Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Viel ist mit euch Beschwestern nicht anzufangen

Das Drama-Kapitel Jehovas Zeugen im "Dritten Reich" hat viele Facetten. Eine davon ist auch die, dass auch die Zeugen Jehovas letztendlich eine politische Meinung zu dem braunen Regime hatten. Mehr noch: Sie hatten auch eine politische Meinung zu den "Roten", die da in der Sowjetunion bereits herrschten und selbiges auch in Deutschland gerne wollten. Mit dem Anbruch des Jahres 1933 waren ihre diesbezüglichen Ambitionen fürs erste "auf Eis gelegt".

Zeugen Jehovas sind nicht primär politisch orientiert. Jedenfalls nicht vordergründig. "Hintergründig" sehr wohl dergestalt, dass ihre jeweiligen Bibelauslegungen durchaus auch auf die aktuelle Situation Bezug nehmen, dergestalt, dass man wähnt, das alles schon in der Bibel vorausgesagt gefunden zu haben. Da sich bekanntermaßen politische Konstellationen verändern können, sind auch die Zeugen von Zeit zu Zeit, zu gewissen Modifizierungen ihrer "Bibelprophezeiungen" genötigt. Immer unter der Prämisse. Gerade das jetzt aktuelle wurde "vorhergesagt". Ändert sich das, ändern sich auch "dezent" die entsprechenden "Bibelauslegungen".

Das Verhalten der Zeugen Jehovas im Hitlerregime ist nur dann schlüssig erklärbar, wenn es zugleich auch als Ausdruck politischer Opposition in religiöser Phraseologie definiert wird. Neben den Zeugen Jehovas fanden sich auch Kommunisten in den Kerkern und Vernichtungsanstalten des Naziregimes wieder. Hatte es in den Jahren zuvor auch kaum engeren Kontakt der beiden durchaus unterschiedlichen Gruppen gegeben, so sollte sich das nun zwangsweise ändern. Das Buch von Margarete Buber-Neumann beispielsweise, ist ein einziges Dokument diesbezüglich. Auch das Buch der Kommunistin Lina Haag ist in diesem Zusammenhang zu nennen.

Ein weiteres beachtliches diesbezügliches Dokument ist seit einiger Zeit bekannt geworden. Verfasst von der Jüdin Gabriele Herz, die die Chance hatte, schon zu Nazizeiten aus den Nazikerkern durch ihre Auswanderung nach den USA zu entweichen. Dort hatte sie ihre Erfahrungen manuskriptmäßig zu Papier gebracht und erst in neueren Zeiten sind Ausführungen daraus auch in deutschen Gefilden bekannt geworden. Besonders bedeutsam dabei ist, dass die Gabriele Herz in ihrem Leidensweg, zusammen mit einer Kommunistin und Zeugen Jehovas in einer Gestapo-Zelle im damaligen Gefängnis Berlin-Alexanderplatz (das Gebäude existiert heute nicht mehr) inhaftiert war.

Da hatte man nun den konkreten Fall, dass auf engstem Zellenraum sowohl Zeugen Jehovas als auch Kommunisten, mit einander auskommen müssten. Der Gabriele Herz, als Jüdin, kann man dabei durchaus unterstellen, als ideologisch Unbeteiligte Dritte, diesbezügliche Dialoge durchaus sachgerecht reflektiert zu haben.

Anlässlich einer der vielen "Standhaft"-Ausstellungen im Staatsarchiv Ludwigsburg am 2. 12. 2000 zitierte in seinem dortigen Referat Hans Hesse einige aussagekräftige Passagen daraus. Hesse zitierte bloß. Eine Wertung nahm er nicht vor. Und bis zum heutigen Tage bietet er den diesbezüglichen Text auch nicht auf seiner Webseite oder anderen Buchveröffentlichungen von ihm an. Vielleicht sagt man nicht zu viel, wenn man es so einschätzt. Eines Tages wird für den Historiker Hans Hesse das Thema Zeugen Jehovas ein Vergangenheitsthema sein. Verdrängt von anderen Themen. Solange mit den "Standhaft"-Ausstellungen noch eine gewisse Konjunktursituation besteht, mag dies so noch nicht der Fall sein. "Noch nicht".

Jener Dialog zwischen einer Zeugin Jehovas und einer Kommunistin, wiedergegeben durch eine Jüdin, gibt durchaus ein plastisches Bild über die subjektive Befindlichkeit der Handelnden. Er verdeutlicht auch den politischen Standort zeitgenössischer Zeugen Jehovas. Es mag sich jeder sein eigenes Urteil darüber bilden. Nachstehend die Transkription aus dem Hesse-Referat:

Hesse leitet ein:

Die Szene beginnt damit, dass die Kommunistin die Gebete der Zeugin Jehovas mit den Worten unterbricht.

Macht endlich mal Schluss mit eurem endlosen Geplärre. Seit Jahrhunderten plappert ihr Eure Litanei herunter, aber nichts in der langen Zeit hat sich verändert. Hass, Not, Ausbeutung ist geblieben. Wir Kommunisten mussten erst kommen um den Menschen ein neues menschenwürdiges Dasein zu geben.

Reichlich spät kommt ihr, spottete Helene, dass ist die Zeugin Jehovas. Gut, dass die Menschheit nicht auf euch angewiesen war.

Lange vor eurem Lenin und Stalin haben Moses, die Propheten und die anderen Gesetzgeber des Alten Testamentes, praktische Nächstenliebe, soziales Verantwortungsgefühl, Schutz der wirtschaftlich Schwachen in den Mittelpunkt jeder menschlichen und göttlichen Ordnung gestellt. Sie haben durch die Einsetzung des 50. Jahres, in dem alle Schulden gestrichen wurden, und der Boden an seine ursprünglichen Besitzer zurückgegeben werden musste, die schlimmsten Auswüchse sozialer Ungleichheit beseitigt.

Auf die Kommunistin Frenze machten diese Argumente wenig Eindruck: Sie war ganz in ihrem Element und sprühte vor Angriffslust.

Alle diese Bestimmungen sind nur auf dem Papier geblieben. Blasse Schemen ohne Fleisch und Knochen. Bloße Wunschträume, denen die Erfüllung versagt blieb. Es geht eben nicht an, unser ganzes menschliches Glück nur in den Wolken, in den angeblichen Wollen eines angeblichen höchsten Wesens zu verankern. Hier auf der Erde entscheidet sich unser Schicksal. Unsere Kampfansage an die Religion hat ihren letzten Grund in der Erkenntnis, dass wir euch mit Gewalt euren Gott mit seinem Himmel und seine Heiligen nehmen müssen um euch endlich unsere Erde geben zu können, mit all ihrem Reichtum.

Helene war empört aufgesprungen. Ihre Stimme klang plötzlich scharf.

Eure Erde? Wie kalt und Liebe-leer ist sie durch Euch geworden. Ihr zerstört alle wahren Werte, ihr erstickt jedes individuelle Leben. Mit eurer Gleichmacherei nivelliert, reglementiert ihr alles. Soviel Kubikmeter Wohnraum, soviel Gramm Eiweiß, Fett und Kohlehydrate. Soviel Stunden Arbeit, soviel für Sport, vielleicht auch eine halbe Stunde Liebe. Ihr verbannt aus Gottes wunderbaren Erde, Schönheit, Schwung und Idealismus. Ihr macht sie zu einer freudlosen Stätte für Maschinen und Fabrikschlote. Für euch und gerade für euch, gilt die Prophezeiung des Amos Kapitel 8: Siehe spricht der Herr, es kommt die Zeit, dass ich einen Hunger ins Land schicken werde, nicht nach Brot, oder einen Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn zu hören.

Frenze schüttelte den Kopf, und ihre feingliedrigen, nervösen Hände machten eine Bewegung, als wollten sie ein Hindernis aus dem Wege räumen.

Immer wieder diese selben Sprüche, diese gottgewollte Abhängigkeit. Inzwischen steigt die Naziflut immer höher. Ihr aber legt die Hände in den Schoß und schaut verzückt gen Himmel und haltet fromme Reden.

Das stimmt nicht, wehrte Helene hitzig ab. Wir reden nicht nur, wir kämpfen auch. Aber auf unsere Weise, mit unseren Waffen. Wir sind ohne Priester und kirchliche Obrigkeiten freier und beweglicher als die katholischen und evangelischen Gemeinschaften. Wir unterhöhlen den Nazistaat von innen. Wir stärken mit unserer Propaganda alle Kräfte des Widerstandes. Wir handeln, wie Jakobus im ersten Kapitel seines Briefes empfohlen hat: Seid aber Täter des Wortes und nicht nur Hörer allein, wodurch ihr euch selbst betrügt. Denn so jemand ist ein Hörer des Wortes und nicht ein Täter, der ist gleich einem Manne, der seinem leiblichen Körper nur in einem Spiegel beschaut.

Frenze wurde nachdenklich.

Aber den eigentlichen Kampf, den Einsatz von Blut und Leben, überlasst ihr uns, den Kommunisten. Den Hitler ist nicht mit Predigten und Gebeten zu beseitigen, sondern nur mit Feuer und Schwert.

Mag sein, dass wir eine kurze Wegstrecke gemeinsam gehen müssen, aber viel ist mit euch Betschwestern nicht anzufangen.

In seinem zusammen mit Jürgen Harder herausgegebenen Buch „… und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müsste …' Die Zeuginnen Jehovas in den Konzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück" thematisiert er unter anderem die sogenannten „Extremen". Im vorliegenden Fall regional begrenzt auf das KZ Ravensbrück.

Bereits Detlef G. (S. 435) hatte mit Verweis auf Buber-Neumann den Fakt der (erstmaligen) Verweigerung des Essens von Blutwurst durch die Bibelforscherhäftlinge angesprochen. Laut Buber-Neumann hatten die Verweigerer gar eigens eine Liste bei der Lagerleitung eingeeicht jener, welche künftig keine Blutwurst mehr essen wollen. Dabei wurde auch eine Zahl von 25 genannt, auf die das zuträfe. In Verkennung der tatsächlichen Sachlage meinten nun einige Zeugen Jehovas (beispielsweise im Lexikonprojekt Wikipedia), die Zahl der „Extremen" würde sich in Ravensbrück auf diese 25 reduzieren. Hier werden aber offenbar verschiedene Vorgänge, unzulässig gleichgesetzt.

Laut Hesse (Hesse/Harder S. 159) ist die „Blutwurstaktion" sehr wahrscheinlich dem Sommer 1941 terminlich zuzuordnen. Dazu zitiert Hans Hesse:

„Anfangs aßen nahezu alle Zeuginnen Jehovas Blutwurst. Über die Gründe, warum es schließlich zur Verweigerung kam, gibt es unterschiedliche Darstellungen. Buber-Neumann sah Ilse Unterdörfer als die Verantwortliche an …"

Wahrscheinlich kam die These durch von außen eingeschmuggelte WTG-Publikationen auf.

Wiederum rekapituliert Hesse dazu:

„Ilse Unterdörfer schilderte die Situation aus ihrer Sicht: 'Außer vielen anderen neuen Wahrheiten oder Erkenntnissen, berichteten Schwestern, die als Zugänge ins Lager kamen, daß der Wachtturm geschrieben hatte, daß man kein Blut essen dürfe. Das war ein Punkt, der wurde nicht von allen angenommen. …"

Unabhängig davon, gab es davor schon einen weit gewichtigeren Konfliktpunkt. Terminlich genau auf den 19. 12. 1939 festlegbar. An jenem Tage verweigerten geschlossen die in der Nähstube tätigen Zeuginnen Jehovas, das Nähens von „Beuteln für die Krieger draußen im Feld". Es gab eine Eskalation dergestalt:

„Und alle fünfzig (an einer Stelle werden 100 Frauen genannt (Fricke, Margarete, Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas …), sie verschwanden durch die enge Pforte des Arrestblocks [gemeint ist der Zellenbau …]

Alle anderen Zeugen Jehovas ( Die Zahlenangaben schwanken zwischen 400 und 500 …) wurden dann versammelt auf dem Lagerplatz und vor dieselbe Entscheidung gestellt, das Ergebnis war das gleiche (Klimaschewski, Selma, Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas … gibt an, daß drei Frauen die Arbeit machen wollten)

Unter Drohen und Fluchen jagte man sie den anderen nach."

Jetzt wollte die Lagerleitung ein Exempel statuieren. Auch nachdem der Arrest nach fielen Wochen sein Ende fand, und die Zeuginnen Jehovas sich als moralisch ungebrochen erwiesen; kam die nächste Strafaktion, die drei Monate lang dauern sollte. Ein „Jahrhundertwinter" hatte ungeheure Schneemengen herbeigeschafft, die gar bis in Barackenhöhe reichten. Aufgabe der entkräfteten und mißhandelten Frauen war es nun, diese ungeheuren Schneemengen auf einen nahe gelegenen See zu verfrachten. Dabei war ihre Behandlung alles andere als menschenwürdig.

Die lange Dauer dieser Restriktionen blieb nicht ohne Folgewirkung.

Zitat Hesse:

„Ähnliches (wie im Unterdörfer-Bericht) läßt sich auch in den Berichten von Berta Maurer und Emmi Lehrbach wiederfinden: 'Was aber ein weit schlimmeres Übel war, war die geistige Einstellung vielmehr Zersplitterung innerhalb unserer Gemeinschaft. Es war Krieg, und aus Angst, durch ihre Arbeit in Kriegsdienste verwickelt zu werden, verloren viele das Unterscheidungsvermögen der Grenze und einige sogar ihren buchstäblichen Verstand … Sie verschafften sich dadurch unmenschliche Leiden und etliche sogar den Tod' (Lehrbach, Emmi Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas …)

… Etliche unserer Schwestern wurden (wohl auf Grund körperlicher Schwäche) geistig krank. Sie fingen an, aus der Reihe zu tanzen, und widersetzten sich der Lagerordnung. Sie standen keinen Zählappell mehr. Harmlose Arbeiten wie Strohabladen, Gemüse verpacken, in der Kaninchenzucht arbeiten und dergleichen verweigerten sie als Kriegsarbeit. Zureden half nichts. Weil sie auf Grund ihres Verhaltens mehr Drangsal zu erleiden hatten, behaupteten sie, die 'echten Zeugen Jehovas' zu sein. Als willkommene Beute waren sie so der Gier der Feinde preisgegeben. Sie siechten hin, zuletzt wurden vierzehn von ihnen erhängt' (Maurer, Berta, Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas …)

Weiter definiert Hesse:

„Die Fraktionierungen kamen nicht blockweise zustande … Wer als 'Extreme' galt oder dazu wurde, konnte demnach damit zusammenhängen, wo die jeweilige Frau gerade eingesetzt wurde. … Dieser unterschiedliche Arbeitseinsatz führte geradezu zwangsläufig zu unterschiedlichen Entscheidungen und damit auch 'Behandlungen' durch die SS. … Zudem mußte die Zuordnung zu den 'Extremen' nicht bedeuten, für alle Zeit dieser 'Fraktion' anzugehören, sondern konnte durch einen Wechsel des Arbeitsplatzes verändert werden. … Des weiteren muß mit berücksichtigt werden, daß die Lagerleitung nie wieder alle Zeuginnen Jehovas im Falle der Weigerung einer Gruppe der Frauen, eine bestimmte Arbeit auszuführen, auf den Appellplatz aufstellen ließ, um sie kollektiv zu befragen zwecks kollektiver Bestrafung. Die SS vereinzelte den Widerstand der Frauen und spaltete sie durch die Abstrafung und spätere Ermordung somit von der Gruppe als Ganzes ab."

Zusammenfassend urteilt Hesse:

„Anfang 1942 und in der Folge des Jahres eskalierte die Situation. Verweigerung und Reaktion der Lagerleitung schaukelten sich gegenseitig hoch. Exemplarisch sei hier die Zeugin Lina Hofmeier zitiert: 'Das Jahr 1942 war ein furchtbares Jahr. Da wurden so viele zur Vergasung abtransportiert, daß man nie wußte, ob man selbst einmal mit dabeisein wird.'

… Gertrud Pötzinger erinnert sich an die Transporte im Frühjahr 1942: 'Ich erlebte wieder etwas sehr Schreckliches. Es war die Zeit der 'Schwarzen Transporte'. … Man steckte die Frauen in große mit Planen bedeckte Lastwagen und erklärte ihnen, sie würden in ein anderes Lager gebracht. Wir wunderten uns, daß diese Gefangenen einige Dinge abgeben mußten und - wie ich erfahren hatte - sogar die Zähne. Das verwunderte uns sehr, und so forschten wir nach. Wir fanden heraus, daß die Kleidung der Häftlinge, die abtransportiert worden waren, wieder zurück kamen. Das erzeugte großes Mißtrauen. …"

Es muss also eingeschätzt werden, dass der von G. genannte Fall Blutwurstessensverweigerung durch die 25, nur einer von vielen - eher ein marginaler - Fall war im Gesamtspektrum der Konfrontationen und der sich aus ihnen als Folgewirkung ergebenden Resultate.

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