Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Detailauszug aus:

Anette Wenderoth: "Arbeiten an Moral"

Dissertation, Oldenburg 1999, Kapitel 9

Die dazugehörigen Anmerkungsnummern wurden hier am Textende angeordnet. Im Original sind sie auf der jeweiligen Seite (im pdf-Format). Zu Vergleichszwecken wird ausdrücklich auf das Original verwiesen.

http://oops.uni-oldenburg.de/423/133/wenarb99.pdf

9 Hans Meiser - "Die Unverbesserlichen - Zeugen Jehovas"

9. 1. Analyse der Sendung

Die untersuchte Folge der Sendereihe Hans Meiser stand unter dem Titel "Die Unverbesserlichen-Zeugen Jehovas" und wurde am 21.1. 97 gesendet.

In der einstündigen Sendung erscheinen sieben Gäste, die einzeln vom Moderator Hans Meiser (HM) interviewt werden: drei Frauen und vier Männer. Eine Frau (Gast Nr.4, Bernadette Wendt) 1 präsentiert sich als Anhängerin der Zeugen Jehovas (ZJ)', sie ist (noch) kein Mitglied der Gruppe, will aber beitreten. Meiser erwähnt zu Anfang, daß kein ZJ in die Sendung habe kommen wollen, obwohl sich die Redaktion darum bemüht habe, da sie, so zitiert er die Begründung der ZJ, "biblisch begründet nicht mit ehemaligen ZJ in einer Sendung erscheinen möchten." 2 Außerdem erscheine ihnen die "erwähnte Zeitspanne von einigen Minuten für die Darlegung komplexen religiöser Standpunkte und deren Erläuterung doch sehr kurz bemessen' (Z. 8ff .).3

Die Gäste Nr.1 (Elke Wenigwieser) und Nr.2 (Konstantin Nikolapodus) sind in ZJFamilien hereingeboren worden, aber inzwischen ausgetreten bzw. ausgeschlossen worden. Gast Nr.5 (Brigitte Stöckler) und Nr.7 (Herbert Czybull) sind als Jugendliche bzw. Erwachsene freiwillig beigetreten, Nr.7 ist bereits ausgetreten, B. Stöckler verkündet am Ende der Sendung öffentlich ihren Austritt. 4 Gast Nr.6., ihr Ehemann Herbert Stöckler, hatte sich vor einiger Zeit entschlossen, den ZJ beizutreten, geriet jedoch zuvor in Konflikt mit den Ältesten der Gemeinde. Alle diese ehemaligen Mitglieder berichten von konkreten eigenen negativen Erfahrungen während ihrer Zeit bei den ZJ und äußern sich auch negativ wertend über die Organisation allgemein.

Gast Nr.3, Ulrich Rausch, ist nie selbst Mitglied gewesen, sondern ist ein "Fachmann" (so Meiser), ein Journalist und Buchautor, der außerdem katholische Theologie studiert. Er beschäftigt sich seit langem mit den ZJ und bezeichnet sich Meiser zufolge selbst als ihr "scharfer Gegner" (Z.324).5 Am Ende der Sendung meldet sich noch eine Saalzuschauerin zu Wort, die berichtet, sie sei bei den ZJ aufgewachsen, habe sich aber in der Jugendzeit distanziert und eine Initiative gegen die ZJ gegründet, weswegen sie von ZJ bedroht und belästigt worden sei.

Die damit gegebene Sonderstellung B. Wendts (Gast Nr.4) als einziger aktueller Befürworterin der ZJ wird auch dadurch verstärkt, daß sie sowohl zu Anfang als auch zum Ende der Sendung als einziger Gast von Hans Meiser gesondert erwähnt wird.

ein Gast. .sie ist nicht Zeugin Jehovas, tendiert aber stark in diese Richtung … (Z.25f);

Ein Dankeschön meinen Gästen aber auch der Frau Wendt die offen gesagt hat warum sie dazu steht (Z.781f.). 6

BW ist also nicht selbstverständlich im Dank an "meine Gäste" mit angesprochen Als lobenswert wird dabei erwähnt, sie habe "offen gesagt', warum sie "dazu steht' (Z.781-782). "Zu etwas stehen" bezieht sich normalerweise auf Sachverhalte, die leicht Anlaß zur Kritik geben und von anderen negativ beurteilt werden. Meiser sagt hier nicht, wie ja möglich gewesen wäre, "die uns erklärt hat, was an den ZJ so faszinierend ist' oder "die uns positive Seiten der Gemeinschaft aufgezeigt hat', womit ihrer Fürsprache für die ZJ Erfolg bescheinigt worden wäre. "Dazu stehen" verbleibt im Gegensatz dazu ein persönlicher, nur BW betreffender Sachverhalt, der zwar Achtung ihrem Mut gegenüber impliziert, die Gruppe, zu der sie steht, jedoch indirekt negativ bewertet.

Meiser bezieht sich einleitend auf den Titel der Sendung, "Die Unverbesserlichen - Zeugen Jehovas". Dies sei "zunächst mal nicht bös gemeint" ( Z.1f.), sondern beziehe sich darauf, daß es nicht möglich gewesen sei, mit den ZJ Kontakt aufzunehmen um jemanden von ihnen in die Sendung zu bekommen. Der Titel legt demnach seiner Erwartung nach nahe, als "böse gemeint" verstanden zu werden. Meiner Lesart nach ist es jedoch nur schwer möglich, die Formulierung hier nicht so zu verstehen: Die substantivische Verwendung des Lexems unverbesserlich ist zunächst ungewöhnlich. 7 Normalerweise erscheint es adjektivisch in der Bedeutung "nicht von mir/jemandem zu ändern" oder "nicht bereit bzw. fähig, sich zu ändern" (z.B. "Er ist ein unverbesserlicher Lügner"). Zumeist wird es durch ein nachfolgendes Attribut oder aber einen konkreten Kontext näher bestimmt (z.B. "Anna hat schon wieder alleine Feuerspucken geübt, sie ist einfach unverbesserlich"). Das Lexem dient normalerweise dazu, Kritik zu üben, die jedoch zumeist eher ein wohlwollendes "Kopfschütteln" und keine ernsthafte Rüge darstellt. Seine wörtliche Verwendung im Sinne von "nicht noch weiter zu verbessern" ist so ungewöhnlich, daß sie, um verstanden zu werden, des expliziten Hinweises auf die gemeinte Bedeutung bedarf. Wegen ihres superlativischen Charakters würde sie jedoch auch in ihrer positiven Bedeutung eher ironisch verwendet und z.B. auf jemanden bezogen werden, der von sich oder anderen zwar für perfekt gehalten wird, dies aber nach Ansicht des Sprechers nicht wirklich ist. Im Hinblick auf Meisers Erklärung, "unverbesserlich" beziehe sich darauf, daß man keinen Kontakt mit den ZJ habe bekommen können, macht jedoch keine dieser Bedeutungsmöglichkeiten Sinn. Aus diesem Grund erscheint Meisers Einleitung eher als "Lippenbekenntnis", das die deutlich erkennbare Skepsis den ZJ gegenüber relativiert. Dennoch legt die Formulierung nahe, "die Unverbesserlichen" als ironisch-kritische Anspielung auf eine verfehlte Selbstüberschätzung der ZJ zu verstehen.

Hier wie im gesamten Verlauf der Sendung werden die ZJ von Meiser einem kollektiven "wir" gegenübergestellt und als Abweichung vom Normalen behandelt Seine Verwendung von "wir" variiert dabei, manchmal bezieht es sich auf ihn und sein Team, zumeist aber auf alle, die keine ZJ sind. Es wird jedoch nicht hinsichtlich bestimmter Eigenschaften definiert, sondern ergibt sich nur ex negativo' aus dem Negativbeispiel der ZJ. Daß die Position der ZJs als Ausnahme üblicherweise negativ bewertet wird, wird im folgenden auch von allen Gästen (inklusive BW) präsupponiert und (außer von BW) als angemessene Bewertung behandelt. BW äußert sich zwar positiv in bezug auf die ZJ, auch sie geht aber offenbar davon aus, daß alle anderen, zumindest die Anwesenden, sie ablehnen.

Die Gäste (außer BW) schildern nacheinander eigene Erfahrungen mit und bei den ZJ, die als offensichtlich empörende Sachverhalte präsentiert werden. Hans Meiser reagiert auf diese Erzählungen zumeist mit Erstaunen oder moderater Empörung, bestätigt damit jeweils indirekt die Implikation, daß es sich beim Geschilderten um relevante Ausnahmen vom kognitiv und/oder normativ Erwartbaren handelt.

Die Äußerungen der Gäste werden von Meiser allesamt als sich wechselseitig bestätigende und ergänzende Belege für die negative Bewertung der ZJ behandelt, auch wenn sie ihrer Präposition nach mehrmals nicht notwendig als solche zu verstehen wären. Widersprüche innerhalb von Redebeiträgen ebenso wie inhaltliche Differenzen zwischen den Äußerungen verschiedener Gäste werden dadurch interaktiv "eingeebnet". Es kommt so zu einer Polarisierung in (absolute) Gegner und Befürworter der ZJ. Alle Einzelgespräche fungieren damit als Teilargumentationen, die der übergeordneten globalen Frage nach der (auch moralischen) Bewertung der ZJ untergeordnet sind. Außer durch das gemeinsame Rahmenthema wird textuelle Kohäsion in der Sendung auch durch explizite Rückverweise und thematische lsotopien erzeugt. 8 Alle Gäste, die von eigenen Erfahrungen berichten, beziehen sich auf Begebenheiten, die außerhalb der aktuellen Gesprächssituation lagen.

Die Schilderungen von (negativen) Erlebnissen fungieren dementsprechend als Darstellungen von einzelnen Konfliktanlässen, die beispielhaft den "globalen" bzw. grundsätzlichen Konflikt zwischen dem jeweiligen Sprecher und den ZJ als Institution illustrieren. Darüber hinaus werden aber auch allgemeine, nicht an spezifische Situationen gebundene negative Aussagen über die ZJ gemacht, die im gegebenen argumentativen Rahmen gleichermaßen als indirekte Begründungen für die grundsätzliche Ablehnung der ZJ fungieren. In der Sendung wird damit ein Metakonflikt realisiert, der nicht in der aktuellen Redesituation begründet ist, sondern der Darstellung der Beteiligten nach schon vor dieser gegeben war.

Sowohl Meiser als auch die Gäste 9 implizieren durchgängig eine Kausalrelation zwischen dem Verhalten bestimmter Menschen und deren Mitgliedschaft bei den ZJ: Sie haben sich in den geschilderten Situationen in bestimmter negativer Art und Weise benommen, weil sie ZJ waren. Meiser legt dies bereits zu Beginn des ersten Gesprächs nahe:

Sie sind als ZJ hineingeboren worden (..) Waren Ihre Eltern denn sehr streng mit Ihnen? (Z.46ff).

Die Frage erscheint als logischer Schluß aus der zuerst genannten Tatsache, daß die Eltern ZJ waren. Strenge wird damit als typische, erwartbare Eigenschaft der ZJ eingeführt, dieser Annahme auch nicht widersprochen.

Impliziert wird mehrfach außerdem ein proportionales Verhältnis zwischen dem Grad des Engagements bei den ZJ und dem Grad des beschriebenen negativen Verhaltens:

HM: Ihr Vater .. sie sagen er war ein hunderfünfzigprozentiger war er denn sehr streng mit Ihnen? (Z. 77f.)

HM: Wie verlief denn Ihre Ehe?

EW: Oh mein Gott. Schlimm.

HM.: Wieso?

EW.: Weil mein Exmann ein fanatischer ZJ wurde … (Z. 158f.).

Die Einzelschilderungen legen so stets nahe, Typisches über "ZJ als solche" auszusagen. Die genannten Eigenschaften sind dabei allesamt negativ bzw. sie werden als offensichtlich negative präsentiert und als Beispiel für die eigene schlimme Zeit bei der Gruppe genannt: EWs Vater und ihr Ehemann waren z.B. streng und dogmatisch, die Ältesten' sind inquisitorisch und furchteinflößend, KNs Vater war ebenfalls streng, strafte ohne Grund, BS wurde bespitzelt und mußte sich peinliche Befragungen gefallen lassen.

Die lnterviewstrategie des Moderators läßt sich zumeist als kooperativ und protegierend bezeichnen: Er fragt interessiert nach, stimmt Bewertungen indirekt durch Erstaunen oder Empörung zu, stellt keine Aussagen der Gäste in Frage. Allein im 4. Gespräch tritt er provokant und skeptisch auf. Nur hier kommt es zu lokalem, aktuellem Dissens, also einem Konflikt innerhalb der Gesprächssituation. BW und Meiser widersprechen einander sehr oft, was schon lexikalisch durch eine Häufung von Dissensmarkern wie "aber" oder", ja aber" indiziert wird. Dies ist besonders deshalb auffällig, da Meiser in den anderen Gesprächen selbst gravierende logische Brüche oder mißverständliche Formulierungen in den Äußerungen der Gäste nicht aufgreift. BW gerät von Beginn an in eine rechtfertigende Position bzw. begibt sich selbst dadurch in eine solche, daß sie mehrere Fragen als Vorwurf interpretiert, die nicht notwendig als solche zu verstehen waren. 10 Beide Sprecher beziehen sich des öfteren nicht auf naheliegende Implikaturen einer vorausgehenden Äußerung, sondern allein auf deren Proposition oder auf eine ihrer logischen Vorannahmen z.B.:

HM.: Kann man die (Anm.: die Grundlagen der Bibel) denn heute noch anwenden?

BW.: Ja sicher vergleichen Sie das doch mal mit der Mathematik. In der Mathematik die Grundlagen sind auch alt aber wenn Se die nicht anwenden kommen Sie nicht zum richtigen Ergebnis.

HM.: Ham se recht ich hab ne fünf im Zeugnis gehabt (Z.410f.).

Das Interaktionsverhalten erscheint dadurch stellenweise von beiden Seiten als bewußt unkooperativ gestaltet, beide Sprecher signalisieren eher den Willen, Recht zu behalten als Verständigung zu erzielen. Beide scheinen zwar bemüht, höflich zu bleiben, keinesfalls aber Konsens hinsichtlich der Gesamtbewertung der ZJ nahezulegen. 11 Mehrmals entsteht dadurch der Eindruck, daß ein angesprochenes Thema von Meiser resigniert deshalb abgebrochen wird, weil er keine Möglichkeit mehr zu sehen scheint, BW zu überzeugen oder sich ihrer Position zu nähern.

In allen Einzelgesprächen verweisen Meisers Äußerungen jedoch implizit wie auch explizit auf seinen Selbstanspruch, in der Sendung nicht einseitig berichten zu wollen. Er formuliert zu Beginn die Absicht, die ZJ in und durch die Sendung verstehen zu wollen, auch wenn "uns" das schwerfallen möge (Z.29). Als fairer, zwischen Positionen vermittelnder Moderator inszeniert er sich mehrmals auch dadurch, daß er einen Gast auffordert, eine wertende Äußerung zu relativieren bzw. zu überprüfen ("ist das nich 'n bißchen mit der Gießkanne?" Z.622). Auch spielt er stellenweise den "advocatus diaboli" und übernimmt vorübergehend eine die ZJ rechtfertigende Position, indem er einen Gast dazu zwingt, ein als offensichtlich unterstelltes Skandaion zu explizieren:

Was regt Sie denn eigentlich auf also ich denke meine es gibt natürlich gewisse Orden gewisse gewisse Formen der Ordnung und des Miteinander in jedem Tischtennisverein

(Z: 549).

Solche Nachfragen stellt er jedoch ausschließlich in bezug auf negative Bewertungen der ZJ, die dadurch noch stärker fokussiert und als relevante Aspekte behandelt werden. Er beharrt auch nie auf seinem Einwand, sondern akzeptiert die jeweils folgende Begründung des betreffenden Gastes, was den Eindruck verstärkt, daß es sich bei seiner Frage um eine rhetorische gehandelt hatte.

Durch seine erstaunten und empörten Reaktionen auf Schilderungen der Gäste hin, nimmt er an zahlreichen anderen Stellen zwar indirekte, aber deutliche Bewertungen vor. Vor allem im 4. Gespräch äußert er auch explizit eigene normative Ansichten ("das kann aber nicht beinhalten daß Kinder geschlagen werden.." Z.433f.). Er impliziert so mehrfach eine negative Bewertung der ZJ, denen er hier z.B. indirekt unterstellt, Kinder zu schlagen, er verurteilt die Gruppe jedoch an keiner Stelle explizit. Als Moderator ist er außerdem durch die Auswahl und Formulierung der Fragen maßgeblich für die thematische Entwicklung der Gespräche verantwortlich: Er bestimmt primär, welche negativen Erfahrungen der Gäste überhaupt zur Sprache kommen, welche Themen vertieft und erneut aufgegriffen werden. 12

Meiser verweist mehrfach auf Sachverhalte, die mit der Organisation der Sendung zu tun haben, erwähnt zum Beispiel das Team, das die Sendung vorbereitet habe, die Materialien, mit denen er sich über das Thema informiert habe, oder bezieht sich auf Vorabsprachen mit den Kandidatlnnen darüber, welche Themen angesprochen werden sollen. Er gewährt also Blicke hinter die Kulissen und wirkt damit aktiv dem der Sendung unterstellbaren Anspruch entgegen, es handelte sich um ein zufälliges, völlig spontanes Privatgespräch. Die Relevanz und Glaubwürdigkeit dessen, was in der Sendung stattfindet, scheint nach Meisers Einschätzung dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt zu sein: Man hat es nicht nötig, Absprachen zu verheimlichen oder so zu tun, als handelte es sich nicht um ein Gespräch in einer Show. Er gestaltet seine Rolle als Moderator damit nicht als die des allwissenden und unbeteiligten Fragenstellers, statt dessen erscheint er als informierter Mensch, der durchaus eine eigene Meinung zum Thema hat, wenn er auch versucht, diese zurückzuhalten. Sein Wissen über das Thema hat er sich aktiv angeeignet, er ist aber weiterhin lernwillig.

Er wirkt als unkomplizierter, direkter Mann mit "gesundem Menschenverstand", der skeptisch gegenüber übertriebenen Moralisierungen egal von welcher Seite ist und für vieles Verständnis hat. Gerade dadurch erscheinen aber die Urteile, die er ausspricht, um so glaubwürdiger und relevanter ("Wenn sogar dem der Kragen platzt…"). Seine Tätigkeit und die der Redaktion bezeichnet er als "journalistische Arbeit" (Z.28), in die er sich jegliche Einmischungen verbittet. Diese Arbeit wird im Rahmen des (positiv bewerteten) freien Journalismus und der Meinungsfreiheit in Deutschland geleistet (Z.776f). 13 Als selbstgesetztes Ziel seiner selbst und seines Teams benennt Meiser die Aufgabe, "das zu sagen, was wir glauben, das gesagt werden muß" (Z.777). Die Sendung wird damit als "ernsthafter", relevanter Beitrag von allgemeinem Interesse behandelt, dem aufklärerische Funktion zukommt. Da die Bemerkung am Ende der Sendung fällt, kategorisiert sie rückwirkend alles zuvor Gesagte als Beispiel für eine solche Aufklärung.

Wie schon erwähnt, treten nur im Gespräch mit BW, der Befürworterin der ZJ, aktuelle Konfliktsequenzen auf, also Dissens zwischen anwesenden Sprechern. Konflikte werden aber auch dort als bereits bestehende angezeigt, wo den ZJ in bezug auf ein Thema zugeschrieben wird, eine andere als die erwartbare und von den Anwesenden präferierte "normale" Ansicht zu haben. Dieser Verweis auf vorgängige oder allgemeine Konflikte erfolgt zumeist durch die unkommentierte Schilderung eigener Erfahrungen im Modus der Empörung, die gleichzeitig als indirekte Vorwürfe gegen die ZJ verstanden werden müssen. Solche (indirekten) Bewertungen stellen im Blick auf die Rezipientlnnen der Sendung insofern Konfliktangebote dar, als sie zur Empörung "einladen" und sowohl Zustimmung, als auch Widerspruch, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen als Reaktionen nahelegen. Die Themen, die in solcher Weise wiederholt von den Gästen und Meiser erwähnt werden, sind:

1) Kindheit und Jugend bei den ZJ/das Erziehungsverhalten von Eltern, die ZJ sind;

2) Der Umgang der ZJ mit Sexualität und (vorehelichen) Beziehungen zwischen Männern und Frauen;

3) Verbote von Festen wie Weihnachten, das Verbot von üblichen Vergnügungen wie Fernsehen;

4) Das Verbot von Bluttransfusionen;

5) Das Verhalten und die Funktion der Ältesten;

6) Prompte Strafen, Sanktionen, Ausschluß bei tatsächlicher oder vermuteter Übertretung interner Regeln;

7) Die Möglichkeit, innerhalb der ZJ Kritik üben und sich argumentativ über etwas auseinandersetzen zu können;

8) Doppelte Moral und Lügenbei den ZJ: für die Ältesten gilt nicht, was sie den Mitgliedern vorschreiben.

In den Gesprächen werden zu diesen wiederkehrenden Themen dabei von den einzelnen Gästen folgende Beispiele genannt:

1) Kindheit und Jugend/Erziehung

EW: Große elterliche Strenge, die sich in zahlreichen Verboten, dem Verlangen nach striktem Gehorsam und Schlägen manifestiert hat.

KN: Der Vater KNs war, weil er ZJ war, sehr streng. Er fungierte als "Vollstrecker" der Kirche; Verbote und Strafen waren rigide und wurden dogmatisch verhängt.

BW: HM und BW stimmen darin überein, daß jeder das Recht darauf habe, seinen Glauben und Lebensstil frei wählen und unbehelligt ausleben zu können Dies wird von Meiser dahingehend eingeschränkt, daß der Glaube nicht beinhalten könne, "daß Kinder gezüchtigt werden" (Z.433). HM verwendet "züchtigen" dabei im Sinne von "schlagen" und impliziert, daß eben dies bei den ZJ der Fall sei, er beruft sich auf die Schilderungen von EW und KN. BW bestreitet nicht, daß bei den ZJ den Eltern geraten würde, ihre Kinder gegebenenfalls zu züchtigen, sie betont jedoch, daß "züchtigen" nicht mit körperlicher Bestrafung gleichzusetzen sei ("das heißt ja nicht, daß ich mein Kind schlage' Z.443). Sie bestreitet außerdem, daß prügelnde Eltern der Regelfall bei den ZJ seien.

2) Sex

EW: Die ZJ haben eine ungewöhnliche Einstellung zu allen, insbesondere sexuellen, Kontakten zwischen Männern und Frauen. Diese Erfahrungen dokumentiert EW sowohl in bezug auf ihren Vater, der auf ihre Beziehung zu einem Mann aggressiv, strafend reagierte, in bezug auf die Ältesten der ZJ, die sie aufgrund jener Beziehung einer inquisitorischen Befragung unterzogen und intime Details bezüglich der Beziehung zu erfahren verlangten, als auch hinsichtlich ihres Ehemannes, der ihr den Beischlaf autoritär verordnete und als biblisch begründbare Pflicht zu behandeln schien.

KN: Es wird als Verfehlung behandelt, wenn man als männlicher Jugendlicher eine Freundin hat.

BS: Beziehungen zwischen Männern und Frauen werden mißtrauisch überwacht. Die Mitglieder müssen sich selbst für harmlose, nicht sexuell konnotierte Treffen mit dem anderen Geschlecht vor dem Ältestenrat rechtfertigen. Es gibt anonyme Anzeigen durch andere Mitglieder, man wird kontrolliert.

HS: Kontakte zwischen Männern und Frauen werden mißtrauisch auf sexuelle Kontakte hin überwacht und die Betreffenden bei Verdacht oder "Beweis" solcher Kontakte durch inquisitorische Befragungen gemaßregelt. Vorehelicher Sex ist verboten.

HC: Die ZJ haben eine "etwas verschrobene" Einstellung zu Sexualität. Da vorehelicher Sex verboten ist, werden Jugendliche dazu gezwungen, zu heiraten, auch wenn sie die dazu erforderliche Reife noch nicht besitzen.

3) Verbote 14

EW: Bei den ZJ existieren Verbote, deren Übertretung von diesen als schwere moralische Verfehlung behandelt und geahndet wird. Sie betreffen Handlungen, die außerhalb der Glaubensgemeinschaft als harmlose, übliche Handlungen gelten wie z.B. rauchen. ZJ Mitglieder werden außerdem dazu gezwungen, andere Mitglieder bei Verletzung dieser Verbote, obwohl eine solche im Allgemeinverständnis keine Sünde wäre, anzuzeigen. Dieser Zwang zur Anzeige zieht moralische Konflikte und/oder unverdiente Sanktionen nach sich. Der Glaube der ZJ bedingt das unbegründete Verbot zahlreicher ansonsten üblicher Vergnügungen wie fernsehen, erstreckt sich aber auch auf die Zukunftsplanung. 15

KN: Bei den ZJ gelten andere Moralkategorien als im sonstigen Alltag: Sie verbieten allgemein übliche, gemeinhin als unschädlich betrachtete Aktivitäten oder Sachverhalte (wie z.B. einen Ohrring zu tragen, Popplatten zu hören) und ahnden Zuwiderhandlungen als schwere (moralische) Verfehlungen.

UR: Durch die besonderen Gesetze und Verbote bei den ZJ werden sie, vor allem ihre Kinder, die dies noch nicht selbst entscheiden können, von üblichen sozialen Aktivitäten wie Geburtstagsfeiern ferngehalten.

BS: Die meisten Mitglieder der ZJ halten sich nicht strikt an die zahlreichen Gesetze der Gruppe, obwohl nach außen so getan wird und man als unerfahrenes Neumitglied den Eindruck erhält, die Gesetze seien unbedingt zu befolgen.

HC: Durch die Verbote werden vor allem Jugendlichen Erfahrungen, die sie sonst machen könnten und sollten, verwehrt. Dies bezieht sich sowohl auf sexuelle Erlebnisse als auch auf die Teilnahme an normalen sozialen Aktivitäten wie Kindergeburtstagen.

4) Bluttransfusionen 16

KN: ZJ nehmen die Einhaltung ihrer Verbote wichtiger als z.B. den Wunsch, das eigene Leben und das anderer, wenn möglich, durch eine Bluttransfusion zu retten. Ihr Handeln ist dabei jedoch innerhalb der eigenen Argumentation unstimmig, sachlich falsch.

UR: Es handelt sich bei den ZJ um eine "gefährliche Sekte" (UR Z.331). Die Mitgliedschaft bei ihnen kann zum Tode führen, wenn nämlich eine Bluttransfusion, die bei den ZJ verboten ist, das Leben retten könnte.

5) Älteste, Organisation der ZJ

EW: Die Ältesten haben in einer Gemeinde totalitäre Befugnisse gegenüber den Mitgliedern der ZJ. Sie verlangen von diesen ohne Grund die uneingeschränkte Offenlegung auch bzw. vor allem intimer Details ihres Privatlebens.

KN: ZJ, insbesondere die Obersten (Ältesten), zeichnen sich auch im privaten Rahmen durch Kälte und Unmenschlichkeit aus. 17

HS: Das Privatleben aller, selbst angehender Mitglieder der ZJ, wird scharf überwacht, bei Verdacht auf Übertretung einer Norm wird auch mit Drohungen und Einschüchterungen gearbeitet.

6) Strafen, Sanktionen, Umgang miteinander

EW: Als normale und normativ erwartbare Möglichkeit, jemanden von etwas zu überzeugen, stellt Meiser der körperlichen Züchtigung die Argumentation gegenüber. 18

EW beschreibt jedoch, daß ihr Vater auch verbal aggressiv gewesen sei und sich sein sprachliches Verhalten nicht kategorisch von körperlicher Züchtigung unterschieden hätte ("verbal breitgeschlagen" Z.98). Die Bibel diente dabei als Instrument, mit dem Befehle pauschal begründet wurden.

Der Austritt bei den ZJ führt dazu, daß selbst Eltern und Geschwister sich von einer Person abwenden, bei EW hatte dies zur Folge, daß sie einen Selbstmordversuch unternommen hat.

BS: Selbst der Verdacht, jemand habe vorehelichen Sex, reicht aus, ihn oder sie durch Ausschluß aus der Gruppe zu bestrafen. Frauen werden bei den ZJ in einer Weise behandelt, die im Vergleich zum sonst Üblichen sowohl als veraltet als auch als diskriminierend gelten muß. BS berichtet von einem Fall, in dem man sie kritisiert und bestraft hat, weil sie einen Hosenrock getragen habe.

HS: ZJ helfen einander (und anderen Menschen) nur gegen Geldleistungen.

UR: UR äußert, in der starren Hierarchie der ZJ ständen Frauen "sicher nicht an oberster Stelle" (Z.371). Interesse an Mitmenschen ist bei den ZJ nicht wirklich vorhanden, sondern gespielt. Zuneigung, Hilfe und Unterstützung werden bei ihnen von der rein formalen Befolgung der internen Normen und Gesetze abhängig gemacht.

7) Kritik äußern können

BW: Meiser impliziert im Gespräch mit BW, daß es bei den ZJ nicht möglich sei, Kritik am Verhalten anderer ZJ oder der Gemeinschaft zu üben. BW bestreitet dies nicht direkt, sondern geht auf die Präsupposition seiner Äußerung ein, indem sie einwirft, bei den ZJ gebe es auch keinen Anlaß zur Kritik (Z.452f.).

HC: Die Vorschriften der ZJ erstrecken sich nicht allein auf praktisches Handeln, sondern auch auf das zu Glaubende. Auflehnung und Kritik sind in keinem Fall erlaubt.

Eine Saalzuschauerin war früher ZJ und hat nach ihrem Ausstieg eine Initiative gegen die Organisation gegründet. Nach einem kritischen Vortrag wurde sie von zwei Frauen der ZJ aufgesucht, bedroht und belästigt.

8) Doppelter Standard/Schein(moral)

BS: Bei den ZJ herrscht ein doppelter Moralstandard: die strikte Befolgung vorgeschriebener Regeln wird von den normalen Mitgliedern verlangt, während sich die Ältesten und ihre Familien selbst nicht daran halten.

HS: Bei näherer Kenntnis der internen Praxis der ZJ zeigt sich diese geprägt von Heuchelei, Lügen und Arroganz. Was den "normalen Mitgliedern als unbedingt einzuhaltende Norm vorgeschrieben wird, befolgen die Ältesten nicht selbst. Übertretungen durch die Ältesten werden nicht wie eigentlich vorgeschrieben geahndet.

Glaubensgrundsätze der ZJ werden nur indirekt angesprochen. So wird beispielsweise mehrfach erwähnt, daß sie das Weltende (Armageddon) erwarteten und das eigene Leben danach ausrichteten. Diese Annahme wird im Gespräch nicht explizit verworfen oder akzeptiert, sondern hinsichtlich ihrer Folgen und Auswirkungen auf die Mitglieder der ZJ verurteilt: Es werde ihnen gezielt Angst eingeflößt. In Zusammenhang damit wird das Gottesbild der ZJ als "pervers" verurteilt (Z.732-745). Keiner der Anwesenden spricht explizit an, worin und in welchem Maße sich der Glaube der ZJ von dem anderer christlicher Kirchen unterscheidet. Auf die katholische und evangelische Kirche wird zwar mehrfach verwiesen, jedoch zumeist in solchen Zusammenhängen, in denen es darum geht, die negative Besonderheit der ZJ zu verdeutlichen. An einer anderen Stelle wird der Vergleich inhaltlich so gut wie ignoriert: BW weist darauf hin, auch bei der katholischen Kirche gebe es mit der Beichte eine Praxis, die der intimen Befragung durch Älteste, die den ZJ zum Vorwurf gemacht werde, vergleichbar sei. Dies wird jedoch von Meiser ironisch dadurch aufgegriffen, daß er erwidert, er sei evangelisch und also der falsche Ansprechpartner (Z.484f.). 19

Alle von den Gästen geschilderten Sachverhalte und Erlebnisse werden von Meiser und den anderen Gästen (außer BW) gleichermaßen als Belege für die negative Gesamtbewertung der ZJ behandelt, es wird dabei keine Differenzierung in mehr oder weniger tolerierbare Aspekte vorgenommen. Alle Einzelthemen werden vielmehr nach dem binären Schema "gut" oder "schlecht" bewertet, das, da die jeweiligen Skandalons so gut wie nie expliziert werden, auf der Ebene des Gesagten als identisch mit der Unterscheidung "normal / nicht normal" erscheint. 20

Hinsichtlich des innerhalb der Sendung konstituierten "moralischen Raumes" läßt sich auf formaler Ebene eine "Scheu" gegenüber eindeutig im moralischen Code verfaßten Äußerungen ausmachen, also gegenüber normativen Bewertungen oder Feststellungen im Modus der Gewißheit. Dies gilt vor allem für den Moderator, der mehrmals pauschale Urteile der Gäste relativiert, z.B.:

Ist das nich n bißchen mit der Gießkanne? (Z.622)

Aber Aber nennen Sie mir um Gottes willen einen der ohne Fehl und Tadel is. (Z.657).

Meiser selbst formuliert eigene normative Überzeugungen oft individualisierend, wodurch er ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit einschränkt 21:

Ich ( .. ) denke also jeder soll nach seiner Facon selig werden solang' man da jetzt nich in irgendeiner Form angesprochen wird (Z. 171 f);

Ja gut aber ich denke der Glauben kann nicht beinhalten daß Kinder gezüchtigt werden (Z.433).

"Moralische" Lexeme erscheinen selten und werden hier meist ironisierend als Beispiele für den Wortgebrauch der ZJ verwendet:

HS: Du du du, aus der Weit des Bösen (Z.55);

HM: Jetzt sind Sie der Böse

HS: Jetzt bin ich der Böse (Z.226).

Die sprachlichen Bezeichnungen erscheinen als übertrieben und lächerlich, da eine moralische Verurteilung des betreffenden Handelns von den Sprechern offensichtlich als unangemessen erachtet wird, z.B. beim Rauchen, dem Tragen eines Ohrrings, Plattenhören oder vorehelichem Sex. Als falsch wird dabei jedoch immer die jeweils zitierte spezifische Verwendungsweise des Lexems durch die ZJ gekennzeichnet, nicht das Lexem oder sein Referent. Nicht die sprachliche Kategorie wird also in Frage gestellt, sondern ihre unangemessene Anwendung auf einen Referenten:

HM: Ohrring is ja schon unsittlich wo beginnt eigentlich oben oder unten (Z. 234)

Mehrfach werden moralisch relevante Behauptungen jedoch auch als Tatsachen und unbezweifelte Gewißheiten formuliert, über deren Geltung und Gültigkeit kein Zweifel zu bestehen scheint:

H: ( .. ) wenn jemand in die Öffentlichkeit geht wie auch immer dann muß er sich auch gefallen sein daß gefallen lassen daß man sich kritisch damit auseinandersetzt (Z.428).

Die meisten moralisierenden Bewertungen werden jedoch indirekt vorgenommen Normen und Werte fungieren dabei als nicht explizierte argumentative Schlußregeln, die in Form unkommentierter Schilderungen von Erlebnissen oder Fakten sowie deren kommunikativer Aufnahme durch Erstaunen oder bestätigende Entrüstung realisiert werden. Die jeweils verletzte Norm wird als bekannt und offensichtlich behandelt und damit dem Bereich des als gemeinsam unterstellten Welt- und Implikationswissens, dem kollektiv Geltenden zugeschrieben. Da außer im 3. Gespräch kein Widerspruch anderer Sprecherlnnen erfolgt, bleiben die damit erhobenen Ansprüche auf kollektive Geltung in der Sendung immer unangetastet. Aber auch im Gespräch mit BW sind zumindest auf Ebene der manifesten Äußerungen keine Werte oder Normen strittig, sondern Fragen der Verallgemeinerbarkeit oder Wahrheit von Behauptungen.

Der "moralische Raum" als Summe der moralischen Bewertungen, die direkt oder indirekt unter den Sprechern konsensuell akzeptiert bzw. zumindest als allgemein tolerierbar behandelt werden, stellt sich folgendermaßen dar:

Als moralisch schlecht und grundsätzlich abzulehnen werden bewertet: