Grenze überschritten

Das Naziregime setzte sich auf drei verschiedenen Ebenen mit den Bibelforschern/Zeugen Jehovas auseinander. Einmal die propagandistische. Da wurden die bekannt-berüchtigten Nazithesen auf die Bibelforscher, entsprechend zugeschnitten, angewandt. Dann gab es noch die Terrorebene. Das war dann die Himmler'sche SS mit ihren Konzentrationslagern. Es gab aber auch - vielfach verkannt - noch eine juristische Ebene. Es geht hier nicht um einzelne Gerichtsurteile und ihre oftmals fragwürdigen Grundlagen. Es gab mal im Jahre 1936 eine grundsätzlichere Ausführung dazu. Verfasser war der Hamburger Richter Dr. jur. habil. Rolf Stödter. Er veröffentlichte seine Ausführungen in der juristischen Zeitschrift "Archiv des öffentlichen Rechts" Neue Folge 27. Band. 2. Heft (1936).

Man wird Stödter bescheinigen können, dass er sich vielleicht von allen, die sich in der Nazizeit zu den Zeugen Jehovas publizistisch zu Wort gemeldet haben, dass er sich vielleicht von allen, als der "sachkundigste" auswies (Jonak vielleicht, ausgenommen - der aber aus anderen Gründen sehr kritisch eingeschätzt werden muss). Also Stödter schrieb nicht "mit Schaum vorm Maul". Er referierte in sachlicher Art und Weise. Er machte kein Hehl daraus, dass er im Nazistaat lebte und dessen Grundsätze anerkannte. Dennoch kann man die Stödter'schen Ausführungen noch heute als sachkundig und in etlichen Aussagen, als zutreffend einschätzen. Etliche Aussagen, heißt allerdings ausdrücklich nicht "alle Aussagen". Die wesentlichen Punkte seiner Ausführungen, sollen hier nachstehend dokumentiert werden:

"In Deutschland wurde sie (die IBV) 1927 in das Vereinsregister des Amtsgericht Magdeburg eingetragen. Zweck der IBV ist 'die Förderung christlicher Erkenntnis mittels Belehrung über den Inhalt der Bibel und Aufklärung der Menschen über alles, was den Lehren der Bibel, dem Worte Gotts, entgegengesetzt ist und mit ihren Forderungen nicht übereinstimmt. Zusammengefasst: dem Menschen in ihren Glaubenszweifeln und Gewissenskonflikten beizustehen und ihnen zu helfen, verlorenen Glauben und Gottvertrauen zurückzugewinnen. … Das Bekenntnis der IBV beschränkt sich nicht, wie es zunächst den Anschein hat, auf rein religiöse Fragen. Es greift in politische Bezirke über.

Die IBV und ihr Bekenntnis machen einen totalen Anspruch gegenüber den Ernsten Bibelforschern geltend, erfassen nicht nur ihr religiöses, sondern auch ihr politisches Sein.

Die Bibelforscher berufen sich zur Rechtfertigung dieses Totalitätsanspruches auf Befehle Jehovas. Wenn sie ihm nicht treu blieben, hätten sie ihr Leben verwirkt. Sie handelten lediglich nach dem Gesetz Gottes, verfolgten daher keine politischen Ziele, selbst wenn sie mit den irdischen Machthabern in Konflikt gerieten. Gott müssten sie mehr gehorchen als den Menschen. Das Heil der Welt werde von Christus kommen, dem sie in erster Linie zum Gehorsam verpflichtet seien. Daher versagen die Bibelforscher den Anordnungen der Regierung oder ihr nachgeordneter Behörden den Gehorsam, wenn deren Befehle den Geboten Jehovas widersprechen.

Welches solche Gebote Jehovas sind, erfahren die Mitglieder der IBV vor allem durch den Mund ihres Präsidenten, des Amerikaners J. F. Rutherford in San Diego (California).

Den Hitler-Gruß können sie mit ihrem Glauben und dem Gelübde zu Jehova, ihrer höchsten Autorität, nicht in Einklang bringen. Das Heil bedeutet in der Heiligen Schrift soviel wie Errettung und Erlösung. Bei Anwendung des Deutschen Grußes würden sie Jehova, der allein ihr Erretter und Erlöser sei, entweihen. Zu dieser Ansicht bekennen sich selbst solche Bibelforscher, die Beamte oder Staatsangestellte sind bzw. waren. Kein Mensch der Welt, behaupten sie weiter, könne sie jemals dazu bringen, Kriegsdienste zu leisten, zur Wahlurne zu gehen oder der irdischen Macht in irgendeiner Form mehr zu gehorchen als den göttlichen Instanzen.

Aus den meist vom Ausland bezogenen Zeitschriften, Werbezetteln, Traktaten und Jahrbüchern ergibt sich mit aller Deutlichkeit, dass die IBV nicht lediglich auf religiösem, sondern auch auf politischem Gebiet tätig wird. Dies Material lässt zugleich die Einstellung der Bibelforscherbewegung zum nationalsozialistischen Deutschland erkennen. Hier wird der Pazifismus verherrlicht, der Heldentod fürs Vaterland verächtlich gemacht. Geistliche werden als Kriegshetzer, als Anhänger des Teufels geschildert. Auch die irdischen Machthaber, vor allem die deutsche Regierung, sollen unter teuflischem Einfluss stehen. 'Hitler und sein Stab von Beamten', heißt es in einem Aufsatz in den 'Bibelstudien', 'stehen ohne Zweifel unter der Kontrolle der unsichtbaren Macht Satans und seiner ruchlosen Verbündeten, die zusammen gegen Jehovas Zeugen Krieg führen.'

Der Bericht über die Bibelforscherbewegung in Deutschland, der in dem in der Schweiz erschienenen 'Jahrbuch 1935 der Zeugen Jehovas' enthalten ist, stellt die Behauptung auf:

'Ohne Zweifel gibt es kein Land auf Erden, dass solche extremen Maßnahmen wie die Hitler-Regierung ergriffen hat. Offenbar steht dieser Mann unter der direkten Aufsicht des Teufels und ist sein besonderer Vertreter auf Erden.' Der Nationalsozialismus, so wird in der Zeitschrift 'Jonadab' gesagt, ist Selbstsucht, Überheblichkeit über andere, Machtsucht und Neid.

Diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren. Die ganzen Schriften der IBV sind angefüllt mit Angriffen gegen den nationalsozialistischen Staat und seine Regierung. Anscheinend werden auch judaisierende Tendenzen verfolgt, wie die Aussage des Sachverständigen Oberstleutnant Fleischhauer im Berner Zionistenprozeß ergibt. …

Die Ziele der Ernsten Bibelforscher sind nach seinen Feststellungen genau die gleichen wie die in den 'Protokollen der Weisen von Zion' niedergelegten. In stiller, aber zäher Arbeit suchen die Bibelforscher die Bevölkerung für die staatsfeindlichen und volksgefährlichen Lehren und Ziele zu gewinnen. Namentlich vom Ausland her wird auf diese Weise unter dem Deckmantel der Religion ein systematischer Kampf gegen das Dritte Reich geführt. Die Bestimmung des § 4 Ziff. 5 der Satzung der IBV; ihre Veranstaltungen dürften nie zu politischer Agitation benutzt werden, bleiben unbeachtet.

Die zuständigen Stellen haben die Folgerungen aus diesem Treiben gezogen, nachdem schon vor 1933 die bayerische Staatsregierung auf Veranlassung der Landtagsfraktion der NSDAP Maßnahmen gegen die Ernsten Bibelforscher ergriffen hatte. … Das Preußische Ministerium des Innern erließ am 24. Juni 1933 … folgendes Verbot:

'Auf Grund des § 1 der VO. des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 (RGBL I 83) in Verbindung mit § 14 PVG wird die Internationale Bibelforscher-Vereinigung einschließlich ihrer sämtlichen Organisationen … im Gebiet des Freistaates Preußen aufgelöst und verboten. Das Vermögen wird beschlagnahmt und eingezogen. Zuwiderhandlungen gegen diese Anordnung werden auf Grund des § 4 der VO vom 28. Februar 1933 bestraft.'

Dem Verbot wurde folgende Begründung beigegeben:

'Die Internationale Bibelforscher-Vereinigung und die ihr angeschlossenen Nebenorganisationen betreiben in Wort und Schrift unter dem Deckmantel angeblich wissenschaftlicher Bibelforschung eine unverkennbare Hetze gegen die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen. Indem sie beide als Organe des Satans bezeichnen, untergraben sie die Grundpfeiler völkischen Gemeinschaftslebens. In ihren zahlreichen Schriften … verhöhnen sie die Einrichtungen von Staat und Kirche in bewusster böswilliger Verdrehung biblischer Bilder. Ihre Kampfmethoden sind durch eine fanatische Beeinflussung ihrer Anhänger gekennzeichnet; durch nicht unerhebliche Geldmittel gewinnen sie an Stoßkraft bei ihrer kulturbolschewistischen Zersetzungsarbeit. Ihre Einflussnahme auf breite Volksschichten beruht z. T. auf eigenartigen Zeremonien, die eine Fanatisierung der Anhänger und damit eine unmittelbare Störung des seelischen Gleichgewichts der betreffenden Volkskreise erzeugen.

Da hiernach die Tendenz der genannten Vereinigungen in besonders sinnfälligen Gegensatz zum heutigen Staat und seiner kulturellen und sittlichen Struktur steht, sehen die 'Internationalen Bibelforscher' entsprechend den aus der nationalen Erhebung hervorgegangenen christlich-nationalen Staat als einen besonders markanten Gegner an, demgegenüber sie die Methoden ihres Kampfes radikal verstärkt haben. Dies beweisen die verschiedensten gehässigen Angriffe von führenden Funktionären, die in Wort und Schrift gegen den Nationalsozialismus und seine maßgeblichen Vertreter in jüngster Zeit vorgetragen worden sind. Damit ist zugleich der Einwand eines rein religiösen weltanschaulichen Kampfes widerlegt.

Die Gefährlichkeit der Umtriebe der genannten Vereinigungen für den heutigen Staat wird dadurch noch gesteigert, dass in neuester Zeit in auffallend zunehmendem Maße Anhänger ehemaliger kommunistischer und marxistischer Parteien und Organisationen in ihren Reihen in der Hoffnung Aufnahme gefunden haben (Einfügung: M.G. wurde von den Zeugen Jehovas schon zeitgenössisch dementiert) , in diesen angeblich rein religiösen Vereinigungen einen sicheren Unterschlupf zu finden, der ihnen den getarnten politischen Kampf gegen das heutige Regierungssystem ermöglicht. Die Bibelforscher-Vereinigung und die ihr nahestehenden Gesellschaften leisten mithin auch auf rein politischem Gebiet dem Kommunismus Vorschub und stehen im Begriff, sich zu einer Auffang-Organisation für die verschiedensten staatsfeindlichen Elemente zu entwickeln. Eine organisatorische und zielbewusste kommunistische Betätigung wird aus den Reihen der kommunistischen Anhänger der Bewegung getätigt. Zur Abwehr kommunistischer Umtriebe und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit ist daher ihre Auflösung zum Schutze von Volk und Staat geboten.'

Inden anderen Ländern ergingen teils vor, teils nach dem Preußischen Verbot entsprechende Anordnungen. …

Verhandlungen zwischen offiziellen Stellen der Vereinigten Staaten und dem Reichsinnenminister im Sommer 1934 führten zu einer Milderung der gegen die IBV gerichteten Maßnahmen. Der Reichsminister des Innern erließ am 13. September 1934 folgende Anweisung … an die Landesregierungen:

'Der preußische Minister des Innern hat mit Verfügung vom 9. Juni 1934 das beschlagnahmte Vermögen der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung einschließlich ihrer sämtlichen Organisationen … freigegeben. Die Betätigung der Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft in der Herstellung und dem Vertrieb von Traktaten und anderer propagandistischer Schriften bleibt nach wie vor verboten, ebenso jegliche Lehr- und Versammlungstätigkeit der Bibelforscher-Vereinigung. Der Druck und der Vertrieb von Bibeln der üblichen Art, sowie sonstige Drucklegungen von Schriften, deren Inhalt erlaubt ist und keine Beziehungen zu der Tätigkeit der Ernsten Bibelforscher-Vereinigung hat, sind dagegen nicht zu beanstanden.'

Die Länderregierungen trafen entsprechende Anordnungen. … Trotz der damit verbundenen Milderungen hörten die Umtriebe der Bibelforscher nicht auf. Grund hierfür war vor allem ein vom Herbst 1934 datierendes Schreiben ihres Präsidenten Rutherford. In diesem Brief, den die Bibelforscher als einer Äußerung Jehovas glaubten Folge leisten zu müssen, fordert Rutherford sie zum Ungehorsam gegen die staatlichen Anordnungen auf. Nach Anführung einer Reihe von Bibelzitaten schreibt er:

'Im Gegensatz zu und in Übertretung der vorerwähnten Gebote Jehovas Gottes hat die Deutsche Regierung Euch verboten, Euch zu versammeln, Jehova anzubeten und ihm zu dienen. Wem wollt Ihr gehorchen, Gott oder Menschen?

Die treuen Apostel wurden in eine ähnliche Lage gebracht und sie sagten zu den weltlichen Machthabern: 'Ob es vor Gott recht ist, auf Euch mehr zu hören als auf Gott, urteilet Ihr … Wir müssen Gott mehr gehorchen als Menschen.' … Kein Mensch hat das Recht, Euch Befehle zu erteilen bezüglich Eures Gottesdienstes. Ihr seid durch Euren Bund verpflichtet, Gott und Christus gehorsam zu sein. Daher schließe ich daraus, dass Ihr Jehova und nicht Menschen gehorchen werdet.'

Rutherford befiehlt daher den Bibelforschern, sich an einem bestimmten Tage überall in Deutschland erneut zu versammeln und Protestscheiben an die Regierung zu senden.

Offen wird zum Ungehorsam gegen staatliche Anordnungen aufgefordert. Die Bibelforscher suchten dieser Anweisung nachzukommen. Sie versammelten sich und schickten Briefe und Telegramme an die Reichsregierung, in denen ein Widerspruch zwischen den staatlichen Gesetzen und den Geboten Gottes behauptet wurde. Sie würden dem Rat der treuen Apostel folgen und um jeden Preis Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Auch weiterhin fanden verbotene Versammlungen statt. Gefördert wurden diese Bestrebungen durch die Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft in Magdeburg. Auch diese Gesellschaft wurde durch Verfügung des Regierungspräsidenten in Magdeburg vom 27. April 1935 … aufgelöst. Die Auflösungsverfügung wurde folgendermaßen begründet:

'Durch Erlass des Herrn Preußischer Minister des Innern vom 24. Juni 1933 ist die IBV verboten und das Vermögen beschlagnahmt worden. Auf die Begründung des Verbots wird Bezug genommen. Mit Erlass des Preußischen Ministers des Innern vom 28. September 1934 ist das Vermögen dieser Organisation wieder freigegeben worden. Die Betätigung der Vereinigung in der Herstellung von Schriften, Flugblättern, sowie in der Lehr- und Versammlungstätigkeit blieb jedoch nach wie vor verboten. An diese Anordnung hat sich die Bibel- und Traktat-Gesellschaft als ehemaliger besonderer Zweig der IBV nicht gehalten. Sie trat vielmehr an ehemalige Mitglieder der verbotenen IBV heran, um diese zum Bezuge von Büchern und Zeitschriften und evtl. zum Weitervertrieb anzuregen. Das der verbotene Vertrieb von Druckschriften durch die Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft tatsächlich erfolgte, beweist z. B. die Beschlagnahme einer Reihe von Schriften, deren Inhalt klar eine verkappte Weiterführung der IBV erkennen ließ, durch die Staatspolizeistelle in Magdeburg am 16. November 1934. Durch diese Schriften wurde bewusst der Eindruck geweckt und gefördert, als sei die Tätigkeit der als staatsfeindlich anerkannten IBV wieder erlaubt.

Unter den beschlagnahmten Schriften hat die Druckschrift über Strafverfahren und Rechtsberatung besondere Bedeutung. Sie förderte das illegale Fortbestehen der IBV in erhöhtem Maße durch die an Mitglieder der ehemaligen IBV gerichtete Aufforderung zur Benutzung einer zentralen Rechtsberatungsstelle. Durch die Rechtsbetreuung von ehemaligen Angehörigen einer Organisation, die eine unverkennbare Hetze gegen die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen trieb, indem sie beide als Organe des Satans bezeichnete, wurde das Verbot dieser Vereinigung umgangen und damit der staatsfeindlichen Betätigung Vorschub geleistet. Es ist ferner festgestellt worden, dass durch Anhänger der IBV Bücher und Kalender vertrieben wurden, die aus dem Besitze der Wachtturm- Bibel- und Traktat-Gesellschaft stammten. Daraus ergibt sich, dass die genannte Gesellschaft im organischen Zusammenhang mit der verbotenen IBV steht, und dadurch selbst als staatsfeindliche Organisation anzusehen ist, die sich in sinnfälligem Gegensatz zum heutigen Staat und seiner kulturellen sittlichen Struktur gestellt hat.

Wegen weiterer Zuwiderhandlungen gegen die erlassenen staatlichen Verbote wurde eine Reihe von Bibelforschern gerichtlicher Aburteilung zugeführt. Vor Gericht beriefen sich die Bibelforscher auf Artikel 135f der Weimarer Verfassung, die… überhaupt weiter in Geltung seien, zumal sie nicht auf dem Wege über Art. 48 RV außer Kraft gesetzt werden könnten. Die Bibelforscherbewegung sei in keiner Weise staatsfeindlich. Für ein Einschreiten auf Grund der VO des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat … sei daher keine Handhabe gegeben. Schließlich proklamiere auch der Nationalsozialismus die Religionsfreiheit. Mit diesen Einwendungen mussten sich die Gerichte auseinandersetzen.

Der Richter muss Klarheit über die weltanschaulichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen des neuen Reichs besitzen. … Bereits die erste grundsätzliche Entscheidung zum Verbot der IBV, ein Urteil des Reichsgerichts vom 23. Januar 1934 … läßt sie vermissen.

Ist die IBV Religionsgesellschaft - eine Frage, die das Reichsgericht in Ermanglung entsprechender tatsächlicher Feststellungen durch die Vorinstanzen unbeantwortet läßt-, so wäre ihr Verbot verfassungswidrig und darum rechtsungültig; denn die Bestimmung des Art. 137 Abs. II RV, die die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften gewährleistet, ist von dem Reichspräsidenten nicht außer Kraft gesetzt worden, gehört auch überhaupt nicht zu den Bestimmungen, zu deren Außerkraftsetzung der Art. 48 II des Reichspräsidenten ermächtigt.

Das Reichsgericht betrachtet die Weimarer Verfassung also als noch fortbestehend, vermeidet aber eine ausdrückliche Stellungnahme. …

Das Sondergericht Breslau verneint den Charakter der IBV als Religionsgesellschaft im Sinn von Art. 137 RV und erblickt in ihr lediglich einen religiösen Verein nach Maßgabe des durch die VO vom 28. Februar 1933 außer Kraft gesetzten Art. 124. Es hält das Verbot der Bibelforscher daher für rechtsbeständig. Das Sondergericht Darmstadt dagegen sieht in der IBV eine Religionsgesellschaft, die den Schutz des Art. 137 genieße. Es erklärt die gegen sie getroffenen Maßnahmen daher für rechtsungültig - ein Ergebnis, dass angesichts nicht erkannter Staatsfeindlichkeit der Bibelforscher mit aller Deutlichkeit zeigt, zu welchen praktischen politischen Konsequenzen eine Verkennung der grundlegenden verfassungstheoretischen Begriffe und der gegenwärtigen Verfassungslage durch die Rechtsprechung führen kann.

Die Bibelforscherbewegung hat sich die vorteilhafte Gelegenheit nicht entgehen lassen und das ihr günstige Urteil für ihre Propaganda ausgenutzt. So z. B. in dem Aufsatze: 'Verfolgungen in Deutschland' in der in Bern erscheinenden Bibelforscher-Zeitschrift 'Das Goldene Zeitalter', Nr. 281 vom 1. Juni 1934.

Die innere Rechtfertigung der Verfassung geht verloren, so bald sie aufhört, eine der Idee und Existenz des Volkes gemäße politische Ordnung zu sein. Sie wird dann von der Wirklichkeit des politischen Lebens widerlegt und geht ihren Geltungsanspruchs verlustig. Das ist auch das Schicksal der Weimarer Verfassung geworden. Demokratie, Parlamentarismus, Föderalismus und bürgerlicher Rechtsstaatsgedanke sind die tragenden Grundsätze dieser Verfassung gewesen. Sie machten ihre eigene politische Substanz aus. Mit der nationalsozialistischen Revolution sind diese Grundsätze einer neuen politischen Weltanschauung zur Durchsetzung gelangt, die jenem Gedanken aufs schärfste widersprechen. Die Elemente des völkischen Führerstaats sind an die Stelle der Grundsätze von Weimar getreten. Führerstaat und völkischer Gedanke haben die parlamentarische Demokratie, der Einheitsstaat hat den Parteienbundesstaat verdrängt. Die Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats haben dem Gedanken der Volksgemeinschaft weichen müssen. Die Weimarer Verfassung hat damit ihre Legitimität verloren. Mit Recht hat daher vor allem das Urteil des Sondergerichts Darmstadt verschiedentlich eine scharfe Kritik erfahren. … Die irrige Auffassung von der Fortgeltung der Weimarer Verfassung versperrt den Weg zur zutreffenden Lösung der hinsichtlich des Bibelforscherverbots auftauchenden verfassungsrechtlichen Fragen. …

Die Gemeinschaftswerte, die das staatliche Recht im Allgemeininteresse für wichtiger hält, genießen den Vorrang vor der Glaubensfreiheit. 'Staatsgesetz geht vor Religionsgebot', was auf Grund der allgemeinen Staatsgesetze als staatsfeindlich, ordnungswidrig, gemeinschädlich erscheint, kann sich nicht mit Hilfe des Mäntelchens religiöser Überzeugung behördlichen Zugriff entziehen. Die Bekenntnisfreiheit steht unter dem Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes. …

Auch im neuen Deutschland gibt es Religionsfreiheit. Die Bibelforscherprozesse gaben den Gerichten Gelegenheit, diese Tatsache nachdrücklichst zu unterstreichen. 'Das nationalsozialistische Deutschland' so stellt das Sondergericht Darmstadt mit Recht fest, 'hat die Religionsfreiheit nicht angetastet und gedenkt das auch, wie sich insbesondere aus den Worten des Führers und anderer maßgebender Männer ergibt, nicht zu tun. … Die Glaubensfreiheit beruht im heutigen Staat allerdings nicht auf der Weimarer Verfassung. Sie gründet in der Anerkennung der Bekenntnisfreiheit durch die nationalsozialistische Staatsidee … Deren Verhältnis zur Religionsfreiheit ist in Art 24 des Parteiprogramms zum Ausdruck gebracht worden.

Es wird Religionsfreiheit gewährleistet. Im Interesse der politischen Einheit kann diese Garantie keine schrankenlose sein. Die Freiheit des Bekenntnisses endigt an den Grenzen, die der Staat zugunsten anderer völkischer Werte zu ziehen genötigt ist. Die Gewährleistung der Religionsfreiheit erfolgt unter den Voraussetzungen und in den Schranken, die die Pflicht des Einzelnen der Volksgemeinschaft gegenüber bestimmen. Die Religionsausübung darf sich nicht in einer Weise auswirken, die den Bestand von Volk und Staat in Frage stellt. Bekenntnisse, die das völkische Gemeinschaftsleben gefährden, verlieren ihren religiösen Charakter und sind politische Äußerungsformen, die als staatsfeindliche entsprechende Behandlung zu gewärtigen haben. Wo hier die Grenzen zu ziehen sind, stellt der Staat fest. Er bestimmt Bereich und Inhalt der gewährleisteten Freiheit.

Staats-und volksgefährliche religiöse Korporationen können sich auf die Gewährleistung der religiösen Vereinigungsfreiheit nicht berufen.

Zu ihnen gehört die Bibelforscherbewegung. Ihre Lehre und deren praktische Durchführung gefährden den Bestand des Staats und die Einheit des Volks. Das die Bibelforscher offenbar aus einem tragischen Konflikt heraus handeln, indem sie auf Befehl Gottes zu handeln vermeinen, kann an dieser Kennzeichnung nichts ändern. Die Bibelforscher vermögen sich auf die Gewährleistung der Bekenntnisfreiheit und auf die Garantie der religiösen Vereinigungsfreiheit nicht zu berufen. Sie haben die diesen gezogenen Grenzen überschritten. … Nur wer einmal nach der nationalsozialistischen Erhebung im Ausland gewesen ist, kann sich eine Vorstellung von der entscheidenden Bedeutung machen, die die ausländische öffentliche Meinung dem Problem der Religionsfreiheit beimisst. Gerade anlässlich ihrer Auseinandersetzung mit dem Bibelforscherverbot hat die deutsche Rechtsprechung demgegenüber mit aller Klarheit den Fortbestand der Religionsfreiheit im Dritten Reich betont."

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