Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Margarete Buber-Neumann

In der "Wachtturm"-Ausgabe vom 15. 9. 1981 brachte die WTG, wie sie betont mit freundlicher Genehmigung der Autorin, auch einen relativ umfänglichen Buchauszug aus dem Buch von Margarete Buber-Neumann "Als Gefangene bei Stalin und Hitler". Verständlicherweise interessierten hier besonders die bezüglich der Bibelforscher/Zeugen Jehovas gemachten Aussagen. Auffällig in diesem WT-Artikel auch die Bildmäßige Herausstellung der Gertrud Pötzinger. Und dies obwohl letztere bei Buber-Neumann nicht abgebildet, meines Wissens noch nicht einmal namentlich genannt wurde.

Die Pötzinger hatte allerdings das "Plus", dass ihr Ehemann es gar noch bis zum Mitglied der "Leitenden Körperschaft" der Zeugen Jehovas brachte. Und in dieser Eigenschaft durfte sie natürlich mit in die WTG-Hauptzentrale. Bei dem einen Pötzinger-Bild fällt schon mal auf, dass es praktisch nur ein Bildausschnitt ist jenes Bildes, dass die Pötzinger als Kindermädchen für SS-Schergen zeigt. Und dies zu einem Zeitpunkt, wo andere ihrer mitinhaftierten Glaubensschwestern es ablehnten Angorakanichenpflege als KZ-Arbeitsauftrag zu erfüllen. Ihre messerscharfe Logik. Die Wolle der Angorakaninchen könne ja für Militäruniformen Verwendung finden, und dass konnten sie gewissensmäßig nicht mittragen. Die Pötzinger hingegen konnte es mit ihrem Gewissen vereinbaren, SS-Offiziere als Kindermädchen zu entlasten.

Nachstehend erst einmal der fragliche WT-Artikel.

Wie gesagt: Es fällt auf, dass gewisse Passagen aus dem Buber-Neumann'schen Buche, die durchaus Zeugen Jehovas-Bezug haben, von der WTG nicht mit zitiert werden. So seien sie denn als Ergänzung hier noch dargeboten:

Nicht im WT-Artikel habe ich beispielsweise jene Passagen aus Buber-Neumann gefunden.

(Die Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe Stuttgart 1958. Die derzeit über den Buchhandel angebotene Taschenbuchausgabe differiert auch Seitenmäßig). Anmerken muss man auch noch, dass die WTG diesen Artikel erst in Englisch verfasste und er von dort ins Deutsche rückübersetzt wurde. Das macht sich dann auch an anderen Satzstellungen gegenüber der deutschen Quelle bemerkbar. Den Aufwand, den rückübersetzten Artikel an das deutsche Original anzugleichen, hat die WTG nicht betrieben. Viel gravierender hingegen ist das, was die WTG nicht zitierte:

S. 211:

Nachdem man unsere Kleider weggenommen hatte, begann die gefürchtete Prozedur, die Suche nach Kopfläusen. Diese Funktion verrichteten zwei Bibelforscherinnen. Eine hieß Emmi. Sie forderte mit süßlichem Lächeln die Frauen auf, Platz zu nehmen, und dann durchforschte sie voller Eifer die Köpfe und wehe, wenn sie auch nur Spuren vergangener Läuse oder etwa gar frische fand! Erbarmungslos kamen die Haare herunter. Ich hatte Gelegenheit, Emmi jahrelang in ihrem Amt zu beobachten. Das Haareschneiden war ihr zur Lust geworden. Je inbrünstiger eine Frau bettelte und flehte, je schöner und üppiger deren Haare waren, mit um so teuflischerem Eifer, setze Emmi, die Zeugin Jehovas, ihre Haarschneidemaschine an und machte aus einem lieblich umlockten Haupt einen traurigen Glatzkopf.

S. 246, 247:

Als auf Block 3 kam .... In diesem Absatz lässt die WTG den folgenden Abschnitt aus:

Vor 1933 wollte mir an der Haustür einmal eine eifernde Alte eine Broschüre über den nahenden Weltuntergang verkaufen, aber ich lehnte dankend ab, weil ich diese Befürchtung noch für verfrüht hielt. Nun aber lebte ich Tag für Tag mit Hunderten dieser religiösen Fanatikerinnen zusammen, und da sie mich nicht für ein "Werkzeug des Teufels" hielten, konnte es gar nicht ausbleiben, daß sie um mich warben oder "Zeugnis ablegten", wie das in ihrer sonderbaren Sektensprache heißt. Alle diese Frauen, die mit mir zu diskutieren versuchten, hatten ausnahmslos ein sehr niedriges Bildungsniveau. Die meisten stammten aus kleinen Städten oder Dörfern, aus Bauern- oder Arbeiterfamilien oder aus dem kleinen Mittelstand, aber alle hatten Schulen besucht.

Geschichtliche oder etwa gar naturgeschichtliche Vergleiche zu ziehen, war völlig zwecklos, sie antworteten auf alles mit einem Bibelzitat, und als ich dann einmal über Entwicklungsgeschichte zu sprechen begann und ahnungslos den braven Darwin erwähnte, reagierten sie, als hätte ich ihnen den leibhaftigen Teufel genannt.

Nicht von der WTG zitiert.

S. 247, 248:

Wieviel einfacher hat es doch ein religiöser Märtyrer, für den es ein leuchtendes Jenseits gibt, als ein politischer "Gläubiger", der stirbt, damit durch seinen Kampf und Opfertod die kommenden Generationen besser leben mögen. Der Glaube an den nahenden Weltuntergang hätte sie noch nicht zu Staatsfeinden des Dritten Reiches gemacht, aber nach ihrer Überzeugung war jede staatliche Organisation "Teufelswerk", übrigens auch jede kirchliche Organisation, vor allem die katholische. Das Naziregime war, wie sie aus der Bibel prophezeiten, die Krönung alles Diabolischen, das am Ende der Zeiten stand, und dem unmittelbar der Sturz aller Ungläubigen in die Verdammnis folgen mußte.

Sie hielten das christliche Gebot "Du sollst nicht töten!" Und waren konsequente Kriegsdienstverweigerer, was vielen der männlichen Bibelforscher das Leben kostete, und unsere Frauen lehnten jegliche Arbeit, die den Krieg förderte, ab. Es sind ihnen dabei Inkonsequenzen unterlaufen. Bis 1942 waren alle Bibelforscherinnen in Ravensbrück die von der SS gesuchtesten und am meisten begehrten Arbeiterinnen im KZ. Sie säuberten die Häuser der hohen SS-Beamten, der Aufseherinnen, die Kommandantur, sie pflegten die Kinder der SS in deren Heim, sie waren Dienstmädchen beim Kommandanten, dem Schutzhaftlagerführer und der übrigen Lagerobrigkeit, sie schufteten in der SS-Gärtnerei; "Kellerbruch", sie betreuten die Bluthunde der SS, die Schweine, Hühner und Angorakaninchen. In ihrer Pflichttreue, Arbeitsamkeit, absoluten Ehrlichkeit und in der strengsten Befolgung aller SS-Befehle konnte sich die Lagerobrigkeit keine idealeren Sklaven denken. Es ging soweit, daß ihnen besondere Passierscheine ausgestellt wurden, mit denen sie ohne Bewachung durchs Lagertor zur Arbeit aus und ein gingen, denn eine Bibelforscherin wurde niemals aus dem Konzentrationslager entfliehen. Die "Zeugen Jehovas" waren in gewissem Sinne "freiwillige Häftlinge". Für sie genügte es, sich bei der Oberaufseherin zu melden, den Bibelforscher-Revers zu unterschreiben, um noch am gleichen Tage in die Freiheit entlassen zu werden. Der Inhalt dieser Erklärung lautete ungefähr so: Ich erkläre hiermit, daß ich von jetzt ab nicht mehr "Zeuge Jehovas" bin und mich weiterhin weder durch Wort noch Schrift für die "Internationale Vereinigung der Bibelforscher" betätigen werde. …

Bis 1942 kam es ganz vereinzelt vor, daß eine Bibelforscherin "unterschrieb". Später, als die brutalen Verfolgungen gegen sie begannen, geschah es häufiger. Ich fragte einmal eine Bibelforscherin: "Ich kann nicht begreifen, warum ihr nicht unterschreibt. Was hindert euch, das, weiter in eurem Glauben zu beharren und heimlich zu agitieren? Damit würdet ihr doch eurer Bewegung viel mehr nutzen, als im KZ zugrunde zu gehen." "Nein", war die Antwort, "das können wir nicht mit unserem Gewissen vereinbaren. Der SS diese Unterschrift leisten, hieße sich mit dem Teufel verbünden." Im laufe meines Zusammenwohnens mit den Bibelforschern mußte ich feststellen, daß sie mit Lust für ihren Glauben Leiden ertrugen, um im "Armageddon" dafür den Lohn zu empfangen, und daß der Märtyrertod ihrer "Schwestern", so nannten sie einander ihnen keinerlei Spuren von Trauer oder Schmerz verursachten. Mit den Worten: "Sie sind hinüber. Sie sind glücklicher als wir" quittierten sie das oft so grausame Ende ihrer Kameradinnen.

S. 249:

Für eine "Zeugin Jehovas" ist aber das Leben ohne "Bibelforschen" die größte Strafe. Sie leben mit allen Fasern in der biblischen Welt und vergleichen ständig, was um sie geschieht, mit dem Wort der "Heiligen Schrift", denn hier ist nach ihrer Meinung alles prophezeit, was vom Entstehen der Welt bis zu deren Untergang geschehen ist und noch geschehen wird. Es ging so weit, daß sie ihr eigenes Bibelforscherschicksal in allen seinen Phasen aus der Bibel herauslasen. Für alle Geschehnisse im KZ entnahmen sie Begriffe und sogar Worte aus dem Alten oder Neuen Testament.

S. 254, 255:

Meine Bibelforscher sprachen aber nicht nur von Jehova und dem kommenden "Goldenen Zeitalter", manchmal erinnerten sie sich auch an ihre zurückgelassenen Kinder oder Männer. Vor allem, wenn am Sonnabend die Post ausgeteilt wurde. Für viele kamen zwar Briefe aus den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen von ihren Männern, die ebenfalls Bibelforscher waren, aber andere erhielten Nachrichten von zu Hause. Da schrieb der Mann von Ella Hempel, der in dem kleinen sächsischen Dorf Krethen mit vier Kindern zurückgeblieben war, jedesmal die gleichen flehenden Bitten, schon seit mehr als zwei Jahren: "Meine liebe Ella, wann kommst Du endlich nach Hause? Die Kinder und ich warten auf Dich jeden Tag. Der Haushalt ist unordentlich, die Kinder haben nicht die rechte Pflege, der Garten und die Landwirtschaft verkommen langsam. Wie kannst Du nur so hartherzig sein und die Deinen im Stich lassen. Das hält der liebe Gott bestimmt nicht für richtig."

Ella saß mit dem Brief in der Hand, und die Tränen flossen. Da begann ich mit ihr zu reden: "Ella, wie kannst du so etwas ertragen? Wo du die Möglichkeit hättest, noch heute noch heimzufahren?" Sie warf den Kopf in den Nacken: "Ja, so etwas kann ein 'Weltmensch' wie du eben nicht verstehen: Jehova befiehlt: 'Du sollst dein Weib und Kind verlassen und mir nachfolgen!'" Die Tränen waren versiegt, und mit fanatischem Gesicht stürzte sie sich, einen Wischlappen in der Hand, auf das Reinemachen im Block.

Nach ihren Erzählungen zu schließen, kamen diese meist aus sehr dürftigen Verhältnissen hatten immer mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfen müssen, waren vom Leben tief enttäuscht worden und hatten, soweit sie verheiratet waren, unglückliche Ehen geführt. Eigentlich hatten alle diese Frauen Schiffbruch im Leben erlitten und haßten es deshalb. Sie flüchteten vor der Verantwortung, die ihnen der Kampf ums Dasein auferlegt hatte, in die Märtyrerrolle einer "Zeugin Jehovas" und eiferten in dessen Namen gegen die "Weltkinder".

Dadurch, daß sie Bibelforscher wurden, hatte sich ihre Stellung mit einem Schlage gewandelt: aus unterdrückten, dienenden, mit dem harten Schicksal unzufriedenen Menschen wurden sie zu "Auserwählten", erhoben sich über die gesamte Menschheit, und ihr einstmaliger Groll gegen die ihnen persönlich widerfahrenen Ungerechtigkeiten verwandelte sich in Haß gegen alles, was nicht zu ihrer Glaubensgemeinschaft gehörte.

S. 256:

Jeder einzelne fühlte sich als auserkorenes Werkzeug des rächenden Gottes Jehovas und schwelgte in der Vorstellung des baldigen Sturzes der Ungläubigen in die Verdammnis, von dem die Bibelforscher ausgenommen waren.

Ich habe schon die Krankentransporte ins Gas erwähnt und die Aufforderung der Lagerleitung an die Blockältesten, ihre "Arbeitsunfähigen", "Krüppel", "geistig Minderwertigen" in Listen zu erfassen. … Unter meinen Kranken aber gab es eine Frau mit offener Drüsentuberkulose. Das war Anna Lück, eine Frau von fast sechzig Jahren. Sie lag meistens im Bett. Nun verlangte es aber ihr Leiden, daß sie von Zeit zu Zeit verbunden wurde. Einmal bemerkte sie dabei im Krankenrevier der SS-Arzt und ließ sie sofort auf die "Krankentransportliste" schreiben. Ich erfuhr es einige Tage später von meiner Freundin, die im Krankenrevier arbeitete. Sie teilte mir mit, daß die Liste bereits vom Arzt unterschrieben sei und so keine Möglichkeit mehr bestünde, den Namen der Anna Lück zu streichen. Wir überlegten lange, wie man sie retten könnte, und fanden nur den einen Ausweg, sie zum "unterschreiben" zu bewegen. Ich ging mit schwerem Herzen zu ihrem Bett. Wenn ich doch die Worte finden könnte, um diesen Menschen zu überreden! Meine Erregung übertrug sich sofort auf sie; ihr eingefallenes Gesicht schien nur noch aus großen entsetzten Augen zu bestehen. Ich sagte ihr ohne Umschweife, was geschehen sei, und brachte alle mir zur Verfügung stehenden Argumente vor, um ihr das Unterschreiben zu erleichtern. Als ich von ihr ging, hatte ich den Eindruck, als würde sie sofort sich ankleiden und bei der Oberaufseherin melden.

Nach ungefähr einer halben Stunde, ich saß gerade im Dienstzimmer, kam Ella Hempel herein. Mit einem Gesicht voller Abscheu und Leidenschaft stieß sie die Worte hervor: "Grete, das hätte ich nie von dir gedacht, daß du im Bunde mit dem Teufel bist: Daß Du gemeinsame Sache mit der SS machst!" Ich verstand nicht sofort, was sie meinte.

"Was ist los? Was willst du?"

"Du hast Anna Lück geraten, zum Unterschreiben zu gehen. Wie konntest Du so etwas tun!"

Da war es um meine Ruhe geschehen, und das erste und einzigemal habe ich in wirklichem Zorn mit einer Bibelforscherin gebrüllt.

"Ihr wollt Christen sein!? Und liefert eure Schwester kaltblütig dem Gas aus!? Nenne mir christliche Gebote, die so etwas gutheißen?! Ist das Nächstenliebe?! - Nicht nur eure Kinder laßt ihr im Stich und sehet ruhig mit an, wie sie in Hitlerheime gesteckt und malträtiert werden, nein, ihr leistet zu Ehren Jehovas einem Mord Vorschub!

Kaltherzige Bestien seid ihr!"

S. 257:

Diesem Ereignis war aber schon eine Reihe folgenschwerer Geschehnisse vorausgegangen. Eines Tages kam eine Bibelforscherin zu mir und erklärte, daß ein Teil ihrer "Schwestern" sich von jetzt ab weigere, Blutwurst zu essen. Eine junge Bibelforscherin, Ilse Unterdörfer, entdeckte im Alten Testament den Befehl Jehovas: "Lasset das Blut zur Erde fließen!" Und erläuterte ihren Schwestern, daß man fortan das Essen der Blutwurst einstellen müsse. Ungefähr fünfundzwanzig der "Extremen" beschlossen, von nun ab die Annahme der Blutwurst zu verweigern. Es gab unter den Bibelforschern drei "Fraktionen", die "Extremen", die schwankende Mitte und die "Gemäßigten". Sie trugen regelrechte Fraktionskämpfe aus, bezichtigten einander des Verrats an den Glaubenssätzen.

S. 258:

Darum machte ich ihnen den Vorschlag, soweit es durchführbar war, allen denen, die keine Blutwurst mochten, Leberwurst zu geben. Aber da hatte ich nicht mit Jehovas Befehl gerechnet. Denn es ging ja gar nicht um die Blutwurst, es ging um eine Demonstration zu Ehren Jehovas.

Und so fertigten sie eine Liste mit den Namen aller derer an, die laut Jehovas Befehl von nun ab den Genuß der Blutwurst verweigerten. Die Liste wurde "nach vorn" gebracht, und die SS lachte sich ins Fäustchen: Wenn die keine Blutwurst fressen wollen, kriegen sie auch keine Margarine. Eine vorzügliche Sparmaßnahme.

Der ersten "Verweigerer-Liste" folgte eine zweite. Erbitterte Kämpfe zwischen den "Extremen" und "Gemäßigten" wurden auf dem Bibelforscherblock ausgetragen. Wie zu erwarten war, reagierte die Lagerleitung nicht nur mit dem Entzug der Margarine, sondern ersann drastischere Maßnahmen.

S. 278:

Um diese Zeit (Anfang 1942) waren auf dem Bibelforscherblock neue, heftige Debatten im Gange. Diesmal stand auf der Tagesordnung die Verweigerung von Kriegsarbeit. Als erste legte die Kolonne "Angorazucht" die Arbeit nieder. Die Bibelforscher erklärten, festgestellt zu haben, daß die Wolle der Kaninchen für Heereszwecke verwandt werde, und es sei nicht mit ihrem Glauben vereinbar, weiterhin in dieser Kolonne zu bleiben. Grundsätzlich seien sie bereit zu arbeiten. Noch am gleichen Tage verweigerte die Gärtnereikolonne "Kellerbruch" die Arbeit, da das geerntete Gemüse an ein SS-Lazarett geschickt werde. Im ganzen erklärten ungefähr neunzig Bibelforscher, von nun ab keine Kriegsarbeit mehr leisten zu wollen, und man ließ sie auf dem Hof des Zellenbaues drei Tage und Nächte Strafe stehen. Dann warf man sie in den "Bunker" in Dunkelarrest.

Die schon entkräfteten Frauen wurden ohne Jacken, ohne Decken für die Nacht, ohne jegliche Sitzgelegenheit in diese dunklen Barackenräume gesperrt. Sie erhielten täglich eine Ration Brot und alle vier Tage Essen. Dort blieben sie vierzig Tage. Aber im laufe dieser Zeit kam der Befehl von der Gestapo aus Berlin, daß jede Arbeitsverweigerung mit 75 Stockschlägen zu bestrafen sei.

Die Bibelforscher, von denen viele zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt waren, erhielten dreimal je 25 Stockhiebe. Nach vierzig Tagen sah ich sie im Bad. Sie waren wandelnde Skelette und mit Striemen bedeckt. Alle hatten Hungerruhr und machten den Eindruck von Geisteskranken. Viele wurden sofort ins Krankenrevier geschafft. Als man die Bibelforscher aus Block 25 herausließ, erklärten sie, auch weiterhin keine Kriegsarbeit leisten zu wollen und von jetzt ab das Zählappell stehen zu verweigern, denn "wir erweisen nur Jehova die Ehre, nicht der SS"!

Man verteilte sie über die Baracken des ganzen Lagers, und die Blockältesten erhielten den Befehl, sie mit Gewalt zum Zählappell zu bringen.

S. 279:

Der neue Schutzhaftlagerführer Redwitz machte sich ein besonderes Vergnügen, die Bibelforscher beim Zählappell zu verhöhnen. Einmal forderte er sie auf, sofort aufzustehen. Sie reagierten nicht. Er brüllte lauter. Es hatte keinen Erfolg. Da befahl er der "Lagerpolizei", sofort einige Eimer Wasser zu holen und ließ die kauernden Bibelforscher über und über begießen. Eine Bibelforscherin aus meinem Block, eine "Gemäßigte", sagte mir leise, ganz im Vertrauen: "Weißt du, in die 'Extremen' ist der böse Geist gefahren!"

S. 287:

Bis zum Herbst 1942 hatte es für alle Häftlinge in Ravensbrück die gleiche Ernährung gegeben. Jetzt aber wurde den Häftlingen gestattet, sich Pakete von zu Hause schicken zu lassen. Das bedeutete für viele der Eingesperrten die Lebensrettung. Von der SS war es ein raffinierter Schachzug, die Lagersklaven durch ihre Familien miternähren zu lassen, um sie desto besser und gründlicher ausbeuten zu können …

S. 288:

Jedoch die Hauptnutznießerin war die SS. Waggonweise stahlen sie die den Häftlingen zugedachten Pakete. Einige Bibelforscherinnen erhielten einen neuen "Vertrauensposten", sie mußten in den Kellern des Kommandanturgebäudes die durch SS entwendeten Lebensmittelpakete sortieren und aufspeichern. …

S. 298, 299:

Im Herbst 1942 ging ein neuer Transport Frauen nach Auschwitz, unter ihnen auch alle "extremen Bibelforscherinnen. Noch immer wußten wir nichts Genaues über Auschwitz. Aber bald sollte ich die erste Aufklärung erhalten.

Bei einem solchen Gang ins Revier bemerkte ich eine Kolonne Bibelforscher, die beim Zellenbau in der Ecke des Lagerplatzes stand. … Es waren zwölf oder fünfzehn von den Extremen, die vor kurzem erst nach Auschwitz gebracht und nun wieder zurücktransportiert worden waren. Eine von ihnen, Rosl Hahn aus Ischl, rief: "Komm her, Grete! Ich muß dir etwas Wichtiges erzählen! Man hat uns von Auschwitz zurückgebracht; wir werden bestimmt hingerichtet. Aber bevor wir sterben, muß ich dir sagen, was im Lager Auschwitz Entsetzliches geschieht! Da wirft man Menschen, lebende Kinder, ja, du kannst es mir glauben, jüdische Säuglinge wirft man ins Feuer. Über dem ganzen Lager liegt Tag und Nacht der Gestank nach verbranntem Menschenfleisch. Du glaubst es nicht? So wie ich hier stehe, ich spreche die Wahrheit, die reine Wahrheit!" Ihr früher einmal schönes Gesicht war gelb, mit tiefen Furchen in den Wangen; die welken Lippen entblößten nur die Augen und ihre eindringliche Stimme. Die anderen Bibelforscherinnen nickten stumm und sahen teilnahmslos auf mich. … Mit einem Würgen in der Kehle lief ich davon. Und noch am selben Tage lud man die Bibelforscherinnen in den Gefängniswagen, der zum Lagertor hinausfuhr. Kurz danach kamen ihre Häftlingskleider mit Winkel und Gefangenennummer zurück zur Kammer. Man hatte das Todesurteil wegen Arbeitsverweigerung an ihnen vollstreckt.

S. 322:

Ja, die Bibelforscher waren korrekt in der Erfüllung ihrer KZ-Ämter. Ein Wagnis gingen sie nur im Interesse Jehovas ein, aber nicht für irgendeinen Mithäftling. Was hätte die SS auch sonst von ihnen denken müssen, wenn sie bei einer Verletzung ihrer KZ-Pflichten erwischt worden wären?!

Seitenhinweis zur Taschenbuchausgabe dieses Buches aus dem Ullstein-Verlag

S. 245f. - 267

S. 253f.

S. 262f.

S. 264f.

S. 306f.

S. 330f.

Übrigens hatte Margarete Buber-Neumann die von ihr geschilderte Episode in Sachen der Anna Lück so nachhaltig beeindruckt, dass sie auch in einem zweiten Buch mit dem Titel „Milena. Kafkas Freundin" ausdrücklich darauf mit zu sprechen kam. Die beiden Berichte überschneiden sich inhaltlich. Zum anderen nutzt Buber-Neumann sie aber auch, um eine bemerkenswerte Vergleichsanalogie daraus abzuleiten. In ihrem Milena-Buch schreibt sie:

„Milenas Gesundheitszustand verschlechterte sich. Immer wieder versteckte ich sie während der Mittagspause auf einem Strohsack in meiner Baracke, damit sie etwas ruhen konnte. Tagsüber zu liegen war streng verboten. Auf die Solidarität der Bibelforscher konnte ich mich verlassen. Doch einmal kam es zu einem erschütternden Vorfall, der Milenas Freundschaft mit den Bibelforschern jäh beendete.

Sie entdeckte auf einer Vernichtungsliste im Krankenrevier den Namen einer Frau aus meiner Baracke. Sie hieß Anna Lück und litt an offener Drüsentuberkulöse. Schon tagelang hatte ich die Kranke im Block behalten und verhindert, daß sie ins Revier ging, weil ihr dort der Tod durch Injektion drohte. Aber der SS-Arzt hatte sie bereits vorher bemerkt. Nun gab es nur noch eine Rettung. Ich besprach mit Milena, Anna Lück zu überreden, den Bibelforscherrevers der Gestapo zu unterschreiben. Die Zeugen Jehovas waren gewissermaßen freiwillige Häftlinge. Gaben sie ihre Unterschrift und verpflichteten sie sich dadurch, nicht mehr für die Ziele der Bibelforscher tätig zu sein, entließ man sie noch am gleichen Tag aus dem Lager. Ich ging zum Bett der Kranken, machte ihr die schreckliche Mitteilung, sagte ihr, in welcher Gefahr sie schwebte, und redete ihr zu, sofort aufzustehen, in die Schreibstube zu gehen und den Revers zu unterschreiben.

Sie kleidete sich an. Ich verschwand im Dienstzimmer, damit die im Block anwesenden Bibelforscherinnen des Zimmerdienstes nicht aufmerksam würden und Anna Lück an diesem ,Verrat', wie sie es nannten, hinderten.

Kurze Zeit danach klopfte es an die Tür, und Ella Hempel, ein Häftling vom Zimmerdienst, trat ein. Mit einer Miene voller Abscheu und Leidenschaft stieß sie hervor: "Grete, das hätte ich nie von dir gedacht, daß du im Bunde mit dem Teufel bist! Daß du gemeinsame Sache mit der SS machst! - Du hast Anna Lück geraten, zum Unterschreiben zu gehen. Wie konntest du so etwas tun?!"

In ehrlichem Zorn brüllte ich die Bibelforscherin an: "Ihr wollt Christen sein! ? Und liefert eure Schwester kaltblütig dem Gas aus! ? Ist das Nächstenliebe? Ihr leistet zu Ehren Jehovas einem Mord Vorschub! Kaltherzige Bestien seid ihr!"

Als Milena erfuhr, was geschehen war, bekam sie einen Haßausbruch gegen diese hoffnungslos Verblendeten, und von da ab lebten die Bibelforscherinnen in Angst vor ihr. In dem Gespräch, das ich mit Milena nach diesem traurigen Ereignis führte, als wir uns über die Unduldsamkeit der Bibelforscher, über ihre Beziehungslosigkeit zu allen jenen, die nicht zu ihrer Sekte gehörten, klar wurden, und auch über ihre Feigheit, wenn man eine wirkliche christliche Tat von ihnen erwartete, stellten wir eine auffallende Ähnlichkeit in der Geisteshaltung der Bibelforscher und der Kommunisten fest.

Die einen eiferten zu Ehren Jehovas, die anderen zu Ehren Stalins.

Die einen forschten heimlich in der Bibel und stellten deren Inhalt solange auf den Kopf, bis er sich zu ihren gewünschten Prophezeiungen umbiegen ließ. Die anderen hielten an Hand von Nazizeitungen heimlich Schulungskurse ab, machten dabei aus schwarz weiß oder, besser gesagt, rot und entnahmen den Nachrichten das, was sie wünschten, nämlich eine Bestätigung vom baldigen Ausbruch der kommunistischen Revolution.

Milenas Vergleich zwischen Kommunisten und Bibelforschern kam einigen "Politischen" zu Ohren und auch den tschechischen Kommunistinnen, was deren Haß auf Milena noch steigerte. ...

Lange danach hörte man, daß bei Paleckovä Zeichen von Geistesverwirrung zu bemerken waren. In diesem Zustand drehten sich ihre Äußerungen mehrmals um Milenas Vergleich zwischen Kommunisten und Bibelforschern. Das beschäftigte sie. Als man sich in der Baracke der ,alten' Politischen über Paleckoväs Zustand klar wurde, versuchte man, sie mit allen Mitteln vor einer Einlieferung ins Krankenrevier zu schützen. Denn Geisteskranke wurden getötet. Trotzdem gelang es den kommunistischen Häftlingen nicht, sie zu retten. Bei dem Versuch, ihr heimlich eine beruhigende Injektion zu geben, verfiel sie in Tobsucht.

Der SS-Arzt ließ sie in den Zellenbau bringen. Die dort als Kalfaktoren arbeitenden Bibelforscherinnen erzählten mir, daß ihr Zustand hoffnungslos sei, sie jede Nahrungsaufnahme verweigere und mit verzücktem Gesicht an der Wand stehe und rufe: "Stalin, ich liebe dich!" Nach zwei Wochen holten Häftlinge des Krankenreviers die zu einem Skelett abgemagerte Leiche der Paleckovä aus der Zelle,

Im Krankenrevier arbeiteten viele Kommunistinnen. Täglich und stündlich mußte Milena ihre Gespräche mit anhören. Schon der kommunistische Jargon brachte sie in Harnisch, und sie konnte nicht schweigen. Sie hatte eine tiefe Abneigung gegen die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, immer wieder polemisierte sie gegen das verlogene Gerede von Kollektivismus, proletarischer Demokratie, sozialistischer Freiheit und gegen den Wust der unverdauten marxistisch-leninistischen Pseudoideologie. Besonders erregte sie das soziale Getue und das kindische Kollektivgespiele. Milena sagte, daß diese Frauen im Grunde ihres Herzens so unsozial eingestellt wären, wie man sich nur vorstellen könnte. Am

meisten empörte sie die unterschiedliche Behandlung der Kranken.

Da wurde nicht gefragt: hast du Schmerzen oder Fieber, sondern: bist du in der Kommunistischen Partei oder nicht. Man machte Unterschiede zwischen den "wertvollen Menschen", nämlich den "Genossinnen", für die man alles tat, die gerettet werden mußten, und der großen Masse der anderen, der "Wertlosen", um die man sich nicht kümmerte. Milenas Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich dagegen auf, und grob sagte sie den Kommunistinnen die Wahrheit ins Gesicht. ...

Alle Kommunisten sind Wunschdenker, doch erst in der Haft gab es für ihre Illusionen keine Grenzen mehr. Daß Hitler durch eine Revolution gestürzt würde, war für sie selbstverständlich, und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland wuchs, nach Meinung der Kommunistinnen, von Monat zu Monat. Beim Ausbruch des Krieges gegen Rußland ergriff alle politischen Häftlinge, nicht nur die Kommunisten, prosowjetische Begeisterung, sie gaben sich dem größten Optimismus hin. Es gab keine Zweifel, daß die Rote Armee siegen, das Hitlerreich in kurzer Zeit zerschlagen sein würde und für uns die Stunde der Befreiung käme.

Milena hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Sie widerstand dem allgemeinen Freudentaumel, denn sie konnte kompromißlos denken und schreckte nicht vor schmerzlichen Erkenntnissen zurück. Sie war ein Mensch mit politischem Weitblick und sagte voraus, Furchtbares würde geschehen, wenn die Sowjetrussen Europa überrennen sollten. Sie sprach offen zu jedem, der es hören wollte, daß der Westen dem Sieger Stalin alle früheren Verbrechen verzeihen und ihm damit freie Hand für weitere Untaten geben würde. Nationalsozialismus und Kommunismus seien Holz vom gleichen Stamm. Damals, in ihrem verfrühten Siegesrausch, verbreiteten die Kommunistinnen im Lager, Milena Jesenska und Buber-Neumann würden nach der Befreiung durch die Rote Armee an die Wand gestellt. ...

Anmerkung zur Standhaft-Kampagne

Als Gefangene bei Stalin und Hitler; Buber-Neumann

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