllen, als dieses mit Fug
und Recht sein darf, und es interessant zu gestalten, würde mehr Geschicklichkeit
erfordern, als ich aufbringen kann. Jede der hier nur kurz umrissenen Geschichten ist im
wesentlichen zugleich die Geschichte aller anderen bemerkenswerten Ereignisse, die sich in
seinem Leben zutrugen. So oft es zu einem Prozeß kam, der seine Schatten auf des Pastors
Rechtschaffenheit und die Religion warf, für die er einstand, tat er sein möglichstes,
ihn niederzukämpfen um des guten Namens willen von Werk und Organisation, denen er
diente.
Russells Gegner, die seine geistige Brillanz nicht bestreiten konnten und seinen
verheerenden Scharfsinn in Bibelfragen fürchteten, erkühnten sich dennoch, verächtlich
zu leugnen, daß der Pastor wirklich ein qualifizierter Bibelgelehrter war. Sie verwiesen
darauf, daß er weder Hebräisch noch Griechisch konnte. In öffentlichen Debatten
forderten sie ihn heraus und verlangten, daß er auf dem Zeugenstand aussage, ob er die
Sprachen der Bibel verstehe oder nicht. Der Pastor sagte natürlich, daß dies nicht der
Fall sei. In der Regel auch bei seinen Feinden nicht, fügte er hinzu.
Eine der gegen Mr. Russell erhobenen Anklagen behauptete, er habe vor
Gericht einen Meineid geschworen, indem er aussagte, er verstehe Griechisch. Das
betreffende Verfahren war von dem Pastor gegen den Verfasser eines Traktats eingeleitet
worden, der ihn, Mr. Russells Ansicht nach, verleumdet hatte. Am 17. März 1913 machte der
Pastor vor dem Polizeigerichtshof der Stadt Hamilton in Ontario folgende Zeugenaussage:
Frage: "Sie behaupten also nicht, der lateinischen Sprache mächtig zu sein?"
Antwort: "Nein, Sir."
Frage: "Auch nicht der griechischen?"
Antwort: "Nein, Sir."
Dann wurde er gefragt, ob er die griechischen Buchstaben, das griechische Alphabet kenne.
Ja, antwortete er. Seine Gegner verdrehten nun diese Feststellung, daß er die
griechischen Buchstaben kenne, in die falsche und unverbürgte Behauptung, er habe gesagt,
er sei der griechischen Sprache mächtig.
Worüber er aber verfüge, erklärte der Pastor, das sei die Schulbubenfähigkeit, ein
englisches Bibelwort in einem hebräischen oder griechischen Wörterbuch nachzuschlagen.
Auf diese Art konnte er herausfinden, wie der ursprüngliche hebräische oder griechische
Ausdruck lautete. Ferner konnte er das griechische oder hebräische Originalwort in einem
Wörterbuch aufsuchen, das die Definition im Englischen enthielt. Von hier aus konnte er
wieder in der Bibel nachschlagen und den hier in der Übersetzung benutzten englischen
Ausdruck mit den im Wörterbuch angegebenen englischen Worten vergleichen. Manchmal
stimmte der in der King-James- oder in der katholischen Bibelübersetzung gebrauchte
Ausdruck nicht mit den englischen Wörtern überein, mit denen das Wörterbuch die
betreffenden hebräischen oder griechischen Ausdrücke wiedergab. Da hatte also jemand
unrecht - entweder die Bibelübersetzer oder die Verfasser des biblischen Wörterbuches.
Zum Beispiel konnte er im Alten Testament oder den Hebräischen Schriften die Worte
"Hölle", "Grab" und "Abgrund" der protestantischen und
katholischen Bibelfassung nachschlagen. So kam er dahinter, daß alle drei Wörter für
ein- und denselben ursprünglichen Ausdruck im Hebräischen standen, nämlich für die
Bezeichnung "sheol". Das Wort "Hölle" mußte also die gleiche
Bedeutung haben wie "Grab" oder "Abgrund", andernfalls mußten die
Übersetzer selbst kein Hebräisch verstanden haben.
Oder er konnte das Wort "Hölle" im Neuen Testament oder den Griechischen
Schriften nachschlagen und feststellen, daß es im griechischen Original drei verschiedene
griechische Ausdrücke waren, "Hades", "Gehenna" und
"Tartarus", die man alle durch das eine Wort "Hölle" übersetzt
hatte. Dem griechischen Wörterbuch zufolge bedeuteten diese drei griechischen Worte drei
verschiedene Dinge. Warum also drei verschiedene Bedeutungen hinter dem einen Wort
"Hölle" verstecken?
Wenn man jede Bezugnahme auf die "Hölle" die ganze Bibel hindurch aufmerksam
verfolgte, mußte man im Lichte solcher Tatsachen wohl das eine oder andere Mal auf
Gedanken kommen, die sich nicht mit den orthodoxen Schlagworten in Einklang bringen
ließen.
Für solche Nachforschungen benützte Russell die von Katholiken und Protestanten
vorgelegten klassischen Übersetzungen und Fassungen. Er verwendete Bibellexika,
Erläuterungen und andere Bibelwerke, wie sie von Presbyterianern, Methodisten, Juden und
Christadelphianern zusammengestellt wurden. Es sei nicht so ungemein kompliziert, Worte
und Aussprüche in verschiedenen Büchern nachzuschlagen, versicherte er. Wirklich
kompliziert sei hingegen die Tatsache, daß die Kirchen es zustande gebracht hatten, sich
bis 1880 in mehr als 200 konfessionelle Schismen aufzuspalten. Dieser Prozeß hat sich
fortgesetzt, und ein halbes Jahrhundert später gab es allein in den Vereinigten Staaten
mehr als 265 Schismen. Die Bibelforscher bemühten sich um eine grundlegende Reformierung,
um eine "Rückkehr zur Bibel", zur "ursprünglichen, wahren Lehre",
woraus ein "Urchristentum" entstehen sollte, das die Menschen aus allen anderen
Religionen zu einem in der "gereinigten und geklärten Auffassung" des
Christentums geeinten Volk zusammenzog. ...
Am Nachmittag des Montag, dem 16. Oktober 1916, um fünf Uhr, nahm
Pastor Russell im Bethelhaus der Neuen Welt in Brooklyn von der Heimfamilie seiner
Mitarbeiter Abschied. Er war 64 Jahre alt und hatte einen harten, von Vortragsreisen
ausgefüllten Herbst hinter sich. Er hatte als Pastor, als Oberhirte den Zeugengemeinden
von New York, Washington, Pittsburgh, Chikago, Los Angeles und anderer Städte in den USA,
in London, in England und in Europa, Afrika, Asien und Australien gedient.
Er war nun im Begriff, eine Vortragsreise anzutreten, die ihn kreuz und quer durch das
Land nach Los Angeles und zurück führen sollte. Sein Reisegefährte Menta Sturgeon
betonte eindringlich, daß diese Rundreise über die Kräfte des alternden Mannes ging.
Aber der Pastor wollte nichts davon wissen und weigerte sich, die Tour abzusagen.
Er litt seit dreißig Jahren an einer Blasenentzündung, und die
Krankheit hatte bereits das Stadium der Unheilbarkeit erreicht. Er wußte es. Aber es war
ihm lieber, seine gewohnte Lebensweise fortzuführen, bis der Tod kam, als stillzusitzen
und dann doch zu sterben. So jedenfalls schien er die Sache zu betrachten.
Damals war Russells sechsbändiges Werk, "Studien der Heiligen Schriften",
bereits in einer Auflage von 16 Millionen in 34 Sprachen auf der ganzen Erde verbreitet.
Die Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft von Pennsylvanien, deren Satzungen er
selbst abgefaßt hatte, besaß nun auch eine Schwestergesellschaft in der
Volkskanzelvereinigung (seit Februar 1939 eingetragene Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft benannt) des Staates New York. Es gab zahlreiche andere
Schwestergesellschaften und Zweigniederlassungen in Großbritannien, Deutschland,
Finnland, Norwegen, Schweden, Dänemark, Frankreich, in der Schweiz und in Südafrika und
anderen Ländern. 37 Jahre hindurch hatte er die Halbmonatsschrift "Der
Wachtturm" redigiert und veröffentlicht. Dies war "die einzige Zeitschrift der
Welt, die jemals die Gegenwart Unseres Herrn ankündigte." Seine Predigten und
Vorträge, die sie veröffentlichte, wurden um 1916 in 1500 Zeitungen auf der ganzen Welt
verbreitet.
Am Dienstag, dem zweiten Reisetag, verließen den Pastor während der Fahrt in der
Eisenbahn beinahe die Kräfte. Sein Gefährte, Mr. Sturgeon, notierte in seinem
Reisetagebuch, Mr. Russell sei "zu jeder Stunde der Nacht wach gewesen und habe Tag
und Nacht ziemlich viel nachgedacht". Der Mittwoch gestaltete sich qualvoll ermüdend
und begann schon mit einem Umweg, verursacht durch eine Zugentgleisung. Dann folgte ein
langer Aufenthalt in der Bahnstation Kalamazoo, ohne Essen, die Ankunft in Chikago mit
sechsstündiger Verspätung, so daß der Pastor seinen verabredeten Vortrag versäumte und
auch den Zug nach Springfield nicht mehr erreichte. Auf dem Bahnhof in Chikago hielt ihn
eine Schriftstellerin auf und verlangte Material für ein Buch, das sie über sein Werk
schrieb. "Die Leute auf der Bahn kannten ihn - Schaffner, Träger, Zugführer und
Passagiere", bemerkte Sturgeon. "Auf den Bahnhöfen, in den Hotels, auf der
Straße, überall wurde er erkannt. Oft kamen die Leute im Zug zu mir und fragten:
Ist das nicht Pastor Russell? Ich erkannte ihn nach seinem Bild in der Zeitung',
sagten sie, oder dort und dort habe ich einen Vortrag von ihm gehört'.
Manchmal fragten sie auch, wenn er gerade vorübergegangen war:
Wer ist denn der distinguierte Herr mit Ihnen?'"
Auf dieser Fahrt mußte er zum ersten Male verabredete Vorträge absagen. Er fühlte sich
zu elend, um in Springfield sprechen zu können. In Kansas City mußte er rennen, um einen
Zug zu erreichen. "Wie anders doch diese Reise war als alle früheren!" klagte
Sturgeon später. In Wichita verlor der Pastor seinen Koffer; er fiel vom Gepäckträger
des Wagens, der ihn an den Ort seiner Verabredung brachte. Mit dem Koffer waren auch seine
Notizen dahin. Nach Dallas kam er zu einem dreitägigen Kongreß, der mitten im Trubel
eines Jahrmarkts vor sich gehen mußte. Nach dieser Nervenprobe war er "müde, und
der Kopf schmerzte ihn".
Sturgeon berichtete, daß der Pastor, als sie am nächsten Morgen in Galveston ankamen,
"sich keineswegs wohlfühlte". Und "auf dieser Versammlung tat er etwas,
das wir noch nie bei ihm gesehen hatten. Er notierte sich seinen Text und eine Strophe
eines Liedes auf ein Blatt Papier und sagte den Freunden, er habe dies getan, damit ihm
kein Fehler unterlaufen könne."
Der Pastor, Sturgeon und neun Freunde speisten an diesem Tage, dem 22. Oktober, im Hotel
Galvez. "Dies sollte die letzte Mahlzeit sein, die Bruder Russell zu sich nahm,"
sagte Sturgeon. "Danach durfte es nur mehr ein wenig Fruchtsaft sein, ein oder zwei
Schluck von einem weichgekochten Ei oder ähnliches."
Nach seinem letzten Mittagessen hielt der Pastor eine Ansprache vor
einer Zuhörerschaft in Galveston, nahm unmittelbar darauf einen Zug nach Houston und
hielt dort einen Vortrag von zweieinhalb Stunden Dauer. Das hieß, daß er an jenem Tage
sechs Stunden auf der Rednertribüne gestanden hatte, ohne die Stunden zu zählen, in
denen er fremde Sorgen angehört und Ratschläge erteilt hatte. Dann bestieg er einen Zug
nach Antonio und fuhr die ganze Nacht hindurch.
Am nächsten Morgen begann er mit der Plackerei eines Tages, der der Erledigung von
Briefen und geschäftlichen Angelegenheiten im Interesse der Gesellschaft gewidmet war. Am
Abend bestieg Russell zum letztenmal das Podium.
Während seiner Rede mußte er dreimal die Tribüne verlassen und Pausen von fünf, sieben
und zehn Minuten einschalten, während welcher Sturgeon, sein Sekretär, für ihn
einsprang.
Am späten Abend bestiegen sie einen Zug nach Los Angeles.
Zum erstenrnal zog Sturgeon ihm die Schuhe aus und massierte ihm
während des Schwächeanfalls die Hand.
"Das ist die Hand, die am meisten Glaubensbekenntnisse zerschmettert hat", sagte
er ihm.
"Ich glaube, daß sie keine mehr zerschmettern wird", erwiderte der Pastor.
Später in der Nacht fragte Russell müde: "Was sollen wir tun?"
"Ich denke, Sie kennen Ihren Fall besser als irgendein anderer", antwortete
Sturgeon hilflos. "Sie haben an alles gedacht, was zu tun ist. Habe ich alles getan,
was ich Ihrer Meinung nach hätte tun sollen?"
"Gewiß", brachte der Kranke mühsam hervor. "Ich weiß nicht, was ich ohne
Sie täte."
Der Pastor litt bereits Todesqualen. Sturgeon wollte ihn zur Rückkehr nach Brooklyn
bewegen. "Sie werden immer schwächer, Ihre Kräfte schwinden, solange Sie nichts
essen, um sie zu ersetzen."
In Brooklyn oder sonstwo könne ihm auch niemand helfen, sagte der Pastor mit stoischer
Ruhe.
Auf der Strecke war eine Brücke ausgebrannt, und eine Verzögerung von einem ganzen Tag
in Del Rio, wo sie bei großer Hitze neben einem Zug voll Soldaten hielten, linderte seine
Schmerzen nicht.
Am Sonntag, dem 29. Oktober, sprach Russell in Los Angeles zu der versammelten Gemeinde
von einem Sessel aus. In der Nacht traten er und Sturgeon in einem Santa Fé-Zug die lange
Reise zurück nach Brooklyn an. Aber Pastor Russell verließ den Zug nicht mehr. Nämlich
nicht mehr lebend.
In Tulsa, Topeko, Lincoln hatte der Zug Aufenthalt. Am Dienstag, dem 31., sandte Menta
Sturgeon ein Telegramm nach Brooklyn, in welchem er mitteilte, daß der Pastor nicht mehr
am Leben sein werde, noch ehe der Oktober vorüber war. "Nach Einbalsamierung komme
ich mit seinen sterblichen Überresten heim."
In Panhandle im Staate Texas wurde ein Arzt zu ihm gerufen. Er untersuchte den Fall,
stellte die Symptome fest, nannte Sturgeon seinen Namen und "war wieder weg, noch
bevor der Zug Signal zur Abfahrt gab".
Wenige Minuten später, gegen 1 Uhr mittags am 31. Oktober 1916, tat Pastor Russell seinen
letzten Atemzug.
In den Augen des Mannes, der ihn so sehr bewundert hatte, Richter
Rutherford, war der Pastor der größte Prediger seit dem Apostel Paulus. "Er hat
mehr für die Sache des Königreichs Messias' geleistet als irgendein anderer
Sterblicher", sagte Rutherford zusammenfassend.
Die Religion, zu der sich Russell bekannte und die er verbreitete, gewann seit 1870 immer
mehr Anhänger. Um 1950 galt sie bereits allgemein als die "am schnellsten sich
ausbreitende Religion der Welt". ...
"Wer wird unser Pastor sein?"
Diese Frage erklang, als Charles T. Russell starb. Sie widerhallte durch die Reihen der
Internationalen Bibelforscher rings um die ganze Welt.
"Ich nicht", antwortete Joseph F. Rutherford.
Er war der Mann, der an Pastor Russells Stelle zum Präsidenten der Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft von Pennsylvanien, der Volkskanzelvereinigung von New York und der
britischen Körperschaft, der Internationalen Bibelforschervereinigung, ernannt worden
war.
Mister Rutherford, Rechtsanwalt mit fünfundzwanzigjähriger, auf allen
Gebieten erprobter Erfahrung, hielt sich jedoch nicht für würdig, in Mr. Russells
Fußstapfen zu treten, jedenfalls nicht in der Rolle eines Pastors, eines Oberhirten.
Niemand könne jemals Russell in dieser Rolle ersetzen, beharrte er. "In Anbetracht
dessen und in Ehrerbietung vor seinem Andenken bin ich der Meinung, daß fortan niemand
mehr zum Pastor einer unserer Religionsgemeinschaften gewählt werden sollte."
Wie wollte dann er - Rutherford - den Kongregationen dienen?
"Wenn ihr glaubt, daß mein Name, weil ich Präsident der Gesellschaft bin, mit eurer
Religionsgemeinschaft verbunden sein soll", entgegnete Rutherford, "dann ernennt
mich zum Rechtsberater".
Er habe Pastor Russell viele Jahre als Rechtsberater gedient, erinnerte er sie. "Es
wird mich freuen, in dieser Stellung weiterhin für die Freunde im allgemeinen tätig zu
sein." Er wollte der gesamten Organisation dienen, "in der Stellung eines
Rechtsberaters, Ratgebers und Helfers". Aber nicht als Pastor.
Von dieser Zeit an begann in Art und Haltung der Bibelforscher eine Veränderung Platz zu greifen. Sie ging langsam, aber merklich vor sich. Zum erstenmal fingen sie an zu begreifen, daß die "Organisation" wichtiger war als "Einzelpersönlichkeiten".
Bis 1916 hatten sich die Bibelforscher um den Mann Russell geschart. Er
war der Sammelpunkt gewesen. Es gab noch keine "Gesellschaft" von Leuten, die
verstanden hätten, wie man sich um etwas anderes sammeln kann als um einen Mann.
Mehr als einmal machte Russell die Bibelforscher darauf aufmerksam, daß er nicht über
jeden Irrtum erhaben war. Er erhob keineswegs den Anspruch, daß alles, was er predigte
oder schrieb, die absolute, unfehlbare Wahrheit sei. Ein Spruch aus den Psalmen (4:18) war
sein Motto: "Der Pfad des Gerechten ist wie das strahlende Licht, das mehr und mehr
leuchtet bis zum Tag der Vollendung." Er betrachtete sich selbst nur als einen unter
den vielen Bibelforschern. Ihm war die Bibel das Buch des Lebens, dessen Lehren
jahrhundertelang unter religiösen Irrtümern und heidnischen Fälschungen begraben
gelegen hatten. Kein Mensch konnte all das Licht mit einem Blick erfassen. Es mußte Jahre
und Jahre dauern, bis das Licht "mehr und mehr leuchtete bis zum Tag der
Vollendung". Er hatte auch nicht damit gerechnet, die "volle
Wiederaufnahme" der biblischen Wahrheiten in die Gemeinschaft der Christen zu
erleben.
Nun, nachdem sie vierzig Jahre lang seinen Predigten gelauscht und unter seiner Leitung
ihre Studien betrieben hatten, fühlten sich die Bibelforscher so erschüttert und wie
betäubt durch seinen Verlust, daß sie nicht wußten, in welcher Richtung sie
weiterschreiten sollten. Viele von ihnen empfanden jedenfalls so. Sie schienen zu glauben,
daß mit dem Tod des Pastors auch die Hoffnung auf "weitere Offenbarung"
erloschen war. Ein Schriftleiter mußte 1917 im "Wachtturm" den Getreuen
versichern, daß die in der Zeitschrift veröffentlichten Predigten noch immer die des
Pastors waren. Er hatte einen fast "unerschöpflichen" Vorrat an Predigten
hinterlassen, die auf lange, lange Zeit hinaus gedruckt worden waren. Natürlich brachte
das Blatt auch anderen Lesestoff, aber die wichtigsten Predigten waren die des Pastors.
So war eines der ersten Hindernisse, die Anwalt Rutherford wegräumen mußte, der
"Menschenverehrungs-Komplex". Die Gemeinden waren ganz auf
"Persönlichkeitskult" eingestellt.
Rutherford war der Meinung, daß "Organisationsentwicklung" das beste
Gegenmittel für den "Individualismus" sein müßte. Die Bibelforscher hatten zu
Russell aufgeblickt als zu dem "Diener", der nach der Vorhersage Jesu dazu
"bestimmt wäre, die Getreuen beim Herannahen des Königreichs in die Wahrheit zu
führen". Der Pastor selbst hatte jedoch darauf hingewiesen, daß viel
wahrscheinlicher die Verlagsorganisation der "Diener" sei. Seit vierzig Jahren
hatte durch ihr Sprachrohr, den "Wachtturm", die Organisation die Vermutung
geäußert, daß die biblischen Zeitrechnungen auf das Jahr 1914 als das Ende der
ununterbrochenen "heidnischen Herrschaft" hinwiesen. Zu dieser Zeit sollte die
Herrschaft des Königreichs gewaltsam in des Teufels System der Dinge eingreifen. Das
Königreich würde "inmitten seiner Feinde" zu herrschen beginnen. Viele
Bibelforscher schienen dies übersehen zu haben. Sie dachten nicht daran, daß eine
einleitende Zeitspanne vorangehen würde, die durch Harmagedon ihren Höhepunkt erreichte,
ehe die ungehemmte tausendjährige Herrschaft Christi begann.
Rutherford wies darauf hin, daß dies bedeutete, eine Menge Arbeit müsse noch getan
werden. Den Völkern der ganzen Welt müsse "zur Kenntnis gebracht werden", daß
"das Königreich da sei". Es war Zeit, den Befehl zu befolgen: "Dieses
Evangelium vom Königreich soll in der ganzen Welt gepredigt werden, allen Völkern zum
Zeugnis, und dann wird das Ende kommen." Der Text aus Matthäus 24:14 ist auch jetzt
noch das von den Zeugen Jehovas wahrscheinlich am meisten verwendete Zitat aus der
Heiligen Schrift.
"Wir müssen daher das Königreich ankündigen!" forderte Richter Rutherford.
Dies behagte einem großen Teil seiner Zuhörer nicht allzu sehr.
Vierzig Jahre lang hatten sie 1914 entgegengeharrt. Viele glaubten, daß etwa im Oktober
jenes Jahres der Herr herabkommen und sie in die himmlische Glorie entführen würde. Er
unterließ es, auf diesem Wege zu kommen. Nun fanden sie keinen rechten Geschmack daran,
die Arbeit wieder aufzunehmen und fleißiger denn je in ihr fortzuschreiten. Wenn das
Königreich sie so viel kosten sollte, waren sie nicht ganz sicher, ob es dies auch wert
sei. Interesse und Begeisterung waren im Abkühlen, als Rutherford das Steuer übernahm.
Rutherford wies darauf hin, daß der Pastor selbst auf "dieses große Werk für den
Tag des Gerichts" gehofft habe. Der Pastor selbst hatte vorausgesehen, daß jeder der
"Geweihten" teilhaben müsse "am Zeugnis". Rutherford führte Russells
Worte an: "Er wird Sein ganzes Volk teilhaben lassen."
Er erinnerte auch daran, daß es den Entwurf eines unvollendeten Werkes gab, an dem Mr.
Russell bis zu seinem Tode gearbeitet hatte. Es war größer, wichtiger als alles, was der
Pastor zuvor getan hatte. Es sollte der Höhepunkt seiner Laufbahn werden.
Geplant war die Herausgabe eines letzten Bandes, des siebenten. Er
sollte die Krönung der sechs vorhergehenden "Studien in der Heiligen Schrift"
bilden. Die ersten sechs Bände waren nur die Grundlage für den siebenten gewesen. Der
siebente sollte der Christenheit den geistigen Todesstoß versetzen.
Seit einiger Zeit war eine ausführliche, genaue Klarlegung der Welt, wie sie in der
Heiligen Schrift unter dem Namen "Babylon" geschildert wird, in Pastor Russells
Kopf herangereift. Dies sollte die Botschaft des Siebenten Bandes werden. Er würde an den
Tag bringen, daß "die nominelle Kirche, die katholische, protestantische" und
andere Teile im Verein mit den zivilen Mächten Babylon bildeten, "ein Greuel in den
Augen des Herrn". Der Siebente Band sollte mit der Welt abrechnen und die allgemeine
Vorstellung zerstören, daß unsere Welt Gottes Welt ist und der Teufel sich eben nur
anstrengt, sie zu verderben. Es mußte vielmehr klargemacht werden, daß es sich in
Wahrheit genau umgekehrt verhält: daß unsere Welt des Teufels ist, unbekehrt und
unverbesserlich, und daß Gott nun in ihren verruchten Lauf eingreift und sein Königreich
durch Christus zur Herrschaft bringt.
Darum müsse inmitten der Welt des Teufels die gute Botschaft gepredigt werden, zum Ärger
des Satans und um aller jener willen, die auf die Warnung hören wollen, ehe Harmagedon
das Universum von dem alten System der Dinge befreit.
Der Prophet Elias hatte furchtlos bis zu seinem Todestag gegen das sündige Israel
geweissagt. Dann nahm Elisa den Mantel des Elias auf. Elisa bat um den "doppelten
Anteil" des Geistes, der auf Elias geruht hatte. Pastor Russell hatte nach Ansicht
der Bibelforscher ein Werk gleich dem des Elias vollbracht. Er hatte vierzig Jahre lang
die Christenheit darauf aufmerksam gemacht, daß mit der Errichtung des Königreichs im
Jahre 1914 der Tag des Gerichts für sie herannahe.
Nun war die Zeit gekommen für das "Werk des Elisa" - mit doppelt soviel Mut!
Wer würde "den Mantel des Elias" aufnehmen? Er nicht, erklärte Rutherford. Die
Organisation müsse es sein - das ganze Volk des Herrn müsse mit vereinter Kraft
"den Tag des Gerichtes Jehovas" verkünden.
Gab es für die Organisation einen besseren Weg, damit zu beginnen, als die Herausgabe des
Siebenten Bandes? "Bis zu seinem letzten Tag wendete Bruder Russell seine ganze Kraft
dafür auf, den Sturz Babylons vorzubereiten", erinnerte Rutherford. Der alternde
Pastor hatte einen Teil des Materials bearbeitet. Die Arbeit mußte nun vollendet werden.
In den Herzen und im Geiste all jener, die die Tatsachen sahen, mußte Babylon
unweigerlich fallen. Der Siebente Band mußte ihnen die Augen für diese Tatsachen
öffnen.
Zwei hervorragende Bibelforscher, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher, wurden aufgefordert, "das Manuskript zu verfassen und zu ergänzen, was von Bruder Russell geschrieben worden war". Das Werk, das aus ihrer Feder kam, wurde veröffentlicht. Das Titelblatt trug die Namen der drei Religionsgemeinschaften als Herausgeber und Bürgen.
So konnte endlich, am 17. Juli 1917, der siebente und letzte Band der
"Studien in der Heiligen Schrift" erscheinen. Der Titel des Buches lautete:
"Das vollendete Geheimnis". Es wurde der gewaltigste Bestseller seiner Zeit.
"Als das Buch zum erstenmal herauskam", berichtete der Wachtturm' im
Dezember 1917, "glaubte man, daß weniger als 100 000 Exemplare genügen würden,
doch schon im Oktober war eine Auflage von 850 000 im Druck."
In Europa waren bereits schwedische und französische Ausgaben erschienen. Übersetzungen
ins Deutsche, Polnische, Griechische und in andere Sprachen wurden rasch fertiggestellt.
Der Siebente Band lief auch als Fortsetzungsserie in verschiedenen Sprachen im
"Wachtturm". "Die Verkaufsziffern des Siebenten Bandes wurden von keinem
anderen Buch, mit Ausnahme der Bibel, in so kurzer Zeit erreicht", konnte die
Gesellschaft sechs Monate nach dem ersten Erscheinen berichten.
Es war ein Triumph für die Organisation. "Der Arm des Herrn ist nicht kürzer
geworden; Er kann Seinen Geist ausgießen über jeden Seiner Diener, um Seine Absicht zu
vollziehen." In diesem Sinne wurden nachher in den Spalten des "Wachtturms"
die Empfindungen zum Ausdruck gebracht.
"Die Arbeit geht weiter!" betonte Rutherford nachdrücklich.
Der Siebente Band wurde in der "Bloßstellung Babylons" den kühnsten
Erwartungen der Bibelforscher gerecht. Er "stellte die Welt vor Gericht".
"Das Königreich hier" war die einzige Hoffnung. Diese Tatsache mußte bekannt
gemacht werden. Wer sich nicht abwendete von den alten Systemen der Dinge, die von
religiös-politisch-kommerziellen Banden zusammengehalten wurden, mußte in der Schlacht
des großen Tages Gottes des Allmächtigen mit den alten Weltordnungen untergehen.
Die alte Welt stöhnte unter diesem Urteil, sie stöhnte heftig: Der Siebente Band spielte
eine Hauptrolle in der Anklage wegen Aufwiegelung, welche die Regierung der Vereinigten
Staaten 1918 gegen Rutherford und sieben andere erhob.
Zuvor jedoch stellte sich dem neuen Präsidenten ein anderes Hindernis
turmhoch in den Weg. In den Reihen des Hauptquartiers in Brooklyn brach ein Aufstand aus.
Lange Zeit hindurch war das "Sichten der Ernte" Hauptthema des Wachtturms
gewesen. Die Bibelforscher neigten zu einem Bruch innerhalb ihrer Reihen. "Die Liebe
vieler wird erkalten", war als eines der Zeichen für die Gegenwart des Königreichs
geweissagt worden. Pastor Russells Tod war anscheinend das Signal zum Massenkampf um den
Vorrang im Vorstand der Gesellschaft gewesen.
Knapp vor seinem Tode hatte Mr. Russell Vorkehrungen zur Umgestaltung des Personals im
Hauptquartier oder Bethel getroffen. Zu seinem Plan gehörte die Absetzung einiger der
höchsten Beamten mit Einschluß des Vizepräsidenten sowie der Aufstieg anderer aus den
unteren Rängen. Die abgesetzten Mitglieder hätten wohl ihren verletzten Stolz
hinabgewürgt, wenn der Pastor noch zu seinen Lebzeiten den Wechsel vorgenommen hätte.
Als Rutherford diese Veränderungen durchführte, konnten sie sich nicht damit abfinden.
Fünf Monate, nachdem er die Präsidentschaft angetreten hatte, lehnten vier von sieben
Direktoren es ab, seine Machtbefugnisse anzuerkennen. Alexander Hugh Macmillan war der
Zankapfel. In seinen letzten Tagen in Brooklyn hatte Pastor Russell seinem großen
Vertrauen zu Macmillan Ausdruck gegeben. Aber weder er noch irgend jemand anderer hatte
ihn zum Mitglied des Vorstandes ernannt. Als jedoch Rutherford Präsident wurde, bestimmte
er Macmillan zum Assistenten oder Beistand des Präsidenten.
Vier Vorstandsmitglieder wünschten eine Neueinteilung. Vor allem wollten sie, daß alles,
was Rutherford tat, von der Zustimmung des Vorstands abhängig gemacht werde. Dieses
Direktorium, behaupteten sie, sei die höchste Autorität, und der Präsident sei nur eine
Repräsentationsfigur. Wie die Dinge standen, handhabte der Präsident selbst die
Verwaltung, ohne die Vorstandsmitglieder zu befragen. Er ließ sie erst wissen, was er
tat, nachdem es bereits geschehen war. Er setzte sie in den Stand von bloßen Beratern in
legalen Angelegenheiten der Körperschaft.
Rutherford kümmerte sich nicht um den Widerstand. Vor ihm hatte es der Pastor ebenso
gehalten. Der Pastor faßte die Beschlüsse und gab administrative Anordnungen heraus ohne
vorherige Zustimmung des Vorstands. Den Pastor hatten sie nicht abgelehnt, aber Rutherford
war nicht Pastor Russell.
Als sie Rutherford stürzen wollten, mußten die vier
Direktoriumsmitglieder die Erfahrung machen, daß sie vier Flaschenkorken glichen, die
gegen den Felsen von Gibraltar sprangen. Rutherford war ein Mann von gefürchteter
persönlicher Macht. Gegen seine kraftvolle Persönlichkeit vermochten sich nur wenige
Menschen zu behaupten. Er war auch klug. Doch sie hatten es so gewollt, und nun würde er
den unglücklichen Beschwerdeführern ein oder zwei Dinge zeigen, von denen sie nicht
geträumt hatten.
Erstens verwies er auf eine Bestimmung in den Satzungen der Volkskanzelvereinigung. Dies
war die New Yorker Körperschaft, deren Aufbau der pennsylvanischen Körperschaft, der
Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft, entsprach. Damit die Gesellschaft ihre
Tätigkeit auch in New York ausüben könne, waren das ganze Eigentum und die Geschäfte
der pennsylvanischen Körperschaft der New Yorker Körperschaft übertragen worden. Und
jene Bestimmung in den Satzungen der New Yorker Körperschaft lautete wie folgt:
Besagte Körperschaft wird folgende Funktionäre haben: Einen Präsidenten, der auf der ersten Versammlung dieser Körperschaft vom Vorstand gewählt und sein Amt lebenslänglich ausüben wird und dessen Pflicht es sein wird, den Versammlungen der Körperschaft oder des Direktoriums vorzusitzen, die gesamte Überwachung und Kontrolle durchzuführen sowie die geschäftlichen und übrigen Angelegenheiten besagter Körperschaft zu leiten1.
1) Daß der Präsident der Gesellschaft danach fortfuhr, sein
Amt in so unumschränkter Freiheit auszuüben, geht aus folgendem Bericht über N. H.
Knorrs Tätigkeit bei der Herausgabe einer neuen Bibelübersetzung hervor. Wir zitieren
hier aus dem "Wachtturm" vom 15. September 1950, Seiten 315, 316:
"Besonders seit 1946 war der Präsident der Wachtturm-, Bibel- und
Traktat-Gesellschaft auf der Suche nach einer solchen Übersetzung des Neuen Testaments.
Zum 3. September 1949, um 8 Uhr früh, berief der Präsident der Gesellschaft im
Brooklyner Hauptquartier (Bethel) eine gemeinsame Versammlung der Direktorien der
pennsylvanischen und der New Yorker
Körperschaft ein, auf welcher nur einer der Direktoren abwesend war. Nach Eröffnung der
Versammlung durch ein Gebet teilte der Präsident den 8 Direktoriumskollegen mit, daß ein
Neue-Welt-Bibelübersetzungskomitee bestehe und daß es eine Übersetzung des Neuen
Testaments fertiggestellt habe. Diese war am Tag vorher in den Besitz und unter die
Kontrolle der Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft, pennsylvanische Körperschaft,
übergegangen. Er las die Urkunde vor, durch welche das Komitee sein Manuskript der
Übersetzung an die Gesellschaft übergeben hatte, in Anerkennung ihrer Tätigkeit, die
keiner Sekte galt, sondern der Verbreitung des geheiligten Wortes Gottes und der
Förderung der Kenntnis und des Verstehens seiner Lehre unter den Menschen aller Nationen,
Rassen, Völker und Sprachen und damit diese Übersetzung ein neuer Helfer zur Ausbreitung
ihrer christlich-erzieherischen Tätigkeit auf der ganzen Welt werde.
Der Präsident hatte selbst das vollständige Manuskript der Übersetzung gelesen, und auf
Verlangen las er der Versammlung mehrere Kapitel daraus vor, um dem Direktorium Einblick
in die Art der Übersetzung zu geben. Auf diese Lektüre folgte eine lobende Kritik aller
anwesenden Direktoren. Einer der Direktoren der pennsylvanischen Körperschaft beantragte
hierauf die Annahme des Geschenks seitens der Gesellschaft und wurde dabei unterstützt.
Der Antrag wurde von allen Direktoren der Körperschaft einstimmig angenommen. So wurde
die Übersetzung legales Eigentum der pennsylvanischen Körperschaft der Gesellschaft. Nun
mußte sie in der Druckerei der New Yorker Körperschaft in Brooklyn gedruckt werden. Am
29. September 1949 übergab der Präsident den ersten Teil des Manuskripts dem Brooklyner
Betrieb, der mit dem Druck begann."
Das war den vier widerspenstigen Direktoren nicht recht. Sie versuchten,
eine Sitzung des Vorstandes zu erzwingen. Da fuhr Rutherford in seiner Sachkenntnis als
Anwalt mit schwerem Geschütz auf.
Es ist euch entgangen, Brüder, sagte er, daß ihr alle vier Mitglieder der
pennsylvanischen Körperschaft seid. Die Satzungen dieser Körperschaft besagen, daß ihr
im Staate Pennsylvania gewählt werden müßt. Seid ihr dort gewählt worden?
Nein, antworteten sie.
Ihr wurdet im Staate New York gewählt. Wollt ihr nun streng sachlich werden, dann sage
ich euch streng sachlich, daß ihr vor allem keine legalen Mitglieder der Körperschaft
seid.
Und warum wurde keine legale Wahl vorgenommen? fragten sie.
Der Pastor ließ einige Jahre die Wahlen im Staate New York abhalten. Bisher hat deshalb
niemand Schwierigkeiten gemacht, erwiderte er. Wir kamen gut miteinander aus, bis ihr vier
anfingt, euch aufzulehnen.
Nur drei Mitglieder des Aufsichtsrates - Pierson, Van Amburgh und
Rutherford selbst - waren ordnungsgemäß in Pennsylvanien gewählt worden, betonte er.
Dann holte er zum Todesstoß aus.
Eine andere Bestimmung in den Satzungen sieht vor, daß der Präsident, falls die
Körperschaftsmitglieder nicht innerhalb von dreißig Tagen ein neues Mitglied wählen,
befugt ist, ein Mitglied in den Vorstand zu ernennen, stellte er fest.
Da ihr vier keine legalen Mitglieder seid und die dreißig Tage längst vorbei sind, seit
legale Ernennungen vorgenommen wurden, werde ich euch sagen, was ich getan habe, fuhr er
fort. Ich habe in Pennsylvanien vier legal eingesetzte Mitglieder in den Vorstand ernannt.
Sie nehmen eure Stellen ein, schloß er.
Am 17. Juli 1917, dem Tag des Erscheinens des Siebenten Bandes, gab
Rutherford die Ernennungen von Dr. W. E. Spill, J. A. Bohnet, George H. Fisher und des
umstrittenen A. Hugh Macmillan in den Vorstand bekannt. Sie ersetzten die vier
Unzufriedenen, R. H. Hirsh, J. D. Wright, A. I. Ritchie und I. F. Hoskins.
Im Brooklyner Bethel wurden die enthobenen Direktoriumsmitglieder und noch einige andere
"unglückliche Ankläger" ersucht, auszutreten. Ehe das "Sichten der
Ernte" im Bethel vorüber war, hatte man 31 Mitglieder ausgeschlossen.
Dann stellte Rutherford die Vertrauensfrage. Alle Zeugengemeinden wurden aufgefordert,
sich daran zu beteiligen. ...
"Joseph F. Rutherford und sechs der sieben anderen Russelliten
wurden der Übertretung des Spionage-Gesetzes überführt und gestern durch Richter Howe
vom U.S.-Bezirksgericht in Brooklyn zu je zwanzig Jahren Gefängnis in der Strafanstalt
Atlanta verurteilt."
Diese Nachricht erschien in der "New York Tribune" vom 22. Juni 1918.
Ein Strafaufschub, so besagte der Bericht, wurde dem achten Angeklagten, Giovanni de
Cecca, bewilligt. "Seine Kameraden", hieß es weiter, "jeder mit einer
roten Nelke im Knopfloch, verließen den Gerichtssaal, um ihre Strafe anzutreten."
Ebenso wie die übrigen Zeitungen gab die "Tribune" einige Bemerkungen Richter
H. B. Howes wieder, die seine Ansicht zum Ausdruck brachten.
"Hätten sie Schußwaffen und Schwerter genommen", sagte er, "und sich der
deutschen Armee angeschlossen, so wäre der Schaden, den sie anrichten konnten,
unbedeutend gewesen im Vergleich zu dem Resultat ihrer Propaganda."
"Die Propaganda, die sie im eigenen Land wie auch unter unseren Alliierten förderten
und verbreiteten", erklärte Richter Howe, "war in der Tat gefährlicher und
unheilvoller gewesen als eine Division der deutschen Armee'." Über die Wirkung
dieser Propaganda auf die feindlichen Nationen, unter denen sie ebenfalls verbreitet
wurde, stellte er keine Betrachtungen an. Auch dort waren die Bibelforscher geächtet und
eingekerkert worden. Doch soweit es Amerika betraf, wolle er hier ein Exempel statuieren.
Andere mochten sich selbst vor ihnen schützen.
"Das Urteil sagt, daß die Angeklagten, Joseph F. Rutherford,
William E. Van Amburgh, Robert J. Martin, Fred H. Robison, George H. Fisher, Clayton J.
Woodworth und A. Hugh Macmillan, in der Bundes-Strafanstalt von Atlanta im Staate Georgia
für jeden der 4 Punkte der Anklage eine Gefängnisstrafe von 20 Jahren absitzen müssen,
daß jedoch alle vier Strafen gleichzeitig beginnen und ablaufen."
Die "Tribune" bemerkte, daß die Angeklagten sich in allen vier Punkten
"nicht schuldig" bekannten. "Sie bewahrten die Selbstbeherrschung, die ihre
Haltung schon während des ganzen Prozesses gekennzeichnet hatte. Als der Urteilsspruch
des Richters an ihr Ohr klang, blieben ihre Gesichter unbewegt."
Ein Ausspruch Rutherfords auf dem Wege vom Gerichtshof ins Gefängnis wurde in den
Blättern angeführt: "Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens!"
"Warum?" fragte ein Reporter.
"Irdische Strafe um des Glaubens willen zu erleiden, ist eine der größten
Begünstigungen, die einem Menschen widerfahren kann", antwortete er.
Die "New York Post" gleichen Datums gab Richter Howes strenges Urteil mit
sarkastischem Beiklang wieder: "Es war notwendig", sagte er, "diejenigen
exemplarisch zu bestrafen, die ihre Glaubenslehre offen verbreiten, in der ihnen, wie bei
den Mennoniten, den Quäkern und manchen anderen Sekten, verboten wird, eine Waffe in die
Hand zu nehmen. Sie waren klarerweise schuldig, die Menschen aufgefordert zu haben, das,
was sie für die Lehre des Herrn hielten, zu befolgen und das Gebot Du sollst nicht
töten' wörtlich aufzufassen."
"So konnte der Gerichtshof", hieß es weiter in der "Post",
"nichts anderes tun, als sie der Übertretung der staatlichen Gesetze schuldig zu
sprechen, wie immer man auch deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit gegenüber den
moralischen und religiösen Vorschriften beurteilen möge."
Sie zürnte: "Wir sind überzeugt, daß jeder Religionslehrer die Ansicht dieses
Richters zur Kenntnis nehmen wird, daß die Weiterverbreitung jeder Religion, sofern sie
nicht absolut mit den staatlichen Gesetzen übereinstimmt, ein schweres Verbrechen ist,
besonders dann, wenn er als Verkünder des Evangeliums es sogar auch aufrichtig
meint."
Die von Richtet Howe verhängten Strafen waren "mindestens doppelt
so hart wie die des deutschen Kaisers für die Sozialisten, die seine verhaßte Herrschaft
zu stürzen versucht hatten, und dreimal so lang wie die Strafen für die Attentäter, die
einen Königsmord beabsichtigt hatten", schloß die "Post".
Im einzelnen waren die 4 Anklagepunkte, für die sie zu zwanzig Jahren verurteilt wurden,
folgende: "Das Vergehen, gesetzwidrig, verbrecherisch und vorsätzlich
Widersetzlichkeit, Untreue und Pflichtverweigerung unter den Heeres- und
Marinestreitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika veranlaßt oder zu veranlassen
versucht zu haben durch persönliche Bitten, Briefe, öffentliche Reden sowie durch
Verteilung und öffentliche Verbreitung im ganzen Lande eines gewissen Buches, genannt
"Band Sieben Studien der Hl. Schrift - Das vollendete Geheimnis",
ferner durch Verteilen und öffentliches In-Umlauf-Setzen im ganzen Lande von gewissen
Artikeln, erschienen in Flugschriften und Broschüren namens "Monatsschrift für
Bibelforscher" - "Der Wachtturm" - "Königreich-Nachrichten"
und anderen, nicht genannten Schriften etc.;
"Das Vergehen, gesetzwidrig, verbrecherisch und vorsätzlich die Aushebung und
Werbung für die Wehrmacht der Vereinigten Staaten behindert zu haben, während die
Vereinigten Staaten Krieg führten." Diese acht Männer bildeten nicht nur das
Direktorium, sondern auch den Verlagsausschuß der Gesellschaft. In ihrer Beweisführung
machten sie geltend, daß sie sich nicht in den Krieg eingemischt hätten. Sie hätten ihn
bereits seit 1885 erwartet. In jenem Jahr habe Der Wachtturm seinen Ausbruch für
1914 vorhergesagt. Der Krieg bilde eines "der Kennzeichen für das Herannahen des
Königreichs".
Der Weltkrieg war, wie sie später sahen und sagten, ein sichtbarer Beweis dafür, daß
der Satan, "um ihn von weiterer Einschüchterung der himmlischen Heerscharen
abzuhalten, vertrieben worden war". Nunmehr auf die Erdnähe beschränkt, wußte er,
daß "er nur noch kurze Zeit hatte". In rasender Wut wiegelte er daher die
Völker auf. Er hatte es darauf abgesehen, sie alle zur Selbstvernichtung zu treiben.
Er war bereit, sich aufs tiefste zu erniedrigen, um die Ankündigung des Königreichs und
das Sammeln der "Schafe" um den Hirten zu verhindern.
Die Bibel sagte den Krieg voraus. Die Bibelforscher machten auf sein Kommen aufmerksam.
Sollten nun ausgerechnet sie versuchen, sich in die Erfüllung einer göttlichen
Prophezeiung einzumischen? Wenn "Das vollendete Geheimnis" und "Der
Wachtturm" an den nominellen Kirchen Kritik übten, fügten sie hinzu, so geschah
dies, "weil es notwendig ist, auf die falsche Stellung hinzuweisen welche die
kirchliche Gesinnung gegenüber irdischen Angelegenheiten einnimmt".
"Unsere Aufgabe ist es", beharrten sie, "das Königreich Christi
anzukündigen." Die nominelle Religion tue dies nicht. Die Kirchen seien im
allgemeinen zu sehr damit beschäftigt, sich auf die eine oder andere Seite der
streitenden politischen Mächte zu stellen. Sie seien ganz davon in Anspruch genommen, in
dem einen Lande unter den Anhängern ihres Glaubens dafür zu agitieren, daß sie gegen
die Glaubensanhänger in einem anderen Lande einen Bruderkrieg führen. Anstatt der
Menschheit das langersehnte Königreich als ihre letzte Hoffnung vor Augen zu stellen,
unterstützten die Kirchen den Sieger, wer immer es auch sei, als den einzig
Vertrauenswürdigen. Wenn nicht die Bibelforscher das Herannahen des Königreiches
ausriefen, wer sonst würde es tun?
Der Bundesgerichtshof war weit davon entfernt, sich von solchen Argumenten überzeugen zu lassen. Dieser Gerichtsfall war eigentlich nur der aufsehenerregendste unter vielen anderen, die unter dem Volk aufräumten. Überall wurden Bibelforscher verhaftet. Ihr Standpunkt als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen war im "Wachtturm" vom 1. August 1917 unter dem Titel "Ansuchen um Befreiung vom Kriegsdienst" umrissen und bekanntgemacht worden. Darin wurde vorgeschlagen, daß der Gesuchswerber eine schriftliche Eideserklärung einreiche. In dieser schriftlichen Eideserklärung könnte stehen, daß "Sie als Mitglied der Internationalen Bibelforschervereinigung sich ganz dem Herrn geweiht haben und die Lehren Jesu und der Apostel befolgen, wie sie in der Bibel und in den Veröffentlichungen der Internationalen Bibelforschervereinigung und der Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft festgesetzt und erklärt sind; daß Sie mit besagter Vereinigung übereinstimmen und an ihre Unterweisungen glauben, die den Mitgliedern verbieten, am Kriege in irgendeiner Form teilzunehmen, und daß Ihre religiösen Überzeugungen gegen den Krieg oder die Beteiligung daran in jeder Form sind, gemäß dem Glaubensbekenntnis oder den Grundsätzen besagter internationaler Bibelforschervereinigung; daß die Lehren besagter Internationaler Bibelforschervereinigung, in Übereinstimmung mit den Lehren Jesu und der Apostel, folgendermaßen kurz im Auszug wiedergegeben sind: "Du sollst nicht töten" (Römerbrief 13:9). "Sie alle, die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert zugrunde gehen ..." (Matthäus 26:52).
Als Rutherford und seine Gefährten ins Zuchthaus gebracht wurden, schloß das Hauptquartier der Organisation seine Pforten. Die Gemeinschaft der Getreuen war betäubt und verwirrt. Die Lenker der Kirchen, die unter den scharfen Anklagen in "Das vollendete Geheimnis" geseufzt hatten, vergossen keine Tränen, als es so aussah, als ob der "Russellismus" nach vierzig Jahren sein Ende erreicht hätte.
Ein fester Kern von Getreuen blieb übrig - etwa viertausend auf der
ganzen Welt, aber die Gemeinschaft als Ganzes war der "Menschenfurcht" erlegen.
Rutherford wurde später nie müde, sie daran zu erinnern.
Die Schwierigkeit in jener Zeit bestand darin, fanden die Bibelforscher, daß sie noch
immer mit zu vielen "veralteten religiösen Begriffen" behaftet waren. Zum
Beispiel hielten sie noch an der orthodoxen Anschauung fest, daß mit den "höheren
Mächten", beschrieben in den Römerbriefen 13:1, die politischen Nationen der Welt
gemeint seien.
Da diese Welt die Welt des Satans war, wie konnte Jehova dann deren Mächte als
"höhere" bezeichnen, begannen sich die Bibelforscher zu fragen. Mit der Zeit
gewannen sie die Überzeugung, daß die höheren Mächte "Jehova Gott und sein
Sohn-König, Christus Jesus" seien. Und die Mächte dieser Welt? "Alle Völker
sind nichts vor Ihm; sie gelten ihm weniger denn nichts und als Eitelkeit". (Jesaias
40:17.) ...
Irgendwie konnte "Der Wachtturm" weitererscheinen -
seit seinem Geburtstag im Jahre 1879 war noch keine Nummer unterblieben. Diejenigen, die
treu geblieben waren, fuhren, obgleich verschreckt, trotz allem fort, sich selbst und der
Welt zu sagen, daß "das Königreich hier sei". Dies sei eine Zeit der
"Erprobung im Feuer". Es war das Gericht, das mit dem "Hause Gottes"
begann und sich auf die ganze Menschheit erstreckte.
Kaum hatten Rutherford und seine sechs Mithäftlinge ihre Strafe angetreten, als sie auf
den Gedanken kamen, eine neue Zeitschrift ins Leben zu rufen. Sie sollte eine Gefährtin
des Wachtturms werden. Sie sollte eine "Zeitung der Tatsachenberichte, der
Hoffnung und des Mutes" werden. Sie sollte als Umschlagplatz für alle Arten von
Material dienen. Vor allem würde sie Berichte über laufende Ereignisse bringen, die dazu
beitrugen, das große zusammengesetzte "Zeichen" dafür zu bilden, daß der
"Beginn der Leiden" über die Welt gekommen sei: Kriege, Hungersnöte,
Krankheiten und Seuchen, Erdbeben, Not und Verwirrung, aber auch ermutigende Nachrichten
über das Königreich. Jesu Prophezeiung über das Ende der Welt im Matthäus-Evangelium
24 gibt einen verständlichen Hinweis auf die journalistische Reichweite der
beabsichtigten Veröffentlichung.
Sie beschlossen, das neue Blatt "Das Goldene Zeitalter" zu nennen. Später wurde
es umbenannt in "Trost". 1946 wurde der Name wieder geändert auf
"Erwachet!" Geboren in einer Kerkerzelle der Strafanstalt Atlanta, hatte es 1955
bereits eine Auflage von 1 525 000 erreicht.
Während ihre Berufung vor dem Appellationskreisgericht anhängig war,
verweigerte man Mr. Rutherford und seinen Gefährten die Enthaftung gegen Bürgschaft; sie
wurden neun Monate im Gefängnis gehalten, was ungesetzlich war.
Am 26. März 1919 wurde ihnen die Haftentlassung gegen Bürgschaft bewilligt. Sie wurden
gegen hohe Kaution freigelassen. Bald darauf erklärte der Appellationsgerichtshof ihren
Schuldspruch als irrig und stieß das gegen sie ergangene Urteil um.
Monatelang strebte die Regierung eine Wiederaufnahme des Prozesses an, jedoch vergeblich.
Im Mai 1920 erklärte sie auf Anordnung des General-Staatsanwalts öffentlich vor Gericht
in Brooklyn, daß sie die Anklage gegen alle Beteiligten zurückgezogen habe.
Das Jahr 1919 war ein Jahr ungeheuren Jubels. In den Herzen der
Bibelforscher auf der ganzen Welt erwachte neue Hoffnung. Ihr Wiederaufleben setzte viele
religiöse Führer in Erstaunen. Sie hatten die Bibelforscher bereits für tot gehalten,
für so tot "wie Leichen, die in den Straßen herumliegen".
1919 hielten die Bibelforscher in Cedar Point im Staate Ohio eine
Wiedervereinigungs-Versammlung ab, und 1922 hatten sie an der gleichen Stelle eine
Zusammenkunft, an der 20 000 Menschen teilnahmen.
Die "Überlebenden" empfanden nun mit Beruhigung, daß das, was sie hinter sich
hatten, eine "Tempelreinigung" gewesen war. Die Feuerprobe hatte die
Organisation innerlich gereinigt. Alle waren geläutert worden. Sie hatten vieles in einer
strengen Schule gelernt. Sie waren von Persönlichkeitskult, Individualismus,
Menschenfurcht, selbstsüchtigem Ehrgeiz und ähnlichen Bestrebungen verblendet gewesen
und hatten nicht gemerkt, daß ihre Selbstgerechtigkeit nichts war als
"überflüssiger Ballast". Da hatte der Herr sein Volk gezüchtigt....
Bis 1917 war das Sprechen in der Öffentlichkeit von den Wanderpredigern
der Gesellschaft, die "Pilger" hießen, besorgt worden. In jenem Jahr gab es in
den Vereinigten Staaten 93 Pilger. Sie legten 617 186 Meilen zurück, besuchten 6672
Städte, hielten 1956 öffentliche und 3287 halböffentliche Versammlungen vor einer
Gesamt-Zuhörerschaft von 850 734 Menschen ab.
Der Felddienst war bis dahin das Amt eigens dazu bestimmter Kolporteure gewesen. Ihre
Arbeit bestand vor allem in der Verteilung der Druckschriften der Gesellschaft durch
persönlichen Besuch. 1917 gab es 461 Kolporteure gegen 372 im Jahr 1916, als viele
"gezwungen waren, irdischen Geschäften nachzugehen, um für die Notdurft des Lebens
zu sorgen". (Freiwillige Beiträge für die Wachtturm-Veröffentlichungen waren zu
keiner Zeit hinreichend, um die Verteiler zu erhalten.)
Die 461 regulären Kolporteure des Jahres 1917 wurden durch ein Korps von zeitweiligen
oder Sonder-Kolporteuren unterstützt.
355 Versammlungen oder Klassen (in den Vereinigten Staaten gab es im
ganzen 868 Klassen oder Kongregationen) wurden dazu organisiert, so daß jeder, der
wollte, sich an der Arbeit der Sonder-Kolporteure beteiligen konnte.
Auf diese Art", führte der Jahresbericht damals aus, "wird das Gebiet, in dem
sich die Kongregation oder Klasse befindet, in kleinere Sektionen unterteilt, und jedem
der Geweihten, der sich an der Arbeit beteiligen will, wird ein kleiner Bezirk zugewiesen,
bis er damit fertig ist; dann wird er einem anderen Bezirk zugeteilt, bis das ganze Gebiet
bearbeitet ist."
Dies war der frühere Aufbau des Haus-zu-Haus-Predigtdienstes. ... Bis zu welchem Ausmaß
er sich bis 1917 entwickelt hatte, ist aus dem Bericht zu ersehen, welcher besagt:
"In einigen Versammlungen sind an der Kolporteur-Arbeit hundert Gläubige beteiligt,
die darin noch keinerlei Erfahrung besaßen; ... wenn wir annehmen, daß im Durchschnitt
zehn Mitglieder einer Versammlung Kolporteurarbeit leisten, haben wir 3550 besondere und
461 reguläre Kolporteure, so daß uns derzeit 4011 zur Verfügung stehen."
Rutherford fand, daß nicht jedermann bereit war, zur Arbeit auszuziehen; viele
Bibelforscher wünschten, daß ihnen ihre Religion von der Kanzel aus serviert wurde wie
in anderen Kirchen - es genügte ihnen, sich zurückzulehnen und zuzuhören. Oder, wie ein
anderer sich ausdrückte, "sie wollten die Wahrheit, aber sie wollten nichts zu ihrer
Verbreitung beitragen." So kam es zu einer gründlichen Sichtung.
Aber, erstaunlich genug, die gelichteten Reihen der Getreuen, die das persönliche
Predigeramt aufnahmen, füllten sich rasch mit neuen Gesichtern. Die Bibelforscher fanden
"viele Leute, die eine Religion haben wollten, die ihnen hohe persönliche
Verantwortung im Predigeramt gab". Der Lehrsatz "Jeder Christ ein Prediger"
wurde zum zentralen, dynamisch wirkenden Glaubensbekenntnis der Gruppe. ...
Auf einer Hauptversammlung, 1931, teilte Richter Rutherford mit, daß
nach Ansicht der Gesellschaft diese wachsende Organisation von Christen hinsichtlich ihrer
Wesensart die Nebel lichten sollte. Es war Zeit, daß sie einen eindeutigen Namen
erhielten. Einen Namen, wie "Der Wachtturm" erläuterte, "den niemand unter
der Sonne führen möchte außer jenen, die Jehova ganz und gar ergeben sind".
Viele Jahre hindurch hatte die Welt nicht gewußt, wie sie eigentlich diese Körperschaft
von Anhängern einer, wie sie meinte, "neuen Religion" nennen sollte. Um die
Schwierigkeiten noch zu vermehren, hatten sich mehrere Gruppen abgesplittert. Sie hielten
noch an Pastor Russells Lehren als der "vollständigen Offenbarung" fest. Ihre
Literatur war ein Flickwerk von Zitaten aus seinen Schriften, einmal von diesem, einmal
von jenem Standpunkt aus betrachtet, um, wie sie meinten, seine Absichten mit einem
tieferen Sinn zu erfüllen. Es war die Art, wie die Scientisten, die Anhänger der
"Christlichen Wissenschaft", die Schriften von Mary Baker Eddy behandeln.
Diese unzufriedenen Gruppen bezeichneten sich selbst mit Namen, die den
Durchschnittsmenschen verwirrten, der sie nicht immer von den Bibelforschern unterscheiden
konnte. "Russelliten" war die volkstümliche Bezeichnung für die Bibelforscher.
Sie selbst aber empfanden diesen Namen als unrichtig. Sie versicherten, daß sie weder
Russell noch irgend jemand anderem Gefolgschaft leisteten. Anderseits empfanden manche
Gruppen es als Ehre, wenn man ihnen den Namen Russells gab. Wieder andere nannten sich die
"Vereinigten
Bibelforscher". Diese Gruppe stand im Gegensatz zu der Internationalen Bibelforschervereinigung.
Es war Zeit, eine scharfe Unterscheidung zu machen, so daß jedermann
wußte, wer man war. Die Bibelforscher wollten sich weiterhin der Institutionen bedienen,
der Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft, der Volkskanzelvereinigung und der
Internationalen Bibelforschervereinigung. "Aber", wandten sie ein, "wir
weigern uns, den Namen einer Körperschaft oder irgendeines Mannes zu tragen".
"Durch die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und unseres himmlischen Vaters",
erklärte Rutherford, "empfangen und tragen wir mit Freuden den Namen, den der Mund
Gott Jehovas nannte und den er uns schenkte, nämlich: Jehovas Zeugen." ...
Als die Bewegung wuchs, wurde sie mehr und mehr
"organisationsbewußt" und immer weniger "persönlichkeitsbewußt".
Der "Individualismus" vertrocknete am Stamm. Ziel und Zweck der Zeugen war, grob
ausgedrückt: "Kümmere dich nicht um deinen freundlichen, liebevollen Charakter. Geh
hinaus und predige das Evangelium! Dann wird sich dein Charakter von selbst bilden."
Aber zugleich mit dem Organisationsbewußtsein machte sich eine tiefe und wesentliche
Neugestaltung innerhalb der lokalen Gruppen bemerkbar. Im Jahre 1938 stellte die Londoner
Gemeinschaft der Zeugen Jehovas eine revolutionär wirkende Forderung an das
Hauptquartier: Sie wünschte, daß die Leiter ihrer Gruppen von der Gesellschaft ernannt
würden.
Bis dahin waren die lokalen Funktionäre oder "Wahlältesten" auf demokratischem
Wege, durch Abstimmung innerhalb der Gemeinschaft, ernannt worden. In den Köpfen der
Getreuen aber reifte eine Frage. "Wenn das Königreich da ist", lautete sie,
"und wir unter der Herrschaft des Königreichs stehen, leitet dann der Herr unsere
Gemeinschaft? Oder leiten wir sie? Ist das Königreich eine Theokratie oder
Gottesherrschaft? Oder ist es eine Demokratie oder Volksherrschaft? Wirkt das Königreich
von unten nach oben? Oder von oben nach unten?"
Pastor Russell hatte durch Verlagsunternehmen, wie die Wachtturm-Gesellschaft, eine
völlige Erneuerung der christlichen Lehren eingeleitet. Die Zeugen fühlten, daß dies
ein gottgelenktes Werk war. Es sollte ein Volk auf die herankommende Herrschaft des
Königreichs vorbereiten. Seit Russells Zeiten hatte die Umgestaltung immer größeren
Umfang angenommen. Ein ganz neues und vollständiges System von Bibellehren sammelte sich
an. Das Licht leuchtete heller und heller dem Tag des vollkommenen Verstehens entgegen.
So vertrauten sie zuversichtlich darauf, daß die Gesellschaft der christlichen Zeugen
Jehovas "die Organisation des Herrn" war. Sprachrohr dieser großen geistigen
Gesellschaft oder Körperschaft von Gläubigen war die Organisationszentrale, die sich
ihrer legalen Verlagsunternehmen bediente. Die Arbeit wurde im Namen dieser Unternehmen,
wie etwa der Wachtturm-, Bibel- und Traktat-Gesellschaft, durchgeführt. Sie waren nur
durch Menschenhand entstandene Körperschaften. Sie waren aufgebaut worden, um den
Forderungen des bürgerlichen Staates zu genügen. Sie konnten daher nicht die wirkliche
Gesellschaft darstellen. Wenn jedoch auf dieser Einrichtung Jehovas Segen ruhte, warum
sollte dann die Gesellschaft durch die Tätigkeit dieser Körperschaften nicht auch die
lokalen Zeugenkongregationen direkt überwachen?
Mit anderen Worten, die Londoner Gemeinschaft lehnte die "demokratische"
Herrschaft ab. Sie wünschte innerhalb ihrer Kongregation ein "theokratisches"
Vorgehen. Sie ersuchte die Gesellschaft, die lokalen Funktionäre oder Diener zu ernennen.
Diese Ernennungen wollte sie als einen Akt der "theokratischen Regierung"
anerkennen.
Autorität von oben nach unten, anstatt von unten nach oben, würde dann vorherrschend
sein. Jehova, empfanden sie, wahrte die "Interessen des Königreichs" durch den
von ihm eingesetzten König Christus Jesus. Christus seinerseits entfaltete die Tätigkeit
des Königreichs auf Erden durch die geistige Gesellschaft der Zeugen. Die Zeugen
benutzten die Wachtturm-Organisationen als ihr legales Sprachrohr und als ihr leitendes
und einigendes Büro. Ernennungen mußten daher durch diese sichtbare Gesellschaft
vorgenommen werden, um eigentlich von den "Höheren Mächten" auszugehen.
Als die Gesellschaft das Ansuchen der Londoner Gemeinschaft erhielt, gab sie ihm statt und
ernannte Aufseher an verschiedenen Stellen der Kongregation.
Die Nachricht wurde allen Kongregationen gemeldet. Wünschten auch sie solche Ernennungen
durch das Hauptquartier?
Die Kongregationen waren alle einverstanden - das heißt, mit Ausnahme einiger
"Wahlältester", die vor dem Gedanken zurückschreckten, ihre Stellungen zu
verlieren. Manche von ihnen waren vielleicht keine guten "Verkündiger". Die
Gesellschaft könnte vielleicht die Ernennungen auf Grund der Leistungsberichte der
einzelnen Prediger vornehmen. Dann würden einige der Wahlältesten im Trockenen sitzen.
Die Organisationszentrale als Vertreter der Internationalen Gesellschaft der Zeugen
Jehovas ernannte nun die Funktionäre in allen Kongregationen rund um die Welt. Die
theokratische Herrschaft hatte begonnen.