Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Gerd Borchers-Schreiber
Mein Leben als Zeuge Jehovas. Bericht eines Aussteigers". So titelt Gerd
Borchers-Schreiber seinen 1999 im Gütersloher Verlagshaus erschienenen
Taschenbuchbericht. 17 Jahre Zeuge Jehovas. Nun, andere waren erheblich länger dabei
(beispielsweise William Schnell, 30 Jahre) bevor sie sich von dieser Organisation lösten.
Oftmals sind es äußere Anlässe, die
das Fass zum überlaufen bringen". Was war es im Falle Borchers? Der Verfasser
arbeitete in einer Firma, deren Chef auch Zeuge Jehovas war. Seine Erfahrungen bringt er
mit dem Satz auf den Punkt:
Etwa ein Jahr danach sprach
mich bei einer Zusammenkunft ein prominenter Bruder an, der ein gutgehendes Unternehmen
aufgebaut und es inzwischen zum Millionär gebracht hatte. Er war auf der Suche nach einem
geeigneten Werbefachmann. ... Tatsächlich konnte ich in den nachfolgenden 26 Jahren als
Werbeleiter viel von der Werbetaktik und dem Selbstbewusstsein nutzen, dass ich durch das
ausgiebige ZJ-Training erworben hatte.
Viel wichtiger war jedoch die
Begegnung mit führenden Brüdern aus der WTG, die im fortgeschrittenen Alter und vielen
Jahren 'Dienst für den Sklaven' die Nase voll hatten und dann in unserer Firma noch ein
'Asyl' fanden. Die Erfahrungen, die ich dadurch machte, sowie die Blicke hinter die
WTG-Kulissen haben mein Verweilen in der Organisation Jehovas entscheidend
verkürzt." (S. 65)
Borchers nennt in diesem Zusammenhang
auch den Fall Walter Voigt. Letzterer war Jahrzehntelang der oberste Zeuge Jehovas in
Österreich! So wird er beispielsweise schon in der 1933 erschienenen
Rutherford-Broschüre "Zuflucht zum Königreich" als verantwortlicher
Herausgeber für Österreich namentlich genannt. In der in Wien erscheinenden Tageszeitung
"Neues Wiener Journal", war bereits am 8. 11. 1931 ein als Interview
aufgezogener Bericht über die Bibelforscher veröffentlicht worden, der ihn namentlich
als Leiter der Wiener WTG-Niederlassung nennt, und indem er in der Sache streng auf
Bibelforscherkurs segelte. In den zeitweilig auch in Österreich separat gedruckten
Ausgaben des Wachtturm" und Erwachet!" Beispielsweise aus den 50-er
Jahren, die sich im Bestand der Deutschen Bücherei (Leipzig) befinden, wird sein Name im
Impressum jeweils als der des Presserechtlich verantwortlichen genannt! Der Umstand, dass
die Österreichische Ausgabe des Wachtturms" auch in die Deutsche Bücherei
gelangte, ist dem Umstand zuzuschreiben, dass er damals von einer weltlichen"
Firma noch gedruckt wurde (Hans Bulla & Sohn, Wien).
Über Voigt schreibt nun also
Borchers:
Das Firmenunternehmen, in dem
ich tätig war, expandierte stark. Gerne nahm der Chef Aussteiger aus der WTG in sein
Unternehmen auf. Auch mein Stellvertreter in der Werbeabteilung war ein ehemaliger
Kreisaufseher. Dieser musste nach der Geburt seines Sohnes aus dem Kreisdienst
ausscheiden. Eines Tages rief mich mein Chef zu einer Unterredung in sein Zimmer. Zu
meinem Erstaunen saß dort auch Walter Voigt. ...
Walter wird nach 50 Jahren
WTG-Zugehörigkeit und einigen Jahrzehnten Vollzeitdienst - mit 68 Jahren - ein
'weltlicher' Angestellter. Eine entsprechende Vorsorge wie Renteneinzahlung war in der WTG
nicht üblich. Harmagedon kommt doch schon so bald, da ist eine Rentenvorsorge unnötig.
So dachte auch das Ehepaar Voigt zeit seines Lebens, ein verhängnisvoller Irrtum"
(S. 74).
An anderer Stelle ("Brücke zum
Menschen" 134 Nr. 2/1998) kommt er nochmals auf Voigt zu sprechen. Borchers
berichtet, wie er im Jahre 1967 wegen eines Messeunfalles im kroatischen Zagreb einige
Wochen im Krankenhaus verbringen musste. In diesem Kontext berichtet er:
"Da machte Bruder Walter Voigt
bei mir einen Krankenbesuch. Bis vor zwei Jahren war er noch der langjährige
Zweigaufseher von Österreich. 1965 hat dann die Gesellschaft auf eine härtere Gangart
geschaltet.
(so) dass dieser Mann im Alter von 68 (!) Jahren das 'Bethel' verließ
und sich eine weltliche Arbeit suchte und so plötzlich mein Arbeitskollege wurde. Im
Laufe der Zeit wagte ich es, meine Zweifel an den WT-Lehren ihm gegenüber zu äußern.
Wie froh war ich, als ich merkte, dass er diese mir mir teilte.
Was brachte mir nun Walter Voigt
gewissermaßen als Präsent ans Krankenbett? Es waren einige vom Lesen schon stark
abgegriffene Exemplare des BRUDER-DIENST. Ein deutsches ZJ-Ehepaar war eigens aus
Tübingen angereist, um sich von ihm 'ermuntern' zu lassen, denn sie hatten starke Zweifel
an den WT-Lehren. Nun brachen bei ihnen alle Dämme der Zurückhaltung, als sie bemerkten,
dass sie als Zweifler gerade wieder Zweifler besuchten." Auch bei Borchers ist feststellbar, dass der
"Abnablungsprozeß" doch eine gewisse Zeit beanspruchte und insbesondere durch
gewisse, von außen kommende Vorgänge, weiter befördert wurde.
Borchers berichtet, wie er - aufgrund
seiner beruflichen Anbindung - auch in die konspirativen Bemühungen eingebunden wurde,
WTG-Literatur in Ostblockstaaten einzuschmuggeln. Um die Sache effektiver zu gestalten,
hatte er den realisierten Vorschlag eingebracht, anstatt Originalmaterial, verstärkt
Verfilmungen derselben einzusetzen. Eine Episode dazu: Ich war auf die Reaktionen der Brüder und Schwestern im
Osten gespannt, wie sie mit dem Negativmaterial zurecht kämen. Sie hätten natürlich
lieber die WT-Originalseiten kopiert, sahen aber ein, dass Vorsicht an der Grenze wichtig
war. Die Vergrößerungen von den Negativen bereiteten ihnen Mühe. Da machte ich ihnen
den Vorschlag, sie sollten sich einen Projektor zulegen und für das WT-Studium einfach
die Negative an eine weiße Wand projizieren. Dieser Vorschlag kam gut an" (S. 67).
Die Chronologie seines nachfolgenden
Ausstieges beschreibt er auch noch mit den Worten:
Bei einem Messebesuch in
Leipzig sah ich ein Buch von einem DDR-Verlag mit dem Titel: 'Die Zeugen Jehovas.' Wie zur
Zeit des 'dritten Reiches', als das Abhören eines Feindsenders tödlich sein konnte, so
ist auch ZJ verboten, 'Schmähschriften' zu lesen. Was konnte in der DDR schon Schlimmes
gegen 'die Wahrheit' gesagt werden, dachte ich. Das Buch enthielt eine geschickt gemachte
Dokumentation über all die missglückten Vorhersagen der WTG im Laufe der Jahrzehnte.
Einen großen Schreck bekam ich, als
die Strategie der WTG beschrieben wurde, die 'sozialistischen Länder' zu unterwandern. So
hieß es, die ZJ arbeiteten mit illegalen Methoden, diese 'wurden für geheime
Nachrichten- und Kuriertätigkeiten im Interesse der Untergrundorganisation ausgenutzt',
hieß es wörtlich. Besonders hat mich dann die Abbildung eines Apparates zur Projektion
der eingeschleusten Filmmaterialien erschreckt:
Da wurde irgendwo ein geheimer
Partner - ein 'Informeller Mitarbeiter' der WTG könnte man sagen - erwischt. Meine
Projektormethode war aufgedeckt. Damals beendete ich auch meine 'Agententätigkeit', ich
vertraute nicht mehr darauf, dass Gott das alles gutheißt. Gleichzeitig gab ich die
meisten Ämter in der Versammlung auf. Die Dokumente des DDR-Buches zeigten bei mir
Wirkung" (S. 72).
Als
ein Art Schlüsselerlebnis beschrieb er an anderer Stelle einmal die folgende Episode:
Um eine Art Bestätigung für mein
bewusstes Abwenden von der WTG zu haben, fotokopierte ich etliche spezielle Zitate aus der
WT-Literatur. Eines Tages besuchte mich im Büro ein ZJ, mit dem wir geschäftlich
zusammenarbeiteten. Er kam dabei schnell zu seinem persönlichen Anliegen: "Du hast
doch seinerzeit mitgeholfen, dass ich zu den ZJ ging und nun hörte ich, du habest sie
verlassen. Was ist dein Grund dafür?" Ich wollte nicht, dass mein ZJ-Kollege, der
sich im gleichen Zimmer befand, meine Antwort hörte. Daher griff ich in die Schublade und
überreichte wortlos die Collage mit den WT-Zitaten. Bruder S. blätterte lange darin und
runzelte dabei die Stirn. Dann gab er mir die Blätter zurück und verabschiedete sich
ziemlich abrupt.
Etwa zwei Wochen später, am Abend. Ich
saß mit meiner Frau gemütlich vor dem Fernsehapparat beim Gläschen Wein, da klingelte
es an der Tür. Meine Frau öffnete, draußen standen zwei Brüder vom Komitee unserer
Versammlung. Sie wollen mit mir alleine sprechen. Meine Frau musste ins Nebenzimmer gehen.
Nach einigen Höflichkeitsfloskeln kamen die Männer zur Sache: "Wir wurden
beauftragt, bei dir nachzufragen, welche Schriften du verbreitest?" Auf meine
Gegenfrage, welche Art "Schriften" sie meinen, wurde so beantwortet, dass sie
eben hier seien, um dies von mir zu erfahren. Ich konnte ihnen wirklich nicht
weiterhelfen, denn ich hatte bis dahin noch nie WTG-"verbotene" Schriften
verteilt. Dann gaben sie zu, vom Bethel den Auftrag erhalten zu haben, mich das zu fragen.
Es war ihnen sichtlich unangenehm.
Ganz anders empfinden die Leute vom Bethel.
A., ein Bezirksaufseher und führender Mann im Bethel besuchte mich und kam im Vorraum
schnell auf den Punkt. "Würdest du dich zu einer Komiteesitzung einfinden?" Auf
meine Frage, was man mir denn vorwerfe, beantwortete A., dass man Kenntnis von meinen
WT-Auszügen besaß. Es wurde dabei auch der Name meines Besuchers im Büro, Bruder S.,
genannt. Ich bestand darauf, dass dieser bei der Sitzung als "Zeuge" zur
Verfügung stehen müsse. Das wurde etwas zögernd akzeptiert, danach wurde ein Treffen im
Königreichssaal vereinbart, dann rauschte A. ab.
An einem kalten Februarabend war es so
weit. Nach langer Abwesenheit kam ich wieder in meinen zuständigen Versammlungssaal. Das
Gericht konnte beginnen. Den Vorsitz führte überraschenderweise A. vom Bethel, mein
zuständiger Versammlungsaufseher war nicht anwesend. Das entspricht nicht der Norm.
Anscheinend ist das heute "oberste Kommandosache", dachte ich mir. Ein sehr
verlegen wirkender Bruder S., auf dessen Anwesenheit ich bestanden hatte, nahm ebenfalls
Platz. Insgesamt waren wir fünf Personen. Dann wurden die Anklagegründe genannt:
"Warum hast du Bruder S. Schriften gezeigt?" Zuerst verlangte ich eine
Klarstellung und fragte S., ob ich ihn, oder er mich besucht habe. S. erzählte, wie es
war. Dann stellt ich die Frage: "Habe ich dir denn unaufgefordert etwas
gezeigt?" S. beantwortete alles den Tatsachen entsprechend. Jetzt wandte ich mich an
A. und fragte, was man eigentlich von mir wolle. Dies wurde so beantwortet: "Du hast
S. total verwirrt und im Glauben geschwächt". Ziemlich erstaunt erwähnte ich nur,
dass ich S. doch nur Teile der WT-Literatur gezeigt habe. Nun kam die altbekannte Antwort:
"Diese Zitate waren sicherlich aus dem Zusammenhang gerissen". Eine kuriose
Entwicklung des Gesprächs begann. A. fragte, wie ich eigentlich dazu käme S. solche
Zitate zu zeigen. Da wandte ich mich an S., dieser bestätigte seine an mich gestellte
Frage wegen meinem Fernbleiben von den Versammlungen. Da meinte A. zu mir: "Du bist
doch ein reifer Bruder, im Gegensatz zu S., der ist ja noch ein Neuling, warum musstest du
ihn so verunsichern!". Wieder fragte ich S., ob er denn regelmäßig die
Zusammenkünfte besuche. Nachdem er zögernd bejaht hatte, sagte ich zu A.: "Also S.
besucht regelmäßig die Zusammenkünfte, ich bin aber schon viele Monate nicht mehr in
diesem Saal gewesen, jetzt frage ich euch: Wer von uns beiden ist wirklich der
´Reifere´?". Den Höhepunkt lieferte A. mit der Feststellung, ich müsse doch nicht
jede Frage etwa wie S. sie mir im Büro stellte beantworten. Auf diese
Argumentation war ich vorbereitet. Ich holte aus meiner Tasche einen "Redeplan"
für Vortragsredner, der in Brooklyn verfasst wird. Das Thema meines Vortrags hatte
gelautet: "Immer die Wahrheit sprechen". Aus dem Redeplan las ich folgende
Passage:
- Wir müssen der Wahrheit gemäß reden, keine Tatsachen vor denjenigen,
die es wissen sollten, zurückhalten.
- Unsere Brüder verdienen es, die Wahrheit zu hören, und sollten niemals
irregeführt werden. (Lies Sacharja 8:16)
- Selbst wenn man Tatsachen verheimlicht, kann man Dingen eine andere
Bedeutung geben: könnte zu Streit und Kummer unter Brüdern führen. Mag Zeit und Übung
erfordern, zu lernen, in dem was wir sagen, ehrlich und freimütig zu sein; ist der Welt
gegenüber ein Kontrast.
Die Kernaussagen solcher Stichwörter
sind für Vortragende verbindlich. Meine Ankläger saßen mir jetzt ziemlich ratlos
gegenüber. Sie durften doch nicht dem aus Brooklyn stammenden Rat widersprechen.
Schnell zogen sie sich dann zur Beratung zurück. Diese Vorgangsweise
erinnert an ein weltliches Gericht. Meine Richter ließen mich lange warten. Sie schienen
uneinig zu sein und entließen mich schließlich ohne ein Urteil zu fällen. Erst am
nächsten Tag wurde mir an meiner Wohnungstüre mitgeteilt: "Wir haben dir die
Gemeinschaft entzogen!". Ich bin in diese Gemeinschaft zwar nie als Mitglied
eingetreten, nun bin ich aber als Übeltäter hinausgetreten worden.
Das Geschilderte ist nun schon einige Jährchen her, hat sich aber in
der Psyche doch ziemlich fest eingegraben...
Der Fall Walter Voigt
https://docs.google.com/document/d/1MuFqi58OPQNak5WlLGgF6k1Hu0tgoPiAHF9gqD453P0/edit?pli=1
Hinweis. Eine Gewähr für die Erreichbarkeit des
docs.google-Link kann nicht übernommen werden.
Alternativ siehe auch die von Verfasser selbst
vorgenommene Verlinkung in:
http://www.ihrseidmeinezeugen.de/forum/index.php?PHPSESSID=3f90cc787505eecb4282cbfc97ca7b78&action=recent
http://www.sektenausstieg.net/read/748 (extern)
Der Bericht von
Gerd Borchers-Schreiber (extern)
Zur Indexseite