Der Paukenschlag

Die Bibelforscher waren in Deutschland in nennenswerter Zahl erst nach dem Ersten Weltkrieg in Erscheinung getreten. Furore machten sie insbesondere durch ihre 1925-Verkündigung und als zweiten Aspekt mittels ihres betonten Philosemitismus. Das waren zwar Thesen, die bei einem eng begrenzten Ausschnitt der deutschen Bevölkerung ein gewisses Maß von Aufmerksamkeit zu erringen vermochten - aber das war es dann auch schon. Öffentliche Aufmerksamkeit in weit größerem Maße erregten sie allerdings durch eine ganz andere These. Und die hatte die Überschrift: "Anklage gegen die Geistlichkeit". Am 26. 7. 1924 hatte Rutherford, auf einer Bibelforscherveranstaltung in den USA, in der Form einer "Resolution" jene These in die Welt gesetzt. Sie wurde danach noch verschiedentlich publiziert. So auch in dem 1926 erschienenen Rutherford-Buch "Befreiung". Dort auf den Seiten 212-218. Aus letzterer Ausgabe seien nachstehend mal einige Kernsätze zitiert: 

"Wir glauben und halten dafür, dass Gottes Zeit fällig ist, in der sein Missfallen gegen die bösen Systeme ausgesprochen werden soll, die das Volk blind gegen die Wahrheit gemacht haben und es dadurch des Friedens und der Hoffnung beraubten. …

Wir bringen vor und klagen an, dass Satan eine Verschwörung bildete, um das Volk in Unwissenheit zu halten über Gottes Vorkehrung, sie mit Leben, Freiheit und Glück zu segnen; und das andere, nämlich treulose Prediger, gewissenlose Kapitalisten und gewissenlose Politiker in besagte Verschwörung eingetreten sind, entweder absichtlich oder unabsichtlich.

Das treulose Prediger sich zu kirchlichen Systemen geformt haben, bestehend aus Konzilien, Synoden, Kollegien von Kirchenältesten, Verbänden usw., dass sie sich darin bezeichnet haben als Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Doktoren der Theologie, Pastoren, Hirten, Hochehrwürden usw., und sich zu solchen Ämtern gewählt haben, eine Ansammlung, die hierin als 'die Geistlichkeit' bezeichnet ist, und dass diese mit Vorsatz hohe Persönlichkeiten der Welt, Geldriesen und machtvolle Politiker, zu den 'Herrlichen ihrer Herde' gemacht haben. …

Die Herrlichkeit dieser Welt liebend und von dem Wunsche beseelt, vor Menschen zu glänzen und das Wohlgefallen von Menschen zu haben … hat sie sich in prächtige Gewänder gekleidet, sich mit Juwelen geschmückt und eine äußere Form der Frömmigkeit angenommen. …

Und da sie den Ehrgeiz hat, weise und groß zu scheinen, so hat sie, im Bundes mit ihren Mitverschworenen sich angemaßt, dass sie imstande sei, Gottes Königreich auf Erden ohne Gott aufzurichten und hat den Völkerbund gutgeheißen, und ein hervorragender Teil von ihr hat den Völkerbund als 'den politischen Ausdruck des Reichs Gottes auf Erden' proklamiert, womit sie ihre Untertanentreue zu dem Herrn Jesus Christus brach und ihre Treue zu dem Teufel, dem Gott des Bösen, erklärte. Die Geistlichen haben den Krieg befürwortet und dem Kriege ihre Zustimmung und Weihe gegeben; sie haben in einigen Ländern ihre Kirchenbauten zu Rekrutierungsstationen gemacht und als Rekrutierungsbeamte gehandelt und sich dafür bezahlen lassen; sie predigten die jungen Männer in die Schützengräben hinein, um dort zu leiden und zu sterben; und als der Herr ihnen den klaren und unbestreitbaren Beweis vorhielt, dass die alte Welt geendet hat und das sein Königreich herbeigekommen ist, da haben sie dies Zeugnis verhöhnt und verworfen, und sie verfolgten und verhafteten die Zeugen für den Herrn und ließen sie ins Gefängnis werfen.

Weiter bringen wir vor und klagen an … (sie) leugnen sogar die Inspiration der Schrift, lehren Evolution und lenken durch diese Mittel den Sinn des Volkes von Gott und seinem Worte der Wahrheit hinweg.

Dass sie gelehrt haben und noch lehren, dass die Könige kraft göttlichen Rechtes über die Völker herrschen, indem sie den Anspruch erheben, dass solche Herrschaft das Königreich Gottes auf Erden ist, und sie selbst und die 'Herrlichen ihrer Herde' von Gott beauftragt sind, die Politik und den Lauf der Nationen zu lenken; und dass das Volk, wenn es nicht in voller Unterwürfigkeit mit solchen Regierungsmaßregeln ist, unpatriotisch oder treulos ist. …

Das sie das Recht des Herrn, sein Königreich auf Erden aufzurichten, leugnen, obwohl sie wissen, dass Jesus lehrte, dass er am Ende der Welt wiederkommen würde, und dass das Eintreten dieser Zeit dadurch erkannt werden könnte, dass die Nationen des Christentums sich in einem Weltkriege bekämpfen würden … das während solcher Zeit der Gott des Himmels sein Königreich aufrichten würde, das ewiglich bestehen wird … dass die Geistlichen, indem sie diese klaren Wahrheiten und Beweise missachteten und sich weigerten, sie zu erwägen, willentlich in die Finsternis gegangen sind, mitsamt ihren Verbündeten, den Geldfürsten und Politikern; und das sie versucht haben, eine neue Weltmacht aufzurichten, um über das Volk zu herrschen und es in Unterwürfigkeit zu halten, was alles dem Worte Gottes entgegengesetzt ist …

Auf Grund der Autorität der Prophezeiung des Wortes Gottes, die jetzt erfüllt wird, erklären wir, dass dies der Tag des Zornes Gottes ist, der über das Christentum kommt; und dass er inmitten der mächtigen und herrschenden Gewalten der Welt steht, nämlich der Geistlichkeit und der Herrlichen ihrer Herde, um sie zu richten und um seinen gerechten Zorn gegen sie und ihre ungerechten Systeme und Lehren zum Ausdruck zu bringen. Wir erklären ferner, dass die einzige Hoffnung auf den Frieden und das Glück der Völker der Erde das Königreich des Messias ist, um welches Jesus seine Nachfolger beten lehrte. ...

Diese Tatsachen sind hier nicht aufgeführt um irgendwelche Menschen zu bespötteln, sondern um dem Volke Aufklärung darüber zu geben, dass die kirchlichen Systeme unter der Oberleitung und Kontrolle des Teufels sind, dass sie einen Teil seiner sichtbaren Regierung bilden, und deshalb den Antichristen ausmachen."

Mit dieser "Anklage…" hatte sich die Rutherford-Organisation nunmehr eindeutig als "Religion der kleinen Leute" profiliert. Neidvoll mussten die Kommunisten und die Freidenker registrieren, dass da unter "religiöser Fahne" noch jemand auf dem Territorium graste, dass sie eigentlich als das allein ihnen gehörende betrachteten.

Insbesondere aber die Kirchen, auch durch diese Resolution als soziologisch zum Bürgertum gehörend demaskiert, reagierten äußerst scharf. Im Bereich der evangelischen Kirche tat sich besonders das dortige Konsistorium von (Mecklenburg)-Pommern hervor. Dies geht auch aus den Akten der vormaligen Apologetischen Centrale hervor. Jene kirchliche Behörde versuchte als Speerspitze, auf gerichtlichem Wege, dem Paroli zu bieten. Man wird zu konstatieren haben, dass dies zu jener Zeit misslungen ist. In der Weimarer Republikzeit sahen sich die Richter noch veranlasst, das Recht der Meinungsfreiheit gewähren zu lassen (was sie ein Jahrzehnt später dann aber schnell wieder vergessen lernten).

Das die Bibelforscherorganisation damit in eindeutiger Opposition zu den Kirchen standen, ist offenkundig. Jedoch wird man hinzufügen müssen, dass es auch tiefere Ursachen gab. Die "Anklage…" war ein äußeres Fanal. Der Gegensatz zwischen Kirchen und Bibelforschern indes bestand schon länger. Er wird auch an einer Episode deutlich, die von Russell höchstpersönlich mal mitgeteilt wurde ("Der Wachtturm" 1924 S. 376, 377 ):

"Zu des Herrn Zeit wurde 'Tages-Anbruch' herausgegeben. Wir versuchten sodann alle möglichen Wege, dass Buch bekannt zu machen, wie z. B. dasselbe in christlichen Blättern anzuzeigen. Wir fanden aber, dass sobald man merkte, dass es Tages-Anbruch sei, die Annonce fallen gelassen und uns das Geld zurückgesandt wurde, dass wir zum voraus bezahlt hatten. Dann versuchten wir es mit anderen Blättern mit Angabe einer anderen Adresse als Allegheny, und wider mit gleichem Resultat.

Dann versuchten wir durch das größte christliche Büchergeschäft der Welt die Bücher zu verbreiten. Wir dachten, dass durch diese Firma die Bücher in allen Buchhandlungen des Landes untergebracht würden, wo sie gesehen und von den Leuten gekauft werden. Wir schlossen mit Revell & Co einen Kontrakt ab und sandten ihnen aufs erste 100 Exemplare des ersten Bandes. Bald darauf wurden uns die Bände genau so wieder zurück gesandt, ohne das auch ein einziger Band fehlte. Und dies war der Grund: Herr Revell hatte einige ausgelegt, zusammen mit anderen Büchern über die Wiederkunft Christi. Es kommt Major Whittle, Evangelist der Firma Whittle & Co, um sich die Bücher auf dem Ladentisch anzusehen, und da sieht er - Tages-Anbruch. 'Revell, sieh hier, was haben Sie denn da?' 'Nun, das ist Tages-Anbruch. Ich bin nicht beschränkt. Es kommen Leute herein, die es haben wollen, und warum das Buch nicht gerade so gut daliegen haben, wie das Ihrige?'

Darauf antwortete Major Whittle: 'Sieh hier, Revell, wenn Tages-Anbruch auf ihrem Büchertisch liegen bleibt, dann werden alle meine Bücher und diejenigen meiner Freunde, davon herunterkommen.' Das hieß Moodys Bücher usw. 'Oho', sagte Revell, 'wenn Sie so zu sprechen anfangen, dann müssen sie (Tages-Anbruch-Bände) natürlich herunter.' Und herunter kamen sie, zurück nach Allegheny."

ZurIndexseite

1926er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte