Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Joseph Wilting

Es erschien zuerst in Norwegen. Nunmehr liegt es auch in einer deutschen Übersetzung vor. Das Buch von Joseph Wilting : "Das Reich, das nicht kam. 40 Jahre hinter der prächtigen Fassade der Zeugen Jehovas". ISBN 3-934601-01-4 281 Seiten 17, 50 Euro.

Er sagt im Rückblick an einer Stelle seines Buches (S. 148) und dies wird man wohl als seine Kernaussage ansehen dürfen: "Die Glanzbilder von lächelnden und glücklichen Menschen, die ich ständig in allen Büchern und Blättern sah, stimmen nicht mit der Wirklichkeit überein. Hinter vielen lächelnden Fassaden der Zeugen Jehovas versteckt sich ein Pokergesicht."

In der Tat, ein bedenkenswerter Satz. Aber auch Wilting bringt es in Nebensätzen zum Ausdruck, dass er sich durchaus nicht so sicher ist, ob er in anderen Religionsgemeinschaften nicht ähnlich frustrierenden Erfahrungen begegnen würde. - Auch ein bedenkenswerter Satz.

Sein "Lebensschicksal" hat ihn in die Reihen der Zeugen Jehovas geführt. Er gehört der ersten Generation an, dass heißt seine Eltern waren nicht bereits Bibelforscher/Zeugen Jehovas. Wer sich für "Aussteigermentalitäten" von den Zeugen Jehovas interessiert, der kann feststellen, dass der Anteil der "zweiten Generationen" unter den Aussteigern, dass heißt der Kinder von Zeugen Jehovas, doch verhältnismäßig größer ist. Dies wird unter anderem auch durch die auch in Deutschland zum Thema vorliegenden Diplomarbeiten belegt.

So unterschiedlich wie die einzelnen Lebensschicksale auch sind. In der Regel sind Aussteiger aus der zweiten Generation nicht unbedingt 4 Jahrzehnte aktiv bei den Zeugen dabei, bevor sie den Absprung schaffen. Aber auch bei der "zweiten Generation" sind schon nicht selten, in Jahrzehnten zu bemessende Zeitspannen des aktiven Zeugendaseins zu registrieren.

Also um noch einmal auf die in Nebensätzen auch bei Wilting anzutreffende Frage zurückzukommen, ob er anderorts nicht ebenfalls anstelle des Regens nur die Traufe vorfinden würde. Ein bedeutsamer Unterschied besteht diesbezüglich doch. Ihn möchte ich auch mit einem Zitat von Wilting belegen. So schreibt er beispielsweise:

"Mehrere Jahrzehnte habe ich ein Doppelleben geführt, mit bis zu 30 - 40 Stunden Arbeit pro Woche in der Stellung als Ältester und vorsitzender Aufseher zusätzlich zu meiner normalen Arbeit." (S. 162). Er belegt die darin enthaltene indirekte Kritik an diesem ungewöhnlichen Ausbeutungsmechanismus an anderer Stelle auch noch mit einer Aussage, in der er auf seine persönlichen Familienverhältnisse bezug nimmt:

"Nach der Geburt der beiden Kleinsten wurde ich von einem Kreisaufseher direkt kritisiert und er sagte, ich sei mir doch völlig klar darüber, dass es unklug sei, jetzt kurz vor Harmagedon Kinder in die Welt zu setzen und dass dies von der Wachtturmgesellschaft nicht empfohlen sei. Zu diesem Zeitpunkt war ich vorsitzführender Aufseher und er meinte, ich sei ein schlechtes Vorbild für die Versammlungsmitglieder.

Wie willst du deinen Verpflichtungen in der Versammlung nachkommen können? wollte er wissen. … Mir kam zum Bewusstsein, dass Brooklyn meine besten Lebensjahre ausgenutzt und meiner Frau und meinen Kindern Zeit und Kräfte geraubt hatte, die eigentlich ihnen zustanden. … Das Schlimmste war, dass die Kinder darunter leiden mussten, dass sie zu wenig Aufmerksamkeit bekamen. Die Wachtturmgesellschaft verlangte, als erste angebetet zu werden, und wenn wir ihr alles geopfert hatten, waren wir in der Regel zu müde, den Kindern und eventuellen anderen Familienmitgliedern das zu geben, worauf sie Anspruch hatten" (S: 70, 71). Auch ein bedenkenswerter Satz.

Die schlangengleichen Strategen der Wachtturmgesellschaft wollen die Wirklichkeit nicht aus dieser Sicht wahrnehmen. Ihnen muss geantwortet werden, dass allen Schönrednern zum Trotz, mögen sie von G., Y., B. oder sonstwie heißen, dies der kardinale Kritikpunkt ist. Die übermäßige und unzulässige Vereinnahmung für die egoistischen Interessen der WTG. Solange es hier keine wirklich gravierenden Veränderungen gibt, wird aller Kosmetik zum Trotz, auch noch in der Zukunft der Fakt zu registrieren sein, dass es Menschen gibt, die "erst" nach 40 Jahren ihre Abrechnung mit der WTG zu Papier bringen. Ich bin mir sicher, Wilting war diesbezüglich nicht der "letzte".

Auch ansonsten hat Wilting einige interessante Beobachtungen zu Papier gebracht, die von der Sache her nicht neu sind. Aber dennoch ist es nicht uninteressant zu registrieren, dass auch ihm jene Aspekte ins Auge gestoßen sind.

Schon bei seiner ältesten Tochter musste er die Tragödie mitmachen, dass sie auch in die Ausschlussmaschinerie der Zeugen Jehovas geriet. Er beschreibt, dass dies in seinem individuellen Erfahrungshorizont kein "Einzelfall" war. Auch die entwürdigenden Wiederaufnahmeversuche der Betroffenen bringt er zu Papier. Er verschweigt auch nicht, dass diese Sachlage für einige solch traumatischen Auswirkungen hatten, die bis zum versuchten Suizid gingen.

Schon fast banal mutet für unsereins seine Aussage an (dennoch sei sie auch zitiert):

"Wenn die Gesellschaft uns jetzt die Schuld gab, ihre Artikel über 1975 falsch gedeutet zu haben, betrachte ich sie als Lügnerin und Heuchlerin" (S. 94). Wilting ist auch ein aufmerksamer Beobachter des bei den Zeugen Jehovas vielfach zu beobachtenden Phänomens der Frühehen. Er arbeitet heraus, dass ihre überspannte Sexualethik diesen Faktor geradezu befördert.

Wenn denn die spätere Ernüchterung der Betroffenen kommt, dann fragt man sich nur eines, mit welchem Recht nehmen eigentlich Jehovas Zeugen für sich in Anspruch, dass ihre Ehe "glücklicher" wären als andernorts?

Eine Frage möchte ich an die Wachtturmgesellschaft noch zum Schluss dieses Berichtes stellen. Ich schätze deren Strategen durchaus nicht als dumm ein. An die Thesen ihrer Altvorderen glauben sie selbst ohnehin nicht mehr. Es geht ihnen heute primär darum ihren Laden weiter am "laufen zu halten". In diesem Kontext dürfte ihnen doch auch klar sein, dass ein wesentlicher Faktor, der Menschen noch bei der Stange ihrer Organisation hält, dass engere soziologische Gefüge (im Vergleich zu den Großkirchen beispielsweise) ist.

Ich würde gar den Vergleich wählen: So wie die Mitglieder eines Kegelklubs "Stein und Bein" auf ihren Verein schwören und dafür auch schon mal bereit sind einen monatlichen Obolus "abzudrücken". So verhält es sich von der Psyche her auch bei den Zeugen Jehovas. Nur, dass sie eben durch bestimmte Umstände nicht in einem Kegelklub gelandet sind, sondern eben in der Religionsgemeinschaft. Dies ist die These und ich bin mir sicher, dass die Brooklyner Strategen im Unterbewusstsein sich auch darüber im klaren sind.

Nun aber frage ich: Wie steht in diesem Kontext die Erfahrung von Wilting, die er auf der Seite 100, 101 wiedergibt? Ich will gleich im voraus die Antwort darauf geben. Sie ist auch ein Ausdruck des grenzenlosen, extrem überspannten Egoismus der Brooklyner Strategen. Kommen sie hier zu keiner Reform, werden die Zeugen Jehovas auch zukünftig das Paradebeispiel des religiösen Totalitarismus sein und bleiben. Damit möchte ich meinen Bericht schließen und zitiere abschließend nur noch die anvisierte Wilting'sche Episodenbeschreibung. Er notiert:

"Ab und zu organisierte ich eine Fahrt mit der Versammlung, z. B. in einen Vergnügungspark, oder wir unternahmen einen Museumsbesuch. Wir kamen zu einer gemeinsamen Bootsfahrt zusammen oder wir trafen uns um Fußball zu spielen oder zu anderen Freizeitaktivitäten.

Hierdurch war ich wieder ins Fettnäpfchen getreten. Die Gesellschaft hatte solche Treffen nicht empfohlen, sie hatte ganz einfach keine Vorschriften für Extratreffen im Königreichssaal, ganz im Gegenteil. Solche Unternehmen würden der Verkündigungsarbeit schaden. Man räsonierte nämlich bei der Leitung so, dass man ja auf einem Tivoli keine Schriften und Bücher verkaufen könne und zu solch einer Aktivität könne man daher nicht ermuntern. Die Gesellschaft schickte mir daher eine Ermahnung und gab klar und unzweideutig Order, es sei mir nicht erlaubt, andere Treffen als die von der Wachtturmgesellschaft festgesetzten, zu organisieren."



Gelesen im Buch von Joseph Wilting:

Begraben

Hierzulande denkt man wenn das Thema 1975 angesprochen wird, beispielsweise an Konrad Franke als einem diesbezüglichen Scharfmacher. Indes das "auspressen der Zitrone bis zum allerletzten Tropfen" hat bei der WTG System. Einen diesbezüglichen Bericht kann man auch aus dem Buch von Joseph Wilting "Das Reich, das nicht kam" entnehmen. Letzterer berichtet:

"1975 war ich bei einem Treffen der Zeugen Jehovas in den Niederlanden, auf dem der niederländische Koordinator der Wachtturmgesellschaft, Rob Engelkamp, eine feurige Rede über das nahe bevorstehende Ende hielt, das man für 1975 erwartete. Lassen Sie mich hier wiedergeben, was er auf diesem Treffen in Utrecht sagte:
'Der treue und verständige Sklave, Gottes Kanal in Brooklyn, fragt: Ist es möglich, 4 1/2 Millionen Menschen auf unserem Treffen im September (1975) zu versammeln, die alle die Zeit der großen Bedrängnis überstehen sollen ? Ist es das, was wir alle wünschen, Brüder und Schwestern ? (großer Applaus)...
Wer weiß, was die bevorstehenden Wochen und Monate uns bringen werden! Wenn Gottes sichtbare Organisation eine Einladung an 4,5 Millionen Menschen richtet und sie direkt fragt: »Wie wird es dir gehen, wenn du vor Gottes Thron stehst?« Fang an, etwas zu tun! Und wenn wir soweit gekommen sind, dass wir das verstehen, ja, dann verkaufst du alles, was du hast und dann kannst du sagen: Kann ich denn von den Zinsen meiner Bankeinlagen leben ? Wie lange kann ich das machen ? So lange ? Fort mit dem Schrott! Fang an, als Pionier zu arbeiten! (unterbrochen von gewaltigem Applaus).'

Auf diese Weise wurden wir alle stimuliert und angefeuert, dem Ende des Jahres 1975 entgegenzusehen. Ohne Ausnahme sollten wir alle hart arbeiten und viel Literatur verteilen. Rob Engelkamp fuhr fort:
"Wir müssen alle zusammen, Brüder und Schwestern, weiterhin den Verkauf der Hefte Wachtturm und Erwachet! steigern. Wir müssen uns entschließen, in der Versammlung eine feste Quote zu bestellen. Entscheidet euch: Ich will in diesen letzten Monaten, um diese absterbenden Dinge zu ordnen, die Menschen mit Wachtturmliteratur begraben! (Riesiger Beifall)"

 

Wie schmeckt der Hut?

"Es wurde mir schwarz vor den Augen, da ich viele leitende Personen kannte, die anderen verkündet hatten dass 1975 das Ende der alten Welt gekommen sei. Nun war ich Zeuge, wie dieselben leitenden Personen andere zurechtwiesen, die in gutem Glauben das verkündet hatten, was in den Büchern und Blättern des Wachtturms gestanden hatte. Diese armen Kerle hatten ebenso wie ich nur das wiedergegeben, was sie gelernt hatten. Ich verlor nicht nur den Glauben an den 'Großen Bruder' in Brooklyn, sondern auch an einige hundert Älteste und andere Leiter in der Organisation.

Ein reisender Kreisaufseher war so sicher dass das Ende 1975 kommen würde, dass er versprach, seinen Hut zu verspeisen, sollte es nicht eintreten, aber nachher wies er die gewöhnlichen Verkündiger zurecht, die an die Prophezeiungen des Wachtturms geglaubt hatten. Ich hoffe, der Hut schmeckte ihm - falls der Ausspruch nicht ein Teil der theokratischen Kriegsführung war.

Ein anderer reisender Kreisaufseher wollte die Bibel wegwerfen, wenn Harmagedon nicht 1975 käme. Da er seitdem sicher weiterhin eine Bibel benötigt, hoffe ich, dass die Wachtturmgesellschaft ihm eine neue spendiert hat. Ich wurde von Abscheu vor dem heuchlerischen Benehmen der meisten leitenden Personen in der Organisation erfüllt. Sie veränderten ihre Farbe wie ein Chamäleon auf einem Baum. Sie richteten sich danach, wie der Wind des treuen und verständigen Sklaven in Brooklyn blies. Sie waren feige und wagten nicht, ihre echten Gefühle zu zeigen. Sie versteckten sich hinter den verschiedenen Klischees der Wachtturmgesellschaft, wie: »Warte auf Jehova« und »Wenn auch 1975 falsch war, so hatte Jehova damit sicher eine Absicht.«

Der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte

Gemäß eigener Aussage, erlitt Joseph Wilting auch einen Nervenzusammenbruch, der zur Folge hatte, drei Wochen lang in einer psychiatrischen Klinik eingeliefert worden zu sein, mit nachfolgender noch ambulanter Behandlung. Als treuer Zeuge Jehovas, wie er sich selbst so sah, versuchte er den ihn behandelnden Therapeuten zu erzählen. Das alles seien wohl die Nachwirkungen jener schrecklichen Geschehnisse, die er als Jugendlicher im zweiten Weltkrieg erlebt hatte, und die nun quasi mit Jahrzehnte Verspätung, traumatisch wieder an die Oberfläche gekommen seien. So recht wohl war ihm bei dieser Legende nicht; denn in seinem Innersten musste er sich selbst Rechenschaft darüber ablegen; die eigentliche Ursache seines Traumas heißt Zeugen Jehovas-Religion.
Aber es kann eben nicht sein, was nicht sein darf.

Als Hintergrund des vorstehendem mag man auch auf jene Erfahrungen hinweisen, die er im Zusammenhang mit seiner Tochter Ingrid sammeln musste. Über letztere berichtet er:
"Ingrid, das älteste unserer vier Kinder, begann schon als Teenager an der Lehre der Zeugen Jehovas zu zweifeln. Sie war in der Schule sehr fleißig und wollte immer ihr Bestes geben. Diese Einstellung hatte sie auch, was den Dienst für Jehova betraf. Sie versuchte immer, den hohen Ansprüchen und Erwartungen, welche die Organisation an die Mitglieder stellte, zu entsprechen. Wir hatten unsere Kinder immer mit Hilfe der Wachtturmliteratur unterrichtet, in deren Büchern eindeutig erklärt wurde, dass Kinder und Jugendliche, die nicht von Haus zu Haus gingen, in Harmagedon sterben würden. Das hört sich vielleicht brutal an, aber es ist so. Sogar in den Büchern für die Allerkleinsten steht das Gleiche. Verkünde, mach es so, wie der Wachtturm sagt - oder stirb!

Ingrid versuchte es, aber sie schaffte es nicht. Sie erkrankte an anorexia nervosa. Sie überwarf sich mit der Versammlung. Das macht man nicht ungestraft unter Jehovas liebevollen Leuten. Sie zog sich daher freiwillig aus der Versammlung zurück und wurde selbstverständlich so behandelt, als wäre sie ausgeschlossen worden. Sie wohnte, zu dieser Zeit in den Niederlanden und begann, frustriert wie sie war, ein ausschweifendes Leben zu führen, was ihre Gesundheit noch mehr verschlechterte. Sie hatte keine Freunde mehr. Die Versammlung und die über 50 Verwandten betrachteten sie als gestorben.

Einige frühere Freunde und die Verwandten wohnten nur wenige Minuten zu Fuß entfernt von ihr, aber sie waren für sie keine Hilfe. Die Ausgeschlossenen soll man hassen und ihnen Verachtung zeigen. Es spielte keine Rolle, dass sie nicht ausgeschlossen worden war, sondern sich selbst von der Versammlung zurückgezogen hatte. Niemand war interessiert daran, wie die Sache von ihrer Seite aus aussah, Brooklyn's Propheten hatten gesprochen. Brooklyn's Wort ist Gesetz und dies war Brooklyn's Befehl.

Die Einsamkeit wurde für sie immer unerträglicher. Obwohl Ingrid von der Versammlung als Ausgeschlossene betrachtet wurde, entschloss sie sich, einen Kreiskongress zu besuchen, wohl wissend, dass ein großer Teil ihrer Vettern, Kusinen, Onkel und Tanten anwesend sein würde. Wenn sie auf Trost oder menschlichen Kontakt oder zumindest auf ein kleines Zeichen, dass sich jemand trotz allem um sie bemühte, gehofft hatte, so wurde die Hoffnung schnell zunichte. Niemand von ihnen grüßte. Niemand zeigte irgend einen Ausdruck Freundlichkeit. Niemand gab zumindest einen freundlichen Blick oder Wink. Für sie existierte Ingrid nicht mehr.

Man kann es nicht fassen, dass eine Organisation ihre Mitglieder so beeinflussen kann, dass sie bei solch einer bösartigen und vernichtenden Politik mitmachen. Ingrid fuhr verzweifelt mit sorgenvollem Herzen nach Hause. Sie hatte in ihrer stillen Art auf ein kleines Zeichen von Mitgefühl gehofft, doch vergebens. Danach hatte sie keine Lust mehr, zu leben und unternahm innerhalb kurzer Zeit drei Selbstmordversuche. Einer dieser Versuche geschah einige Tage, nachdem sie von dem Kreistreffen nach Hause gekommen war und war das unmittelbare Resultat der christlichen Liebe der Zeugen Jehovas. Sie verbrachte ein ganzes Jahr in einem psychiatrischen Krankenhaus. In diesem Krankenhaus befanden sich auch noch andere Zeugen Jehovas, ein deutliches Zeichen dafür, dass es im geistigen Paradies Probleme gab.

Im Laufe dieses Jahres besuchten außer Jellie und mir sie niemand von den Verwandten. Für die übrigen Verwandten, die alle Zeugen Jehovas waren, war sie schon tot. Heute bin ich sehr dankbar, dass ich damals nicht die Politik der Wachtturmgesellschaft auf diesem Gebiet akzeptierte. Ingrid war meine Tochter, ich schaffte es ganz einfach nicht, sie als tot zu betrachten. Sie war trotz allem unsere eigene Tochter und irgendwo musste es ja Grenzen geben!

Als Ingrid aus dem Krankenhaus heimkam, machte ihr das Einsamkeitsgefühl immer noch zu schaffen. Sie beschloss, die Versammlung zu ersuchen, sie wieder als Mitglied aufzunehmen, da sie es nicht vermochte, auf diese Weise weiterzuleben. Völlig allein in der Welt, ohne Freunde und Verwandte, ohne jeden Umgang, ohne jemanden, mit dem man sprechen konnte; das war ganz einfach zu hart für sie. Doch erst jetzt erhielt sie den härtesten Schock. Viele Zeugen Jehovas und alle Verwandten wurden plötzlich ungewöhnlich freundlich, selbst die weit entfernt wohnenden schrieben und telefonierten. Sie hatte den Forderungen der Wachtturmgesellschaft nachgegeben, obwohl sie in ihrem Inneren nicht mit der Lehre des Wachtturms übereinstimmte.

Wie war es möglich, die Freundschaft zurückzuerhalten, nur weil man als Bittsteller zu einem aus drei Männern bestehenden richterlichen Komitee gekrochen kam? Welche Art von Freundschaft und Liebe war das? Wer kann sich von einer Freundschaft und Liebe angezogen fühlen, die von Brooklyn dirigiert wird?

Wieder unternahm sie einen Selbstmordversuch und fast wäre er ihr gelungen. Als sie nach vielen Stunden im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein kam, sagte der Arzt: »Es ist unfassbar, dass du es geschafft hast, du musst einen Schutzengel gehabt haben«.
Als ich alles dies mit unserer Tochter erlebte, überkam mich eine Verzweiflung, die ich eigentlich nicht mit Worten beschreiben kann. Ich würde es gerne tun, aber ich schaffe es nicht. Die Hoffnung, welche die Lehre der Zeugen Jehovas uns gab, brachte uns in dieser Situation weder Linderung noch Trost. In der Versammlung geschahen Dinge, die mir unbegreiflich waren. Gott ließ mich das wahre Antlitz der Organisation sehen, aber damals begriff ich nicht, was ich eigentlich sah. Meine jahrelangen Gebete um Hilfe wurden erhört, aber nicht auf die Weise, wie ich es gedacht hatte. Es waren die guten Dinge in der Organisation, an die ich mich geklammert hatte, aber jetzt wurde das Böse so offenkundig, dass ich es nicht mehr länger übersehen konnte."

Immerhin hatten die vorgenannten drei Wochen Zwangspause vom permanenten Streß als Ältester, doch ihre Eigendynamik entwickelt. Wilting hatte zumindest für diese drei Wochen Zeit, die Geschehnisse Revue passieren zu lassen. Und bei diesem Nachdenken ohne äußeren Stress, wandelte er sich faktisch. Er befand sich nun in einer ähnlichen Situation, die der Schriftsteller Stefan Heym in seinem Roman "Der König David Bericht", in eine Parabel gekleidet hatte.

Gemäß Heym erteilte Salomo einem renommierten Historiker den Auftrag, eine Geschichte zu schreiben "die allen Zweifeln ein Ende bereiten sollte." Der Historiker indes befand, für diesen delikaten Auftrag wäre wohl ein "Newcomer" der von tuten und blasen noch keine Ahnung hat, geeigneter. Indes Salomo bestand darauf. Es müsse ein renommierter Name auf der "Geschichte, die allen Zweifeln ein Ende bereitet" stehen. Da saß er nun ganz schön "in der Tinte". Das vergiftete Wohlwollen seines Auftraggebers abzulehnen, meinte er sich nicht leisten zu können. Würde er es tun, liefe er Gefahr, wie andere vor ihm schon, einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Darauf wollte er es denn doch nicht ankommen lassen. Und so schrieb er denn die erwartete Lobeshymne in den erwarteten wohlgesetzten Worten. Nur hier und da lies er in unbedeutenden Nebensätzen, ein paar Andeutungen mit einfließen, wie es sich denn wirklich verhalten hätte.

Die Kommission, die dann diese "Lobeshymne" abnehmen musste, befand dass ihr beim lesen immer wieder mal ein "Klos im Halse stecken blieb". Zwar war alles wie gefordert in wohlgeformten Sätzen formuliert. Indes hier und da traten aber doch beim lesen, den Zensoren "unerlaubte Gedanken" in den Sinn.

Wer weis, vielleicht erging es Wilting ím übertragenem Sinne ähnlich, wenn man von ihm in seinem "Das Reich, das nie kam" folgende Begegebenheit mitgeteilt bekommt. Man müsste lediglich noch hinzufügen, dass die "Abnahmekommission" im Falle Wilting in der Form seiner Mit-Ältesten zu sehen ist.

"Aus eigenem Interesse fuhr ich oft nach Dänemark und nahm dort an Treffen der Zeugen Jehovas teil. Auf einem Treffen in Dänemark hatte ein Redner ein farbiges Hemd an. Ich erinnere mich noch genau, dass es dunkelbraun war und ich dachte, auch ich könnte es wagen, ein wenig die Regeln, das weiße Hemd betreffend, zu verletzen. In einem Geschäft fand ich ein weißes Hemd mit einigen dünnen roten Streifen. Ich fand es im Vergleich zu den einfarbigen weißen Hemden, die ich jetzt 20 Jahre lang getragen hatte, sehr schön. Dieses Hemd hatte ich an, als ich einen öffentlichen Vortrag hielt, ein Spiel auf Kosten des Gewissens anderer. Hätte ich nur das nicht getan!

Tags darauf erschien bei mir daheim ein Komitee und einer der Ältesten behauptete, er habe wegen des ungeheuerlichen Verstoßes gegen Takt und Ton die ganze Nacht nicht geschlafen. Die Sache wurde natürlich dadurch nicht besser, dass ich meinte, dies sei kein Verbrechen und dass ich zu behaupten wagte, es wäre meinem Gewissen überlassen, ob ich ein Hemd mit oder ohne Streifen haben wollte. Die Ältesten waren offensichtlich über eine solch abtrünnige Einstellung erregt und behaupteten bei dieser Gelegenheit, ich triebe einen Keil in den Ältestenkörper. Der Ältestenrat der Versammlung hielt in dieser Angelegenheit ein Treffen ab. Fünf erwachsene, ernsthafte Männer verbrachten einen ganzen Nachmittag damit, herauszufinden, wie sie dieses Problem angehen sollten und fanden sich schließlich bemüßigt, eine Notiz in der Sache Wilting und das gestreifte Hemd an die Wachtturmgesellschaft zu senden. Sie teilten der Gesellschaft mit, dass ich den Regeln der Gesellschaft, Mode und Kleidung betreffend, nicht mehr folgte.

Hinter meinem Rücken warnte der reisende Kreisaufseher die anderen Ältesten, dass ich in der Versammlung ein störendes Element sei. Das breitete sich wie ein Lauffeuer aus und bald merkte ich, wie mich die ganze Versammlung als Abtrünnigen betrachtete, obwohl ich offiziell noch Mitglied der Organisation war."

Heym hatte seinen Roman unverkennbar mit Blick auf die DDR konzipiert. Die reagierte denn auch wie erwartet. Heym der zwar in der DDR lebte, aber ein gewisses Maß von "Narrenfreiheit" sich herausnehmen konnte. Eine "Narrenfreiheit" welche die DDR mit Sicherheit anderen nicht zubilligte. Nur eben Heym war nicht einer der "anderen". Er hatte schon im zweiten Weltkrieg in der amerikanischen Armee mitgekämpft. Die Eindrücke die er dort gesammelt in seinem Roman "Kreuzfahrer der Gegenwart" zu Papier gebracht, welcher der kommunistischen Propaganda sehr willkommen war. Erst recht als Heym Anfang der 50er Jahre in die DDR übersiedelte, als das vermeintlich "bessere" Deutschland. In diesem "besseren" Deutschland musste er dann allerdings auch noch so seine Erfahrungen sammeln. Erfahrungen, die er auch in dem "König David-Bericht" zu Papier gebracht hat. Die genannte Parabel lässt er denn auch mit einer "Salomonischen Entscheidung" ausklingen.

Der "weise Salomo" entschied, angesichts der "hinterhältig" ausgefallenen "Geschichte die allen Zweifeln ein Ende bereiten" sollte. Salomos Entscheidungsspruch war. Keine Zeile dieses Autors soll das Volk mehr erreichen.

Und (fast) genau, das trat auch im Fall Heym ein. Sein "König David Bericht" konnte zuerst (wie auch andere Heym'schen Schriften), nur im Westen erscheinen.
Erst Jahre später - angesichts des Politikklimas das die DDR auch diplomatische Beziehungen zu führenden westlichen Industriestaaten anstrebte. Erst in dieser Konstellation bewilligte man auch eine (für DDR-Verhältnisse knapp bemessene) Auflage dieses Romans, die den prompt in den Buchhandlungen eher unter als den auf dem Ladentisch, gehandelt wurde.

Mag Heym auch die politische DDR im Auge gehabt haben. Es gibt auch eine, wie schon Marko Martin formulierte auch eine "religiöse DDR"!

Marko Martin über die religiöse DDR


Das Reich das nicht kam. Joseph Wilting

Wilting's Zweites Buch

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