Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Nicht mit natürlichem Auge gesehen ... Es könnte sein ... Umschwung innerhalb eines Jahres

In der Februar-Ausgabe 1915 des "Wachtturms" findet sich auch ein ellenlanger Artikel, der zu den bis dato aufgelaufenen Erwartungen der Bibelforscherbewegung Stellung nimmt. Nachstehend sei aus ihm zitiert:

"Es kann sein, daß viel Kinder Gottes zum Anfang des jüdischen Jahres 1915, das mit dem 21. September 1914 begann, mehr erwartet haben, als sie hätten erwarten sollen. Das menschliche Gemüt scheint von Natur aus die Neigung zu haben, eine raschere Entwicklung der Dinge und eine plötzlichere Erfüllung der göttlichen Verheißungen zu erwarten, als man erwarten sollte; und wir sollten dieser Neigung gegenüber nachsichtig sein. Z. B. sagt uns die Schrift, daß um die Zeit des Ertönens der 'siebenten Posaune' gewisse Ereignisse ... anfangen werden stattzufinden. Viele Christen erwarten, wenn sie die Darlegung lesen, daß sich alles in wenigen Minuten oder Stunden, oder mindestens in wenigen Wochen erfüllen werde. Wenn wir aber dahin gelangen, daß wir die Schrift recht verstehen, so gewahren wir, daß die Zeit des Ertönens der 'siebenten Posaune' die tausend Jahre der Regierung Christi umfaßt.

Beim Nachforschen in dem Worte Gottes haben wir die 2520 Jahre oder sieben symbolischen Zeiten als im Jahre 606 v. Chr. anfangend gemessen; und wir haben gefunden, daß dieselben nach unserer genauesten Berechnung, zu der wir fähig waren, bis zum Oktober 1914 herab reichen. Wir überließen es jedem, die geschichtlichen Tatsachen festzustellen und selbst zu rechnen. Wir fragten uns; wird dieses Datum der richtige Zeitpunkt sein, oder ein anderes Datum? Viele von uns folgerten, soweit wir es zu erkennen vermochten, daß der Oktober des Jahres 1914 das Ende der Lehnsherrschaft der Nationen anzeigen würde; denn mit dem Oktober gelangten wir zum Ende des jüdischen Jahres. Das Jahr 1914 endete tatsächlich am 20. Oktober 1914 nach jüdischer Berechnungsweise.

Nun entsteht die Frage: Sind die Zeiten der Nationen zu Ende oder nicht? Einige möchten geneigt sein zu sagen: 'Nein, sie sind nicht zu Ende.' Manche sagen: 'Wenn die Zeiten der Nationen zu Ende sein sollten, so würden wir erwarten, daß die Nationen völlig aller Macht und Herrschaft entäußert sein würden und daß das Königreich Christi aufgerichtet sein würde.' - Gab es nicht mancherlei große Dinge, von denen wir annahmen, daß sie mit dem Ende der Zeiten der Nationen Platz greifen würden? Wir finden, daß einige diesen Gedanken, andere wieder einen andern Gedanken haben. Einige wähnen, daß gleich nach Mitternacht allenthalben eine große Veränderung Platz greifen würde, indem das Böse vielleicht innerhalb 60 Minuten oder 60 Sekunden ausgetilgt sein würde. Aber würde es vernünftig sein, zu erwarten, daß die Reiche der Nationen innerhalb einer Stunde oder eines Tages vergehen würden? Hätte Gott dies gesagt, so würde es also sein; denn wir wissen, daß Gott die Macht hat, seinen Willen in jeder Weise zur Ausführung zu bringen. Aber haben wir in irgendeinem Sinne des Wortes eine solche plötzliche Veränderung zu erwarten - daß wir am Abend des 20. September, wenn wir uns zu Bett begeben, erwarten dürften, daß am Morgen des 21. September alle Königreiche der Welt vernichtet, das Königreich Christi aufgerichtet und die Heiligen verherrlicht sein würden? Das würde eine blitzartige Veränderung sein! Wir glauben nicht, daß irgend jemand zu solchen Erwartungen berechtigt ist; wenigstens hat niemand eine Gewähr dafür, daß solche Erwartungen ihre Erfüllung finden.

Wir haben alle von der großen 'Miller'-Bewegung gelesen, die in Amerika einsetzte. (Siehe Schriftstudien, Band 3, Seite 78). Wir unterschreiben die Lehren von William Miller nicht. Wiewohl er einige richtige Gedanken aus der Schrift hatte, hatte er auch unrichtige, wie Johann Kalvin und andere Brüder seit seinen Tagen. Aber die Zeit für die Aufrichtung des Zweiten Kommens Christi war gekommen; und obschon das Zweite Kommen nicht im Jahre 1844 stattfand, wie die Anhänger Millers erwartet hatten, so wurden doch, anfangend um das Jahr 1829, der Kirche gewisse Lehren vor Augen gestellt, die diese vordem nie beachtet hatte, z. B. gewisse Lehren in bezug auf die Unsterblichkeit des Menschen, den Unterschied zwischen geistigen und menschlichen Naturen usw. Diese Lehren führten dazu, daß die Schrift sorgfältig erforscht wurde und daß man zu dem Worte Gottes vertrauen gewann, ungeachtet der Überlieferungen von Menschen.

Unser Herr wies darauf hin, daß alle seine Knechte, die sich bei seinem zweiten Kommen in der rechten Herzensverfassung befänden, sein Anklopfen hören würden und daß er, wenn sie ihm sogleich aufmachten, zu ihnen eingehen und mit ihnen das Abendmahl halten würde ... Als das Jahr 1875 kam, wurde da alles innerhalb 24 Stunden vollbracht? Gewiß nicht! Erwachten alle Nachfolger des Herrn zur gleichen Minute? Sind sie nicht vielmehr nach und nach im Verlauf der ganzen Erntezeit aufgewacht? Einige von uns sogar erst vor kurzem aufgewacht ...

Auf Grund des Zeugnisses des Wortes Gottes verstehen wir, daß die Auferstehung im Jahre 1878 begann. Wir haben dieses Ereignis nicht mit unsern natürlichen Augen gesehen, sondern wir haben mit den Augen unsers Verständnisses wahrgenommen, daß die Zeit für das große Ereignis, die Erste Auferstehung, soweit die bis dahin entschlafenen Heiligen in Betracht kamen, gekommen war. Und wir sind der Ansicht, daß damals die Zeit begann, von der in der Offenbarung geschrieben steht: 'Glückselig die Toten, die in dem Herrn sterben, von nun an! Ja, spricht der Geist, auf daß sie ruhen von ihren Mühen, denn ihre Werke folgen mit ihnen.' (Off. 14, 13) Aus diesen Worten geht hervor, daß der Tod für diejenigen, die dem Herrn sterben, von einem bestimmten Zeitpunkte an eine Segnung mit sich bringen würde, vor dem Zeitpunkte dagegen nicht.

Dieser besondere Zeitpunkt kam, wie wir glauben, im Jahre 1878. Damals wurden nicht nur die Apostel auferweckt, sondern alle Getreuen in Christo Jesu, alle schlafenden Glieder des Leibes Christi. Das war der Anfang der Auferstehung des Leibes Christi; denn der Herr richtet sein Volk zuerst, bevor das Gericht der Welt kommt. Er hatte gesagt, daß er nach seiner Wiederkunft zuerst seine eigenen Knechte (nicht die Welt) rufen und mit ihnen abrechnen würde, indem er den Gliedern seiner Herauswahl, die schon vor der Zeit ihren Lauf vollendet haben würden, den Lohn geben würde, nämlich einen Anteil an der Ersten Auferstehung. Sobald dies geschehen ist, wird sich der Herr nach den Worten des Apostels Paulus mit uns, 'die wir leben und übrig bleiben', befassen; und jeder von uns, der dem Herrn völlig angehört, wird bei seinem Tode 'verwandelt in einem Nu, in einem Augenblick', während des Erschallens der letzten, der 'siebenten Posaune.'

Wir leben jetzt in der Zeit des Erschallens dieser letzten, großen Posaune Gottes. Zwar hören wir den Schall nicht mit unsern natürlichen Ohren; aber wir hören mit den Ohren des Verständnisses, daß Gottes Zeit jetzt gekommen ist und daß die große Vorkehrung, die Gott für die Zukunft getroffen hat, jetzt anfängt eingeführt zu werden.

Die nächste prophetische Periode ist die Zeit der Drangsal. Sie begann vielleicht in einem Sinne des Wortes um das Jahr 1872. Das war die Zeit, da der Kommunismus anfing von neuem gepredigt zu werden und da der Sozialismus anfing sich auszubreiten. Wir glauben, daß viele als Sozialisten gelten, die es in Wahrheit nicht sind, es aber unter entsprechenden Umständen und Verhältnissen, wie sie sich wahrscheinlich vor dem Jahre 1916 entwickeln werden, werden können. Die Hoffnungen und Methoden der Sozialisten werden fehlschlagen, und die Enttäuschung, die darob entsteht, wird in die große Drangsal auslaufen. Inzwischen hatte man sich auch allmählich für einen Krieg gerüstet. Während man im Jahre 1872 bei der Genfer Friedenskonferenz nach außen hin proklamierte, daß alle Nationen zusammenstehen und eine friedliche Beilegung aller Schwierigkeiten anstreben sollten, und während man seitdem 'Friede! Friede!' rief, haben nichtsdestoweniger alle Nationen der Welt fortgefahren, große Kriegsschiffe zu bauen und ihre Heere zu vergrößern.

Wir wollen nicht weiter auf Einzelheiten eingehen. Wir wollen lediglich den Gedanken ausdrücken, daß die Erfüllung der Prophezeiungen nicht plötzlich stattfinden, sondern allmählich, indem sie eine bestimmte Zeit des Anfangs hatten und allmählich, aber mit Sicherheit, ihrer Erfüllung entgegengingen. Was sollten wir angesichts dieser Lektion, die die Vergangenheit uns gab, hinsichtlich der Zukunft denken?

Wir sollten die Schlußfolgerung ziehen, daß die Entwicklung der Dinge, die wir erwarten, nicht innerhalb einer Minute, einer Stunde oder eines Tages stattfinden werde, sondern allmählich. Die betrachteten Tatsachen berechtigen uns zu der Erwartung, daß die noch übrigen prophetischen Zeitperioden in ähnlicher Weise erfüllt werden und daß wahrscheinlich der 20. September des Jahres 1914 das Ende der Zeiten der Nationen bezeichnete. Wenn dem so ist, so bilden die kriegerischen Verwicklungen, in denen sich heute die Nationen befinden, den Anfang des Endes. Das, was wir jetzt sehen, ist genau das, was wir zu erwarten haben. Offenbar steht hinter allem der Herr; und sein Königreich wird mehr und mehr offenbar werden. Indes wird dasselbe nicht eher völlig offenbar werden als bis die Herauswahl sich mit ihrem Herrn in der Herrlichkeit befindet. 'Wenn dem Christus, unser Leben geoffenbart wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit.'

Sollten wir erwarten, daß der Herr sich zu genau dem Zeitpunkt offenbaren wird, an dem die Zeiten der Nationen enden? Nein. Die Bibel bezeugt, daß er 'in flammendem Feuer' offenbar werden wird. Wir wissen nicht genau, wie lange es nach dem Abschluß der Zeiten der Nationen dauern wird, bis die Offenbarung des Herrn 'in flammendem Feuer' stattfindet. ...

Wenn das Erntewerk während der Gegenwart (parusia) unseres Herrn ein allmähliches, einen Zeitraum von vierzig Jahren umfassendes Werk gewesen ist, auslaufend in die gegenwärtige Zeit, und wenn die Endzeit eine ausgedehnte Zeitperiode bildet, wie lang wird dann die Zeitperiode sein, in der die gegenwärtigen Einrichtungen und die gegenwärtige Ordnung der Dinge verurteilt und hinweggetan werden, um der Herrschaft der Gerechtigkeit Platz zu machen? Wir antworten, daß wir angesichts solcher Bilder erwarten dürfen, daß der Übergang allmählich, innerhalb einer Reihe von Jahren stattfinden wird.

Es könnte sein, daß 5, 10 oder auch 20 Jahre dahingehen. Aber anderseits gibt es Anhaltspunkte, die uns die Erwartung nahe legen, daß der Übergang nicht sehr lange dauern wird. Der Herr hat uns gesagt, daß er 'eine abgekürzte Sache' tun wird. Wir sind hinsichtlich dessen, wie lang die Zeit sein wird, lediglich auf Vermutungen angewiesen. Ein jeder mag darüber seine eigene Ansicht haben. Der Herr redet an einer Stelle davon, daß das Ende 'in einer Stunde' kommen werde, und an einer andern Stelle, daß die zu erwartenden Dinge 'an einem Tage' eintreten werden; und der Apostel vergleicht die kommenden Dinge mit den 'Wehen, die plötzlich über eine Schwangere hereinbrechen.'

Wir glauben, daß der Krieg die Nationen derart schwächen wird, daß nach denselben das Volk die Durchführung sozialistischer Ideen anstreben wird. Natürlich werden die an dem Fortbestand der gegenwärtigen Ordnung interessierten Klassen dem Volke entgegentreten; und es wird sich eine Drangsal entwickeln, die große Umwälzungen im Gefolge haben wird. Sollen Gottes Kinder an diesem Kampfe teilnehmen? Nein! Laßt uns stets daran denken, daß wir Friedensstifter sind! Nicht nur sind wir selbst friedliebend und möchten wir selbst mit allen Menschen in Frieden leben; sondern wir sollen auch den Frieden zu fördern trachten und andern behilflich sein, die Dinge in ihrer richtigen Gestalt zu sehen. Damit arbeiten wir zwar dem Umsturze entgegen, jedoch ohne fähig zu sein, ihn aufzuhalten.

Der 21. September 1914 brachte keinerlei große Veränderungen; aber er war bereits Zeuge von dem Zorn und dem Kriegsfieber, das alle Nationen ergriffen hat. Wir betreten gewissermaßen gefährlichen Boden, wenn wir auch nur die Möglichkeit annehmen, daß während des jetzt angefangenen Jahres ein solcher Aufstand der Nationen stattfindet und von seiten der Könige und Fürsten, sowie der politischen und industriellen Machthaber der Versuch gemacht wird, unter allen Umständen die Dinge im alten Gleise zu halten, zu welchem Zwecke diese möglicherweise die Kirche zur Hilfe anrufen, um durch sie, wenn möglich, die neue Ordnung der Dinge zurückzuerhalten. Ob die Dinge sich innerhalb dieses Jahres abwickeln werden oder zu ihrer Abwicklung einer längeren Zeitperiode bedürfen, ist im Grunde gleich. Wir glauben auf Grund der Bibel, daß die Dinge sich in dieser Richtung entwickeln werden.

Wenn die Kirchen-Systeme dem Rufe um Hilfe Folge leisten und dementsprechend ihren Einfluß geltend machen werden, so wird man über alle diejenigen, die für den Vorsatz Gottes eintreten, übel reden und übel denken, obwohl sie doch die besten Freunde der Welt und der ganzen menschlichen Familie sind, wie der Herr selbst es war.

Wir halten den Standpunkt der amerikanischen Regierung, die in dem gegenwärtigen Kriege für keine Nation Partei ergreift, für sehr weise. Denn wenn die Vereinigten Staaten sich auf die Seite irgendeiner Nation stellen würden, würden sie damit der Anarchie Vorschub leisten. Wir sind der Ansicht, daß alle religiös gesinnten Leute alles tun sollten, was ihnen möglich ist, um den Geist der Anarchie zu unterdrücken, obwohl die Anarchie zuletzt doch nicht aufzuhalten sein wird.

1915er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

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