Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Detailauszug aus:
Anette Wenderoth: "Arbeiten an Moral"
Dissertation, Oldenburg 1999, Kapitel 9
Die dazugehörigen Anmerkungsnummern wurden hier am Textende angeordnet. Im Original sind sie auf der jeweiligen Seite (im pdf-Format). Zu Vergleichszwecken wird ausdrücklich auf das Original verwiesen.
http://oops.uni-oldenburg.de/423/133/wenarb99.pdf
9 Hans Meiser - "Die Unverbesserlichen - Zeugen Jehovas"
9. 1. Analyse der Sendung
Die untersuchte Folge der Sendereihe Hans Meiser stand unter dem Titel "Die Unverbesserlichen-Zeugen Jehovas" und wurde am 21.1. 97 gesendet.
In der einstündigen Sendung erscheinen sieben Gäste, die einzeln vom Moderator Hans Meiser (HM) interviewt werden: drei Frauen und vier Männer. Eine Frau (Gast Nr.4, Bernadette Wendt) 1 präsentiert sich als Anhängerin der Zeugen Jehovas (ZJ)', sie ist (noch) kein Mitglied der Gruppe, will aber beitreten. Meiser erwähnt zu Anfang, daß kein ZJ in die Sendung habe kommen wollen, obwohl sich die Redaktion darum bemüht habe, da sie, so zitiert er die Begründung der ZJ, "biblisch begründet nicht mit ehemaligen ZJ in einer Sendung erscheinen möchten." 2 Außerdem erscheine ihnen die "erwähnte Zeitspanne von einigen Minuten für die Darlegung komplexen religiöser Standpunkte und deren Erläuterung doch sehr kurz bemessen' (Z. 8ff .).3
Die Gäste Nr.1 (Elke Wenigwieser) und Nr.2 (Konstantin Nikolapodus) sind in ZJFamilien hereingeboren worden, aber inzwischen ausgetreten bzw. ausgeschlossen worden. Gast Nr.5 (Brigitte Stöckler) und Nr.7 (Herbert Czybull) sind als Jugendliche bzw. Erwachsene freiwillig beigetreten, Nr.7 ist bereits ausgetreten, B. Stöckler verkündet am Ende der Sendung öffentlich ihren Austritt. 4 Gast Nr.6., ihr Ehemann Herbert Stöckler, hatte sich vor einiger Zeit entschlossen, den ZJ beizutreten, geriet jedoch zuvor in Konflikt mit den Ältesten der Gemeinde. Alle diese ehemaligen Mitglieder berichten von konkreten eigenen negativen Erfahrungen während ihrer Zeit bei den ZJ und äußern sich auch negativ wertend über die Organisation allgemein.
Gast Nr.3, Ulrich Rausch, ist nie selbst Mitglied gewesen, sondern ist ein "Fachmann" (so Meiser), ein Journalist und Buchautor, der außerdem katholische Theologie studiert. Er beschäftigt sich seit langem mit den ZJ und bezeichnet sich Meiser zufolge selbst als ihr "scharfer Gegner" (Z.324).5 Am Ende der Sendung meldet sich noch eine Saalzuschauerin zu Wort, die berichtet, sie sei bei den ZJ aufgewachsen, habe sich aber in der Jugendzeit distanziert und eine Initiative gegen die ZJ gegründet, weswegen sie von ZJ bedroht und belästigt worden sei.
Die damit gegebene Sonderstellung B. Wendts (Gast Nr.4) als einziger aktueller Befürworterin der ZJ wird auch dadurch verstärkt, daß sie sowohl zu Anfang als auch zum Ende der Sendung als einziger Gast von Hans Meiser gesondert erwähnt wird.
ein Gast. .sie ist nicht Zeugin Jehovas, tendiert aber stark in diese Richtung (Z.25f);
Ein Dankeschön meinen Gästen aber auch der Frau Wendt die offen gesagt hat warum sie dazu steht (Z.781f.). 6
BW ist also nicht selbstverständlich im Dank an "meine Gäste" mit angesprochen Als lobenswert wird dabei erwähnt, sie habe "offen gesagt', warum sie "dazu steht' (Z.781-782). "Zu etwas stehen" bezieht sich normalerweise auf Sachverhalte, die leicht Anlaß zur Kritik geben und von anderen negativ beurteilt werden. Meiser sagt hier nicht, wie ja möglich gewesen wäre, "die uns erklärt hat, was an den ZJ so faszinierend ist' oder "die uns positive Seiten der Gemeinschaft aufgezeigt hat', womit ihrer Fürsprache für die ZJ Erfolg bescheinigt worden wäre. "Dazu stehen" verbleibt im Gegensatz dazu ein persönlicher, nur BW betreffender Sachverhalt, der zwar Achtung ihrem Mut gegenüber impliziert, die Gruppe, zu der sie steht, jedoch indirekt negativ bewertet.
Meiser bezieht sich einleitend auf den Titel der Sendung, "Die Unverbesserlichen - Zeugen Jehovas". Dies sei "zunächst mal nicht bös gemeint" ( Z.1f.), sondern beziehe sich darauf, daß es nicht möglich gewesen sei, mit den ZJ Kontakt aufzunehmen um jemanden von ihnen in die Sendung zu bekommen. Der Titel legt demnach seiner Erwartung nach nahe, als "böse gemeint" verstanden zu werden. Meiner Lesart nach ist es jedoch nur schwer möglich, die Formulierung hier nicht so zu verstehen: Die substantivische Verwendung des Lexems unverbesserlich ist zunächst ungewöhnlich. 7 Normalerweise erscheint es adjektivisch in der Bedeutung "nicht von mir/jemandem zu ändern" oder "nicht bereit bzw. fähig, sich zu ändern" (z.B. "Er ist ein unverbesserlicher Lügner"). Zumeist wird es durch ein nachfolgendes Attribut oder aber einen konkreten Kontext näher bestimmt (z.B. "Anna hat schon wieder alleine Feuerspucken geübt, sie ist einfach unverbesserlich"). Das Lexem dient normalerweise dazu, Kritik zu üben, die jedoch zumeist eher ein wohlwollendes "Kopfschütteln" und keine ernsthafte Rüge darstellt. Seine wörtliche Verwendung im Sinne von "nicht noch weiter zu verbessern" ist so ungewöhnlich, daß sie, um verstanden zu werden, des expliziten Hinweises auf die gemeinte Bedeutung bedarf. Wegen ihres superlativischen Charakters würde sie jedoch auch in ihrer positiven Bedeutung eher ironisch verwendet und z.B. auf jemanden bezogen werden, der von sich oder anderen zwar für perfekt gehalten wird, dies aber nach Ansicht des Sprechers nicht wirklich ist. Im Hinblick auf Meisers Erklärung, "unverbesserlich" beziehe sich darauf, daß man keinen Kontakt mit den ZJ habe bekommen können, macht jedoch keine dieser Bedeutungsmöglichkeiten Sinn. Aus diesem Grund erscheint Meisers Einleitung eher als "Lippenbekenntnis", das die deutlich erkennbare Skepsis den ZJ gegenüber relativiert. Dennoch legt die Formulierung nahe, "die Unverbesserlichen" als ironisch-kritische Anspielung auf eine verfehlte Selbstüberschätzung der ZJ zu verstehen.
Hier wie im gesamten Verlauf der Sendung werden die ZJ von Meiser einem kollektiven "wir" gegenübergestellt und als Abweichung vom Normalen behandelt Seine Verwendung von "wir" variiert dabei, manchmal bezieht es sich auf ihn und sein Team, zumeist aber auf alle, die keine ZJ sind. Es wird jedoch nicht hinsichtlich bestimmter Eigenschaften definiert, sondern ergibt sich nur ex negativo' aus dem Negativbeispiel der ZJ. Daß die Position der ZJs als Ausnahme üblicherweise negativ bewertet wird, wird im folgenden auch von allen Gästen (inklusive BW) präsupponiert und (außer von BW) als angemessene Bewertung behandelt. BW äußert sich zwar positiv in bezug auf die ZJ, auch sie geht aber offenbar davon aus, daß alle anderen, zumindest die Anwesenden, sie ablehnen.
Die Gäste (außer BW) schildern nacheinander eigene Erfahrungen mit und bei den ZJ, die als offensichtlich empörende Sachverhalte präsentiert werden. Hans Meiser reagiert auf diese Erzählungen zumeist mit Erstaunen oder moderater Empörung, bestätigt damit jeweils indirekt die Implikation, daß es sich beim Geschilderten um relevante Ausnahmen vom kognitiv und/oder normativ Erwartbaren handelt.
Die Äußerungen der Gäste werden von Meiser allesamt als sich wechselseitig bestätigende und ergänzende Belege für die negative Bewertung der ZJ behandelt, auch wenn sie ihrer Präposition nach mehrmals nicht notwendig als solche zu verstehen wären. Widersprüche innerhalb von Redebeiträgen ebenso wie inhaltliche Differenzen zwischen den Äußerungen verschiedener Gäste werden dadurch interaktiv "eingeebnet". Es kommt so zu einer Polarisierung in (absolute) Gegner und Befürworter der ZJ. Alle Einzelgespräche fungieren damit als Teilargumentationen, die der übergeordneten globalen Frage nach der (auch moralischen) Bewertung der ZJ untergeordnet sind. Außer durch das gemeinsame Rahmenthema wird textuelle Kohäsion in der Sendung auch durch explizite Rückverweise und thematische lsotopien erzeugt. 8 Alle Gäste, die von eigenen Erfahrungen berichten, beziehen sich auf Begebenheiten, die außerhalb der aktuellen Gesprächssituation lagen.
Die Schilderungen von (negativen) Erlebnissen fungieren dementsprechend als Darstellungen von einzelnen Konfliktanlässen, die beispielhaft den "globalen" bzw. grundsätzlichen Konflikt zwischen dem jeweiligen Sprecher und den ZJ als Institution illustrieren. Darüber hinaus werden aber auch allgemeine, nicht an spezifische Situationen gebundene negative Aussagen über die ZJ gemacht, die im gegebenen argumentativen Rahmen gleichermaßen als indirekte Begründungen für die grundsätzliche Ablehnung der ZJ fungieren. In der Sendung wird damit ein Metakonflikt realisiert, der nicht in der aktuellen Redesituation begründet ist, sondern der Darstellung der Beteiligten nach schon vor dieser gegeben war.
Sowohl Meiser als auch die Gäste 9 implizieren durchgängig eine Kausalrelation zwischen dem Verhalten bestimmter Menschen und deren Mitgliedschaft bei den ZJ: Sie haben sich in den geschilderten Situationen in bestimmter negativer Art und Weise benommen, weil sie ZJ waren. Meiser legt dies bereits zu Beginn des ersten Gesprächs nahe:
Sie sind als ZJ hineingeboren worden (..) Waren Ihre Eltern denn sehr streng mit Ihnen? (Z.46ff).
Die Frage erscheint als logischer Schluß aus der zuerst genannten Tatsache, daß die Eltern ZJ waren. Strenge wird damit als typische, erwartbare Eigenschaft der ZJ eingeführt, dieser Annahme auch nicht widersprochen.
Impliziert wird mehrfach außerdem ein proportionales Verhältnis zwischen dem Grad des Engagements bei den ZJ und dem Grad des beschriebenen negativen Verhaltens:
HM: Ihr Vater .. sie sagen er war ein hunderfünfzigprozentiger war er denn sehr streng mit Ihnen? (Z. 77f.)
HM: Wie verlief denn Ihre Ehe?
EW: Oh mein Gott. Schlimm.
HM.: Wieso?
EW.: Weil mein Exmann ein fanatischer ZJ wurde (Z. 158f.).
Die Einzelschilderungen legen so stets nahe, Typisches über "ZJ als solche" auszusagen. Die genannten Eigenschaften sind dabei allesamt negativ bzw. sie werden als offensichtlich negative präsentiert und als Beispiel für die eigene schlimme Zeit bei der Gruppe genannt: EWs Vater und ihr Ehemann waren z.B. streng und dogmatisch, die Ältesten' sind inquisitorisch und furchteinflößend, KNs Vater war ebenfalls streng, strafte ohne Grund, BS wurde bespitzelt und mußte sich peinliche Befragungen gefallen lassen.
Die lnterviewstrategie des Moderators läßt sich zumeist als kooperativ und protegierend bezeichnen: Er fragt interessiert nach, stimmt Bewertungen indirekt durch Erstaunen oder Empörung zu, stellt keine Aussagen der Gäste in Frage. Allein im 4. Gespräch tritt er provokant und skeptisch auf. Nur hier kommt es zu lokalem, aktuellem Dissens, also einem Konflikt innerhalb der Gesprächssituation. BW und Meiser widersprechen einander sehr oft, was schon lexikalisch durch eine Häufung von Dissensmarkern wie "aber" oder", ja aber" indiziert wird. Dies ist besonders deshalb auffällig, da Meiser in den anderen Gesprächen selbst gravierende logische Brüche oder mißverständliche Formulierungen in den Äußerungen der Gäste nicht aufgreift. BW gerät von Beginn an in eine rechtfertigende Position bzw. begibt sich selbst dadurch in eine solche, daß sie mehrere Fragen als Vorwurf interpretiert, die nicht notwendig als solche zu verstehen waren. 10 Beide Sprecher beziehen sich des öfteren nicht auf naheliegende Implikaturen einer vorausgehenden Äußerung, sondern allein auf deren Proposition oder auf eine ihrer logischen Vorannahmen z.B.:
HM.: Kann man die (Anm.: die Grundlagen der Bibel) denn heute noch anwenden?
BW.: Ja sicher vergleichen Sie das doch mal mit der Mathematik. In der Mathematik die Grundlagen sind auch alt aber wenn Se die nicht anwenden kommen Sie nicht zum richtigen Ergebnis.
HM.: Ham se recht ich hab ne fünf im Zeugnis gehabt (Z.410f.).
Das Interaktionsverhalten erscheint dadurch stellenweise von beiden Seiten als bewußt unkooperativ gestaltet, beide Sprecher signalisieren eher den Willen, Recht zu behalten als Verständigung zu erzielen. Beide scheinen zwar bemüht, höflich zu bleiben, keinesfalls aber Konsens hinsichtlich der Gesamtbewertung der ZJ nahezulegen. 11 Mehrmals entsteht dadurch der Eindruck, daß ein angesprochenes Thema von Meiser resigniert deshalb abgebrochen wird, weil er keine Möglichkeit mehr zu sehen scheint, BW zu überzeugen oder sich ihrer Position zu nähern.
In allen Einzelgesprächen verweisen Meisers Äußerungen jedoch implizit wie auch explizit auf seinen Selbstanspruch, in der Sendung nicht einseitig berichten zu wollen. Er formuliert zu Beginn die Absicht, die ZJ in und durch die Sendung verstehen zu wollen, auch wenn "uns" das schwerfallen möge (Z.29). Als fairer, zwischen Positionen vermittelnder Moderator inszeniert er sich mehrmals auch dadurch, daß er einen Gast auffordert, eine wertende Äußerung zu relativieren bzw. zu überprüfen ("ist das nich 'n bißchen mit der Gießkanne?" Z.622). Auch spielt er stellenweise den "advocatus diaboli" und übernimmt vorübergehend eine die ZJ rechtfertigende Position, indem er einen Gast dazu zwingt, ein als offensichtlich unterstelltes Skandaion zu explizieren:
Was regt Sie denn eigentlich auf also ich denke meine es gibt natürlich gewisse Orden gewisse gewisse Formen der Ordnung und des Miteinander in jedem Tischtennisverein
(Z: 549).
Solche Nachfragen stellt er jedoch ausschließlich in bezug auf negative Bewertungen der ZJ, die dadurch noch stärker fokussiert und als relevante Aspekte behandelt werden. Er beharrt auch nie auf seinem Einwand, sondern akzeptiert die jeweils folgende Begründung des betreffenden Gastes, was den Eindruck verstärkt, daß es sich bei seiner Frage um eine rhetorische gehandelt hatte.
Durch seine erstaunten und empörten Reaktionen auf Schilderungen der Gäste hin, nimmt er an zahlreichen anderen Stellen zwar indirekte, aber deutliche Bewertungen vor. Vor allem im 4. Gespräch äußert er auch explizit eigene normative Ansichten ("das kann aber nicht beinhalten daß Kinder geschlagen werden.." Z.433f.). Er impliziert so mehrfach eine negative Bewertung der ZJ, denen er hier z.B. indirekt unterstellt, Kinder zu schlagen, er verurteilt die Gruppe jedoch an keiner Stelle explizit. Als Moderator ist er außerdem durch die Auswahl und Formulierung der Fragen maßgeblich für die thematische Entwicklung der Gespräche verantwortlich: Er bestimmt primär, welche negativen Erfahrungen der Gäste überhaupt zur Sprache kommen, welche Themen vertieft und erneut aufgegriffen werden. 12
Meiser verweist mehrfach auf Sachverhalte, die mit der Organisation der Sendung zu tun haben, erwähnt zum Beispiel das Team, das die Sendung vorbereitet habe, die Materialien, mit denen er sich über das Thema informiert habe, oder bezieht sich auf Vorabsprachen mit den Kandidatlnnen darüber, welche Themen angesprochen werden sollen. Er gewährt also Blicke hinter die Kulissen und wirkt damit aktiv dem der Sendung unterstellbaren Anspruch entgegen, es handelte sich um ein zufälliges, völlig spontanes Privatgespräch. Die Relevanz und Glaubwürdigkeit dessen, was in der Sendung stattfindet, scheint nach Meisers Einschätzung dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt zu sein: Man hat es nicht nötig, Absprachen zu verheimlichen oder so zu tun, als handelte es sich nicht um ein Gespräch in einer Show. Er gestaltet seine Rolle als Moderator damit nicht als die des allwissenden und unbeteiligten Fragenstellers, statt dessen erscheint er als informierter Mensch, der durchaus eine eigene Meinung zum Thema hat, wenn er auch versucht, diese zurückzuhalten. Sein Wissen über das Thema hat er sich aktiv angeeignet, er ist aber weiterhin lernwillig.
Er wirkt als unkomplizierter, direkter Mann mit "gesundem Menschenverstand", der skeptisch gegenüber übertriebenen Moralisierungen egal von welcher Seite ist und für vieles Verständnis hat. Gerade dadurch erscheinen aber die Urteile, die er ausspricht, um so glaubwürdiger und relevanter ("Wenn sogar dem der Kragen platzt "). Seine Tätigkeit und die der Redaktion bezeichnet er als "journalistische Arbeit" (Z.28), in die er sich jegliche Einmischungen verbittet. Diese Arbeit wird im Rahmen des (positiv bewerteten) freien Journalismus und der Meinungsfreiheit in Deutschland geleistet (Z.776f). 13 Als selbstgesetztes Ziel seiner selbst und seines Teams benennt Meiser die Aufgabe, "das zu sagen, was wir glauben, das gesagt werden muß" (Z.777). Die Sendung wird damit als "ernsthafter", relevanter Beitrag von allgemeinem Interesse behandelt, dem aufklärerische Funktion zukommt. Da die Bemerkung am Ende der Sendung fällt, kategorisiert sie rückwirkend alles zuvor Gesagte als Beispiel für eine solche Aufklärung.
Wie schon erwähnt, treten nur im Gespräch mit BW, der Befürworterin der ZJ, aktuelle Konfliktsequenzen auf, also Dissens zwischen anwesenden Sprechern. Konflikte werden aber auch dort als bereits bestehende angezeigt, wo den ZJ in bezug auf ein Thema zugeschrieben wird, eine andere als die erwartbare und von den Anwesenden präferierte "normale" Ansicht zu haben. Dieser Verweis auf vorgängige oder allgemeine Konflikte erfolgt zumeist durch die unkommentierte Schilderung eigener Erfahrungen im Modus der Empörung, die gleichzeitig als indirekte Vorwürfe gegen die ZJ verstanden werden müssen. Solche (indirekten) Bewertungen stellen im Blick auf die Rezipientlnnen der Sendung insofern Konfliktangebote dar, als sie zur Empörung "einladen" und sowohl Zustimmung, als auch Widerspruch, Rechtfertigungen oder Entschuldigungen als Reaktionen nahelegen. Die Themen, die in solcher Weise wiederholt von den Gästen und Meiser erwähnt werden, sind:
1) Kindheit und Jugend bei den ZJ/das Erziehungsverhalten von Eltern, die ZJ sind;
2) Der Umgang der ZJ mit Sexualität und (vorehelichen) Beziehungen zwischen Männern und Frauen;
3) Verbote von Festen wie Weihnachten, das Verbot von üblichen Vergnügungen wie Fernsehen;
4) Das Verbot von Bluttransfusionen;
5) Das Verhalten und die Funktion der Ältesten;
6) Prompte Strafen, Sanktionen, Ausschluß bei tatsächlicher oder vermuteter Übertretung interner Regeln;
7) Die Möglichkeit, innerhalb der ZJ Kritik üben und sich argumentativ über etwas auseinandersetzen zu können;
8) Doppelte Moral und Lügenbei den ZJ: für die Ältesten gilt nicht, was sie den Mitgliedern vorschreiben.
In den Gesprächen werden zu diesen wiederkehrenden Themen dabei von den einzelnen Gästen folgende Beispiele genannt:
1) Kindheit und Jugend/Erziehung
EW: Große elterliche Strenge, die sich in zahlreichen Verboten, dem Verlangen nach striktem Gehorsam und Schlägen manifestiert hat.
KN: Der Vater KNs war, weil er ZJ war, sehr streng. Er fungierte als "Vollstrecker" der Kirche; Verbote und Strafen waren rigide und wurden dogmatisch verhängt.
BW: HM und BW stimmen darin überein, daß jeder das Recht darauf habe, seinen Glauben und Lebensstil frei wählen und unbehelligt ausleben zu können Dies wird von Meiser dahingehend eingeschränkt, daß der Glaube nicht beinhalten könne, "daß Kinder gezüchtigt werden" (Z.433). HM verwendet "züchtigen" dabei im Sinne von "schlagen" und impliziert, daß eben dies bei den ZJ der Fall sei, er beruft sich auf die Schilderungen von EW und KN. BW bestreitet nicht, daß bei den ZJ den Eltern geraten würde, ihre Kinder gegebenenfalls zu züchtigen, sie betont jedoch, daß "züchtigen" nicht mit körperlicher Bestrafung gleichzusetzen sei ("das heißt ja nicht, daß ich mein Kind schlage' Z.443). Sie bestreitet außerdem, daß prügelnde Eltern der Regelfall bei den ZJ seien.
2) Sex
EW: Die ZJ haben eine ungewöhnliche Einstellung zu allen, insbesondere sexuellen, Kontakten zwischen Männern und Frauen. Diese Erfahrungen dokumentiert EW sowohl in bezug auf ihren Vater, der auf ihre Beziehung zu einem Mann aggressiv, strafend reagierte, in bezug auf die Ältesten der ZJ, die sie aufgrund jener Beziehung einer inquisitorischen Befragung unterzogen und intime Details bezüglich der Beziehung zu erfahren verlangten, als auch hinsichtlich ihres Ehemannes, der ihr den Beischlaf autoritär verordnete und als biblisch begründbare Pflicht zu behandeln schien.
KN: Es wird als Verfehlung behandelt, wenn man als männlicher Jugendlicher eine Freundin hat.
BS: Beziehungen zwischen Männern und Frauen werden mißtrauisch überwacht. Die Mitglieder müssen sich selbst für harmlose, nicht sexuell konnotierte Treffen mit dem anderen Geschlecht vor dem Ältestenrat rechtfertigen. Es gibt anonyme Anzeigen durch andere Mitglieder, man wird kontrolliert.
HS: Kontakte zwischen Männern und Frauen werden mißtrauisch auf sexuelle Kontakte hin überwacht und die Betreffenden bei Verdacht oder "Beweis" solcher Kontakte durch inquisitorische Befragungen gemaßregelt. Vorehelicher Sex ist verboten.
HC: Die ZJ haben eine "etwas verschrobene" Einstellung zu Sexualität. Da vorehelicher Sex verboten ist, werden Jugendliche dazu gezwungen, zu heiraten, auch wenn sie die dazu erforderliche Reife noch nicht besitzen.
3) Verbote 14
EW: Bei den ZJ existieren Verbote, deren Übertretung von diesen als schwere moralische Verfehlung behandelt und geahndet wird. Sie betreffen Handlungen, die außerhalb der Glaubensgemeinschaft als harmlose, übliche Handlungen gelten wie z.B. rauchen. ZJ Mitglieder werden außerdem dazu gezwungen, andere Mitglieder bei Verletzung dieser Verbote, obwohl eine solche im Allgemeinverständnis keine Sünde wäre, anzuzeigen. Dieser Zwang zur Anzeige zieht moralische Konflikte und/oder unverdiente Sanktionen nach sich. Der Glaube der ZJ bedingt das unbegründete Verbot zahlreicher ansonsten üblicher Vergnügungen wie fernsehen, erstreckt sich aber auch auf die Zukunftsplanung. 15
KN: Bei den ZJ gelten andere Moralkategorien als im sonstigen Alltag: Sie verbieten allgemein übliche, gemeinhin als unschädlich betrachtete Aktivitäten oder Sachverhalte (wie z.B. einen Ohrring zu tragen, Popplatten zu hören) und ahnden Zuwiderhandlungen als schwere (moralische) Verfehlungen.
UR: Durch die besonderen Gesetze und Verbote bei den ZJ werden sie, vor allem ihre Kinder, die dies noch nicht selbst entscheiden können, von üblichen sozialen Aktivitäten wie Geburtstagsfeiern ferngehalten.
BS: Die meisten Mitglieder der ZJ halten sich nicht strikt an die zahlreichen Gesetze der Gruppe, obwohl nach außen so getan wird und man als unerfahrenes Neumitglied den Eindruck erhält, die Gesetze seien unbedingt zu befolgen.
HC: Durch die Verbote werden vor allem Jugendlichen Erfahrungen, die sie sonst machen könnten und sollten, verwehrt. Dies bezieht sich sowohl auf sexuelle Erlebnisse als auch auf die Teilnahme an normalen sozialen Aktivitäten wie Kindergeburtstagen.
4) Bluttransfusionen 16
KN: ZJ nehmen die Einhaltung ihrer Verbote wichtiger als z.B. den Wunsch, das eigene Leben und das anderer, wenn möglich, durch eine Bluttransfusion zu retten. Ihr Handeln ist dabei jedoch innerhalb der eigenen Argumentation unstimmig, sachlich falsch.
UR: Es handelt sich bei den ZJ um eine "gefährliche Sekte" (UR Z.331). Die Mitgliedschaft bei ihnen kann zum Tode führen, wenn nämlich eine Bluttransfusion, die bei den ZJ verboten ist, das Leben retten könnte.
5) Älteste, Organisation der ZJ
EW: Die Ältesten haben in einer Gemeinde totalitäre Befugnisse gegenüber den Mitgliedern der ZJ. Sie verlangen von diesen ohne Grund die uneingeschränkte Offenlegung auch bzw. vor allem intimer Details ihres Privatlebens.
KN: ZJ, insbesondere die Obersten (Ältesten), zeichnen sich auch im privaten Rahmen durch Kälte und Unmenschlichkeit aus. 17
HS: Das Privatleben aller, selbst angehender Mitglieder der ZJ, wird scharf überwacht, bei Verdacht auf Übertretung einer Norm wird auch mit Drohungen und Einschüchterungen gearbeitet.
6) Strafen, Sanktionen, Umgang miteinander
EW: Als normale und normativ erwartbare Möglichkeit, jemanden von etwas zu überzeugen, stellt Meiser der körperlichen Züchtigung die Argumentation gegenüber. 18
EW beschreibt jedoch, daß ihr Vater auch verbal aggressiv gewesen sei und sich sein sprachliches Verhalten nicht kategorisch von körperlicher Züchtigung unterschieden hätte ("verbal breitgeschlagen" Z.98). Die Bibel diente dabei als Instrument, mit dem Befehle pauschal begründet wurden.
Der Austritt bei den ZJ führt dazu, daß selbst Eltern und Geschwister sich von einer Person abwenden, bei EW hatte dies zur Folge, daß sie einen Selbstmordversuch unternommen hat.
BS: Selbst der Verdacht, jemand habe vorehelichen Sex, reicht aus, ihn oder sie durch Ausschluß aus der Gruppe zu bestrafen. Frauen werden bei den ZJ in einer Weise behandelt, die im Vergleich zum sonst Üblichen sowohl als veraltet als auch als diskriminierend gelten muß. BS berichtet von einem Fall, in dem man sie kritisiert und bestraft hat, weil sie einen Hosenrock getragen habe.
HS: ZJ helfen einander (und anderen Menschen) nur gegen Geldleistungen.
UR: UR äußert, in der starren Hierarchie der ZJ ständen Frauen "sicher nicht an oberster Stelle" (Z.371). Interesse an Mitmenschen ist bei den ZJ nicht wirklich vorhanden, sondern gespielt. Zuneigung, Hilfe und Unterstützung werden bei ihnen von der rein formalen Befolgung der internen Normen und Gesetze abhängig gemacht.
7) Kritik äußern können
BW: Meiser impliziert im Gespräch mit BW, daß es bei den ZJ nicht möglich sei, Kritik am Verhalten anderer ZJ oder der Gemeinschaft zu üben. BW bestreitet dies nicht direkt, sondern geht auf die Präsupposition seiner Äußerung ein, indem sie einwirft, bei den ZJ gebe es auch keinen Anlaß zur Kritik (Z.452f.).
HC: Die Vorschriften der ZJ erstrecken sich nicht allein auf praktisches Handeln, sondern auch auf das zu Glaubende. Auflehnung und Kritik sind in keinem Fall erlaubt.
Eine Saalzuschauerin war früher ZJ und hat nach ihrem Ausstieg eine Initiative gegen die Organisation gegründet. Nach einem kritischen Vortrag wurde sie von zwei Frauen der ZJ aufgesucht, bedroht und belästigt.
8) Doppelter Standard/Schein(moral)
BS: Bei den ZJ herrscht ein doppelter Moralstandard: die strikte Befolgung vorgeschriebener Regeln wird von den normalen Mitgliedern verlangt, während sich die Ältesten und ihre Familien selbst nicht daran halten.
HS: Bei näherer Kenntnis der internen Praxis der ZJ zeigt sich diese geprägt von Heuchelei, Lügen und Arroganz. Was den "normalen Mitgliedern als unbedingt einzuhaltende Norm vorgeschrieben wird, befolgen die Ältesten nicht selbst. Übertretungen durch die Ältesten werden nicht wie eigentlich vorgeschrieben geahndet.
Glaubensgrundsätze der ZJ werden nur indirekt angesprochen. So wird beispielsweise mehrfach erwähnt, daß sie das Weltende (Armageddon) erwarteten und das eigene Leben danach ausrichteten. Diese Annahme wird im Gespräch nicht explizit verworfen oder akzeptiert, sondern hinsichtlich ihrer Folgen und Auswirkungen auf die Mitglieder der ZJ verurteilt: Es werde ihnen gezielt Angst eingeflößt. In Zusammenhang damit wird das Gottesbild der ZJ als "pervers" verurteilt (Z.732-745). Keiner der Anwesenden spricht explizit an, worin und in welchem Maße sich der Glaube der ZJ von dem anderer christlicher Kirchen unterscheidet. Auf die katholische und evangelische Kirche wird zwar mehrfach verwiesen, jedoch zumeist in solchen Zusammenhängen, in denen es darum geht, die negative Besonderheit der ZJ zu verdeutlichen. An einer anderen Stelle wird der Vergleich inhaltlich so gut wie ignoriert: BW weist darauf hin, auch bei der katholischen Kirche gebe es mit der Beichte eine Praxis, die der intimen Befragung durch Älteste, die den ZJ zum Vorwurf gemacht werde, vergleichbar sei. Dies wird jedoch von Meiser ironisch dadurch aufgegriffen, daß er erwidert, er sei evangelisch und also der falsche Ansprechpartner (Z.484f.). 19
Alle von den Gästen geschilderten Sachverhalte und Erlebnisse werden von Meiser und den anderen Gästen (außer BW) gleichermaßen als Belege für die negative Gesamtbewertung der ZJ behandelt, es wird dabei keine Differenzierung in mehr oder weniger tolerierbare Aspekte vorgenommen. Alle Einzelthemen werden vielmehr nach dem binären Schema "gut" oder "schlecht" bewertet, das, da die jeweiligen Skandalons so gut wie nie expliziert werden, auf der Ebene des Gesagten als identisch mit der Unterscheidung "normal / nicht normal" erscheint. 20
Hinsichtlich des innerhalb der Sendung konstituierten "moralischen Raumes" läßt sich auf formaler Ebene eine "Scheu" gegenüber eindeutig im moralischen Code verfaßten Äußerungen ausmachen, also gegenüber normativen Bewertungen oder Feststellungen im Modus der Gewißheit. Dies gilt vor allem für den Moderator, der mehrmals pauschale Urteile der Gäste relativiert, z.B.:
Ist das nich n bißchen mit der Gießkanne? (Z.622)
Aber Aber nennen Sie mir um Gottes willen einen der ohne Fehl und Tadel is. (Z.657).
Meiser selbst formuliert eigene normative Überzeugungen oft individualisierend, wodurch er ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit einschränkt 21:
Ich ( .. ) denke also jeder soll nach seiner Facon selig werden solang' man da jetzt nich in irgendeiner Form angesprochen wird (Z. 171 f);
Ja gut aber ich denke der Glauben kann nicht beinhalten daß Kinder gezüchtigt werden (Z.433).
"Moralische" Lexeme erscheinen selten und werden hier meist ironisierend als Beispiele für den Wortgebrauch der ZJ verwendet:
HS: Du du du, aus der Weit des Bösen (Z.55);
HM: Jetzt sind Sie der Böse
HS: Jetzt bin ich der Böse (Z.226).
Die sprachlichen Bezeichnungen erscheinen als übertrieben und lächerlich, da eine moralische Verurteilung des betreffenden Handelns von den Sprechern offensichtlich als unangemessen erachtet wird, z.B. beim Rauchen, dem Tragen eines Ohrrings, Plattenhören oder vorehelichem Sex. Als falsch wird dabei jedoch immer die jeweils zitierte spezifische Verwendungsweise des Lexems durch die ZJ gekennzeichnet, nicht das Lexem oder sein Referent. Nicht die sprachliche Kategorie wird also in Frage gestellt, sondern ihre unangemessene Anwendung auf einen Referenten:
HM: Ohrring is ja schon unsittlich wo beginnt eigentlich oben oder unten (Z. 234)
Mehrfach werden moralisch relevante Behauptungen jedoch auch als Tatsachen und unbezweifelte Gewißheiten formuliert, über deren Geltung und Gültigkeit kein Zweifel zu bestehen scheint:
H: ( .. ) wenn jemand in die Öffentlichkeit geht wie auch immer dann muß er sich auch gefallen sein daß gefallen lassen daß man sich kritisch damit auseinandersetzt (Z.428).
Die meisten moralisierenden Bewertungen werden jedoch indirekt vorgenommen Normen und Werte fungieren dabei als nicht explizierte argumentative Schlußregeln, die in Form unkommentierter Schilderungen von Erlebnissen oder Fakten sowie deren kommunikativer Aufnahme durch Erstaunen oder bestätigende Entrüstung realisiert werden. Die jeweils verletzte Norm wird als bekannt und offensichtlich behandelt und damit dem Bereich des als gemeinsam unterstellten Welt- und Implikationswissens, dem kollektiv Geltenden zugeschrieben. Da außer im 3. Gespräch kein Widerspruch anderer Sprecherlnnen erfolgt, bleiben die damit erhobenen Ansprüche auf kollektive Geltung in der Sendung immer unangetastet. Aber auch im Gespräch mit BW sind zumindest auf Ebene der manifesten Äußerungen keine Werte oder Normen strittig, sondern Fragen der Verallgemeinerbarkeit oder Wahrheit von Behauptungen.
Der "moralische Raum" als Summe der moralischen Bewertungen, die direkt oder indirekt unter den Sprechern konsensuell akzeptiert bzw. zumindest als allgemein tolerierbar behandelt werden, stellt sich folgendermaßen dar:
Als moralisch schlecht und grundsätzlich abzulehnen werden bewertet:
Positive Werte ergeben sich fast ausnahmslos nur ex-negativo' aus der Umkehr der tatsächlich vorgenommenen Bewertungen. Impliziert wird so die moralische Richtigkeit folgender Punkte:
Die Geltung dieser normativen Bewertungen wird zumeist recht unspezifisch unterstellt, in einigen Fällen werden jedoch differenziertere Anwendungsregeln angedeutet, indem Bedingungen genannt werden, unter denen die Geltung von Normen einzuschränken oder auszusetzen ist, z.B.:
HM: .. denke jeder soll nach seiner Facon selig werden solang 'man da jetzt nich in irgendeiner Form angesprochen wird. (Z. 1 70f:)
HM: Also ich denke wir leben in einem Lande in dem jeder nach seiner Facon selig werden kann.
UR.: Selbstverständlich und wenn er damit glücklich is und meint sein Leben so gestalten zu können dann will ich das niemandem ausreden (Z.326f.);
HM.: Aber was ist denn gegen die ZJ einzuwenden?
UR.: Also ich sage mal es ist erst mal eine gefährliche Sekte. (..) wo klar ist, daß die Mitgliedschaft zum Tode führen kann nämlich im Falle daß man einen Unfall hat und eine Bluttransfusion bekommen muß (Z. 330ff .).
Als übergeordnete Norm, die hier jeweils als Ausnahmeregel fungiert, beziehen sich alle Sprecher darauf, daß die Freiheit und Selbstbestimmung eines jeden dort aufzuhören habe, wo sie die Freiheit oder Gesundheit bzw. das Wohlbefinden eines anderen einschränkt. 23 Es sind dies die einzigen Fälle, in denen soziale Verpflichtungen und nicht individuelle Rechte von einzelnen eingeklagt werden. Wo jeweils die Grenze zu bemessen ist, was und wodurch jemand durch das Handeln eines anderen in nicht zu tolerierender Weise eingeschränkt wird, wird nicht abstrakt definiert, sondern nur in bezug auf den betreffenden Fall extensional bestimmt.
9.2 Analyse der Briefe
Von den 26 Briefen 24 fungieren die meisten als kritische Stellungnahmen und/oder Kommentare zur Sendung. In allen wird diese als kohärenter argumentativer Text behandelt, der sich auf das Thema "Zeugen Jehovas" bezog. 25 Indirekt wird der Show dabei in fast allen Briefen die thematische Makroproposition zugeschrieben, die ZJ seien abzulehnen, sie seien verdächtig oder gefährlich. Des weiteren verweisen die meisten Zuschriften indirekt darauf, daß die Verfasserinnen der Sendung bzw. den Gästen und Meiser zumindest den Anspruch unterstellen, verallgemeinerbare Aussagen über die ZJ gemacht zu haben. Die Schilderungen der Gäste werden also nicht als unverbundene Einzelfälle behandelt, sondern als Beispiele innerhalb eines thematischen Zusammenhangs.
Thematisch und gemäß ihrer primären illokutiven Funktion lassen sich die Briefe grob in fünf Gruppen unterteilen:
Was der Mensch alles so an böses denkt Das hat der Mensch auch, also ist es der Mensch alleine, was er aus der Weit macht, daß ist er selbst. (..) Wie Engelwesen Lene sagt, es wird eine harte Prüfung verlangt so waren auch meine seelischen Schmerzen, die ich Dank von Jesus Christus überstanden habe (Nr.3). 29
Ich konnte diese Briefe weder als unmittelbare Erwiderung oder Ergänzung zu einem der in der Sendung behandelten Subthemen (wie "Verbote bei den ZJ" o.ä.) verstehen noch z.B. als Kritik oder Lob in bezug auf die Sendung in ihrer Eigenschaft als Gesprächsrahmen. Die erkennbare Verbindung der Briefe zum Bezugstext war die Tatsache, daß sie als Reaktion auf diese beim Sender eingegangen und zum Teil an Hans Meiser adressiert waren, außerdem der Umstand, daß sie sich durch die Bibelzitate in thematische Kohärenz mit dem Aspekt "Religion" und damit dem Thema der Sendung bringen ließen. Letzteres bedurfte jedoch schon in hohem Maße der Interpretation.
In zahlreichen Briefen verweisen Formulierungen indirekt auf illokutive und/oder perlokutive Funktionen, die der jeweilige Verfasser der Sendung zugeschrieben hat. Lobend werden dabei Aufklärung, Information und Wamung genannt (Nr.2, 7, 8 und 24). In einem Brief wird die Aufklärung über Gefahren zwar als eigentliche Aufgabe einer Talksendung dargestellt, die aber in dieser Folge nicht voll erfüllt worden sei:
Ziel müßte auch sein, zusehende Zeugen zum Nachdenken anzuregen.
aber gerade Ihre gestrige Sendung schien mir (..) eher auf Effekthascherei angelegt zu sein (Nr.25).
Kritisch wird in den anderen Briefen hingegen angeführt, Meiser habe die ZJ "mit Dreck beworfen" (Nr.1), auf den ZJ als Minderheit sei herumgetrampelt worden (Nr.18), es seien die negativen Seiten der Gruppe groß in den Vordergrund gestellt worden (Nr.18). Die Sendung habe die Konsequenz beinhaltet, man müsse die ZJ vernichten (Nr.1) oder sie deshalb verachten, weil sie einen anderen Glauben hätten (Nr.24). Aus Sicht der Verfasserlnnen legte die Sendung außerdem offenbar nahe, die ZJ am Ende als "kinderquälende Monster' (Nr.11), als "gefährliche Sekte" (Nr.24) oder "totalitäre verabscheuungswürdige Kirche" (Nr. 1 8) einzustufen.
Mehrfach wird kritisch festgestellt, die Sendung habe einseitig zum Schaden der ZJ berichtet, es wird gefordert, auch die ZJ müßten Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten:
Nr.4: Ohne länger auf den subjektiven Inhalt der Sendung eingehen zu wollen (..) bewerten die Dinge so, wie sie sind, und nicht wie einige parteiische Menschenmeinungen sie gern sähen
Nr.6: daß Sie gern derartige Sendungen über Jehovas Zeugen machen, jedoch immer (..) einseitig berichten (lassen). (..) die Gegenseite (..) hat aber dieselben Rechte.
Nr.10: und vielleicht gelingt es Ihnen ja auch, noch einmal die Gegenseite anzuhören.
Nr.20: .... sondern Ihre Vorurteile in einer manipulativen Moderation gegen diese Glaubensrichtung zum Ausdruck brachten.
Die Art von Meisers Umgang mit den Gästen wird nur selten angesprochen, 30 ebenso werden selten einzelne Gäste und ihre Äußerungen erwähnt. In diesen Fällen wird pauschal auf "die Gäste" verwiesen und z.B. kritisiert, diese hätten nicht die Wahrheit gesagt, ihre Aussagen seien nicht verallgemeinerbar oder man könne von ehemaligen Zeugen ohnehin keine objektive Meinung erwarten. Nur auf das Gespräch mit B. Wendt wird mehrmals gesondert Bezug genommen, was ihre oben aufgezeigte Sonderstellung in der Show bestätigt. 31 Erwiderungen und Kommentare beziehen sich so zumeist nicht auf einzelne Sprecher hinsichtlich ihrer möglichen Motive, ihrer Glaubwürdigkeit oder ihres Wissens, sondern auf den propositionalen Gehalt und die pragmatischen Implikationen von Aussagen, die der Lesart der Rezipientinnen nach in der Sendung über die ZJ gemacht wurden.
In den Briefen werden Meiser als Adressaten unterschiedliche Rollen und Funktionen zugewiesen, die sich jedoch nur selten anhand einzelner Formulierungen manifestieren, sondern sich erst aus dem argumentativen Zusammenhang und der illokutiven Gesamtfunktion des Briefes ergeben.
a) Er wird als Zugehöriger zur Partei der ZJ-Gegner behandelt und damit als jemand, der unmittelbar am thematischen Diskurs zu bzw. über die ZJ beteiligt ist. Dies bringt ihn in Relation zum jeweiligen Verfasser des Briefes einerseits in die Rolle des Gegners, dessen Meinung berichtigt oder widerlegt werden muß. Die Position, von der aus die Verfasser argumentieren, ist dabei nicht notwendig die eines Mitglieds der ZJ. 32 Die Position als thematisch lnvolvierter bringt Meiser andererseits aber auch in die Rolle eines "Verbündeten", dem Konsens hinsichtlich der Verurteilung der ZJ unterstellt wird und dem man z.T. als gemeinsames Ziel zuschreibt, aktiv gegen die ZJ handeln zu wollen. 33 Keiner der Schreibenden geht jedoch davon aus, Meiser sei ein Befürworter der ZJ. Auch hierin stimmt meine in 9.1 dargelegte Lesart der Sendung mit der der anderen Rezipientinnen überein.
b) In anderen Briefen wird Meiser als jemand angesprochen, der sich noch keine feste Meinung zu bestimmten Themen gebildet hat, aber sich über sie informieren will oder dies soll. Er wird als zu Belehrender oder Suchender behandelt, dem man zusätzliche Informationen über die ZJ bzw. einzelne ihrer Eigenschaften zukommen lassen muß, der aber nach der Sendung wahrscheinlich einen negativen Eindruck von den ZJ erhalten hat. 34
c) Er wird drittens in manchen Briefen als neutrale Instanz angesprochen, als eine Art richtende Institution, die es z.B. davon zu überzeugen gilt, daß in der Sendung Falsches über die ZJ gesagt worden sei bzw. daß die Globalaussage, diese seien abzulehnen, unberechtigt sei. Er wird in dieser Rolle jedoch auch von Kritikern der ZJ angesprochen, die sich quasi an ihn als relevante Instanz zur Absegnung oder Bestätigung der eigenen Ansicht wenden. 35
In zwölf Briefen wird Meiser dabei stellenweise auch als "Privatperson" adressiert, d.h. als jemand, der nicht nur aufgrund seiner Rolle als Moderator, sondern "als Mensch" thematisch involviert ist, z.B. Nr.11:
Auch Ihre Frau wird darauf achten was sich Ihre beiden Töchter ansehen.
Alle Zuschriften, auch die Briefe oder Sequenzen, die sich nicht explizit auf einzelne Themen oder Ausschnitte der Show beziehen, lassen sich nur dann als kohärente und relevante Texte interpretieren, wenn man sie als Argumente in bezug auf die globale Quästio "wie sind die ZJ zu bewerten?" versteht. Die kritischen Briefe fungieren in dieser Sicht alle als (pragmatische) Widersprüche auf die der Sendung zugeschriebenen Makroproposition "Die ZJ sind abzulehnen" Widerspruch erfolgt dabei jedoch nicht dadurch, daß die Verfasserinnen diese Makroproposition und/oder die übergeordnete Frage benennen würden, sondern dadurch, daß sie
a) positive eigene Erfahrungen mit den ZJ erwähnen;
b) positive Eigenschaften der ZJ anführen;
c) direkt oder indirekt Vorwürfe zurückweisen, die in der Sendung gegen die ZJ geäußert wurden (bzw. die sie der Sendung oder einzelnen Sprechern zuschreiben); 36
d) die Sprecher, denen sie bestimmte Bewertungen zuschreiben, diskreditieren und ihre Glaubwürdigkeit oder ihre Absichten in Frage stellen.
Andere Briefe fungieren umgekehrt als Bekräftigung oder Ergänzung der negativen Bewertung der ZJ, indem in ihnen der Wahrheitsanspruch von Vorwürfen gegen die Gruppe durch eigene Erfahrungen bestätigt wird oder auch neue, noch nicht erwähnte Vorwürfe gegen die ZJ erhoben werden. Bewertungen werden dabei zumeist durch die unkommentierte Schilderung eigener Erlebnisse vorgenommen, deren Charakter als empörende Beispielgeschichte präsupponiert wird.
In den Briefen, die negative Anschlüsse an die Sendung darstellen, also Kritik üben oder Widerspruch äußern, werden zum einen Wahrheitsansprüche einzelner Propositionen zurückgewiesen und dadurch als strittig behandelt: Es wird durch Beispiele oder auch den Verweis auf die eigene Gewißheit bestritten, bestimmte Behauptungen entsprächen der Wahrheit oder seien in bezug auf alle ZJ zutreffend. Die meisten negativen Anschlüsse erfolgen dabei unmittelbar, das heißt, der Verfasser bezieht sich nicht von einer Meta-Ebene aus als Beobachter auf "die Sendung, in der gesagt wurde", sondern formuliert ohne explizite Benennung der Bezugsäußerung seinen Widerspruch bzw. eine alternative Sichtweise eines Sachverhaltes. Er begibt sich damit selbst in die Position eines "Sprechers", der an einer thematischen Diskussion beteiligt ist, nicht in die desjenigen, der aus der Distanz heraus Gespräche anderer beobachten würde.
Bestritten werden dabei in bezug auf die Zeugen Jehovas folgende Zuschreibungen:
es gebe bei ihnen unangenehme intime Befragungen; es gebe Hilfe nur gegen Geld; man dürfe bei ihnen keine Kritik üben; Frauen würden bestraft, wenn sie Hosen trügen; Frauen dürften kein Hilfe von anderen Männern als ihren Ehemännern annehmen; man dürfe nicht fernsehen; man bekomme keine Ausbildung; man könne nicht ungehindert aus der Gemeinschaft ausscheiden; Mißhandlung und Mißbrauch von Kindern seien üblich; es gebe Hurerei' unter den Mitgliedern; die ZJ seien eine Sekte; man werde indoktriniert und bekomme eine Gehirnwäsche.
Interessant ist dabei, daß in einigen Briefen etwas bestritten wird, das in der Sendung nicht explizit genannt wurde, so z.B. der Vorwurf des Kindesmißbrauchs oder der lndoktrination. Dies legt nahe, daß diese Themen für die Verfasser entweder solche sind, die normalerweise in Diskussionen um die ZJ erwähnt werden, so daß der Widerspruch sozusagen präventiv geäußert wird, oder aber, daß das betreffende Thema beim Schreibenden als kognitives Konzept eng mit einem anderen erwähnten Thema zusammenhängt und so "mitaktiviert" wurde. 37
An keiner Stelle wird eingewendet, das betreffende Thema sei doch völlig irrelevant oder kein nachvollziehbares Skandalon. Daß bestimmte Eigenschaften in bezug auf die ZJ bestritten werden, impliziert statt dessen, daß die Verfasserlnnen die jeweilige Eigenschaft oder Handlungsweise als eine solche einschätzen, die normalerweise von anderen negativ bewertet wird und die sie auch selbst so beurteilen. Dadurch, daß sie zumindest nicht offen in Frage stellen, ob es sich um eine wichtige und verurteilenswerte Eigenschaft handeln, sondern betonen, die ZJ besäßen eben diese Eigenschaft nicht, bestätigen sie indirekt die vorgegebene Bewertung und damit die angedeutete intersubjektive Geltung der jeweiligen (moralischen) Norm.
In bezug auf einige Themen erfolgen jedoch auch Rechtfertigungen, mit denen direkt oder, zumeist, indirekt die negative Bewertung bestimmter Handlungen oder Eigenarten der ZJ bestritten wird. Dies ist der Fall in bezug auf - einzelne Verbote, Normen und Regeln bei den ZJ, speziell solche, die den Umgang mit dem anderen Geschlecht regeln, und das Verbot, fremdes Blut zu erhalten;
In den meisten Briefen, die negative Anschlüsse an die Sendung darstellen, finden sich auch "neue" Vorwürfe, die direkt oder indirekt gegen unterschiedliche Personen, Gruppen und Instanzen erhoben werden. Zumeist erfolgen diese im Anschluß oder in Verbindung mit einer rechtfertigenden, korrigierenden Bezugnahme auf einen Vorwurf gegen die ZJ. "Neues" Ziel von wertenden Bezugnahmen ist dabei vor allem die Sendung selbst, d.h. das Verhalten des Moderators und die Gestaltung der Show. Es wird jedoch auch kritisch auf andere Gruppen verwiesen, die in der Sendung weder anwesend waren noch explizit erwähnt wurden. "Neue" Vorwürfe finden sich auch in einigen Briefen, die sich zwar kritisch zu den ZJ äußern, aber auch an der Sendung etwas bemängeln.
Neben Bewertungen in bezug auf das Thema der Sendung, also die ZJ, tritt so in den Briefen als zweite globale Quästio die Frage danach hinzu, ob jenes Thema in der Show angemessen und akzeptabel behandelt worden sei. Ähnlich wie Meiser unterschiedliche Funktionen und Rollen zugewiesen wurden, wird dabei auch die Sendung in unterschiedlicher Weise kategorisiert. Sie wird behandelt - als Beitrag zu einer öffentlichen Diskussion über das Thema ZJ, damit als Teil/Fortsetzung eines vorgängigen und andauernden Diskurses mit vielfältigen Verknüpfungen zu anderen (Sub)themen; - als Talkshow mit dem Thema ZJ, an die aufgrund ihrer Gattungsspezifizität bestimmte normative Erwartungen zu stellen sind, - als Handlungsrahmen für Hans Meiser, innerhalb dessen er rollenspezifischen oder allgemeinen sozialen Umgangs- und Verhaltensnormen (nicht) entsprochen hat.
Die im Korpus erhobenen Vorwürfe lassen sich nach ihren jeweiligen Adressaten untergliedern. Vorgeworfen wird
Hans Meiser, er
Die Sendung insgesamt sei nicht ausreichend für eine wünschenswerte Aufklärung über die ZJ, schlecht recherchiert und geschmacklos gewesen, die Gäste seien nicht repräsentativ gewesen.
Die Gäste hätten gelogen und seien niveaulos gewesen.
Das Saalpublikum habe nach einer ungehörigen Entgleisung des Moderators auch noch applaudiert.
Auch auf auf andere Gruppen oder Institutionen, die nicht in der Sendung erwähnt wurden, wird kritisch Bezug genommen, z.B. die christlichen Großkirchen, die sich nicht um die Menschen kümmerten, Gruppen wie den ZJ Mitglieder zutrieben; deren Mitglieder sich an Kriegen beteiligt hätten; die korrupte Institutionen und am Waffenhandel beteiligt seien; deren Oberste selbst moralische Verfehlungen begingen. 38
Alle benannten Handlungen oder Sachverhalte werden als offensichtliche und gravierende Verletzungen normativer Erwartungen behandelt, die bei den Schreibenden vor allem Empörung, aber auch Besorgnis ausgelöst haben.
Fast alle Zuschriften enthalten so explizite oder implizite Hinweise auf kognitive und vor allem normative Erwartungen der Verfasserinnen über Form, Gestaltung, Aufgaben und Wirkungsmöglichkeiten von Talkshows sowie die Rollen von Moderator und Gästen:
Nr.1: besser rescherschieren
Nr. 2: gut, daß Sie in der Sendung vom 21. 1. wieder mal auf die ZJs aufmerksam machten
Nr.4: Ansonsten erschreckte mich die aussagenschwache Polemik eines Moderators der es eigentlich besser wissen müßte
Nr.9: Solch eine Sendung sollte eigentlich auf genauerer Kenntnis beruhen.
Bitte informieren Sie sich genauer, eh Sie es an die Menschen herantragen Ein Reporter soll doch für das Recht eintreten.
Nr. 13: Auch ein Medienstar sollte Niveau haben.
Nr. 15: Oft bewundere ich -die Themen sind des öfteren delikat- Sie wegen Ihrer Ruhe und Fassung
Nr.20: Unterstützt wurden Sie von einer Reihe von Studiogästen, die in einer übertriebenen Art von Profilierungsneurose zu deutlich erkennbaren Lügen Zuflucht nahmen
Nr.22: Sie als Moderator haben (..) aus meiner Sicht auch eine Verantwortung es geht nicht nur um die Einschaltquote des Senders sondern sie sollten auch darauf achten das so ein Thema nicht nur zur Belustigung dient sondern die Leute sollen auch zum Nachdenken angeregt werden hauptsächlich die Jugend
Nr.23: Deshalb finde ich es auch gut, daß es Sendungen wie die Ihre gibt. Man kann meiner Meinung nach nicht genug vor dieser Religions-Mafia warnen. (..)
Die mehr oder weniger direkte formulierten Ansprüche stimmen in ihrem Sachgehalt weitestgehend überein. Als normative Forderungen lassen sich so zusammenfassen:
Ein Moderator
Eine Talk Show sollte
- aufklären, zum Nachdenken anregen und nicht nur der Belustigung dienen, vor allem Betroffene/besonders schützenswerte Gruppen informieren.
Die eingeladenen Gäste sollten
die Wahrheit sagen, niemanden verunglimpfen, nicht für Geld falsch aussagen.
Saalzuschauer sollten nicht bei Entgleisungen klatschen. 39
Diese normativen Forderungen werden zumeist durch negative Bewertungen der konkreten Sendung impliziert. Diese sind in den meisten Fällen entweder im Modus der Gewißheit, als unkommentierte Feststellungen oder rhetorische Fragen gehalten, oder aber sie richten sich in Form von expliziten Sollensforderungen an den Moderator bzw. die Redaktion. Individualisierende Zusätze wie "meiner Meinung nach" sind dagegen selten. Indirekt wird damit der Anspruch nahegelegt, daß das Geforderte nicht nur in bezug auf diese spezielle Sendung erwartet wird.
9.3 Detailanalysen
Zwei der in 9.1 erwähnten inhaltlichen Sub-Themen, die in der Sendung und den Briefen wiederholt behandelt werden, sollen im folgenden detaillierter dargestellt werden. Es handelt sich zum einen um das Thema "Verbote alltäglicher bzw. üblicher Handlungen bei den ZJ", zum anderen um eine Unterkategorie dieses Themas, nämlich dem Verbot, Bluttransfusionen vorzunehmen. Ich skizziere zunächst jeweils, wie das Thema in der Sendung behandelt wurde, welche moralischen Bewertungen hierbei in bezug auf welche Sachverhalte und Personen ex- oder impliziert wurden. Anschließend stelle ich die Stellen aus dem Briefkorpus vor, in denen das Thema ebenfalls direkt oder indirekt aufgegriffen wurde. Diese werden in ihren argumentativen Funktionen als Widersprüche, Bestätigungen oder Ergänzungen zu dem in der Sendung Geäußerten analysiert und hinsichtlich ihrer Rolle in bezug auf die Art und inhaltliche Gestaltung der Aushandlung von Moral reflektiert. 40
9.3.1 Thema "ZJ-spezifische Verbote von Alltagshandlungen"
9.3.1.1 Sendung:
Besondere Verbote, die es für Mitglieder der Zeugen Jehovas einzuhalten gelte, werden von Meiser bereits zu Beginn des Interviews mit dem ersten Gast Elke Wenigwieser (EW) thematisiert. Sie sei, so Meiser, in "gewisse Zwickmühlen" gebracht worden, weil ihre Mutter nur eine "dreißigprozentige" ZJ gewesen sei und deshalb vieles "weitaus lockeres' gesehen habe, als es die Lehre der ZJ vorschreibe (Z.54ff.). EW bestätigt dies und fügt an, sie sei deshalb oft in Konflikte geraten, da man verpflichtet sei, alle Fehler anderer anzuzeigen, wenn man sie bemerke. Ansonsten drohe einem dieselbe Strafe wie dem Täter, nämlich "Vemichtung" (Z.63). Meiser fragt anschließend nach, ob ihre Mutter denn gesündigt habe, was EW bejaht. Meiser spezifiziert diese Antwort mit dem Hinweis, sie, die Mutter, habe geraucht und EW habe nichts gesagt, obwohl das "eigentlich verboten" sei (Z.67f.).
Die Existenz dieses Verbotes bei den ZJ wird weder von HM noch EW explizit bewertet oder kommentiert, Meiser geht statt dessen unmittelbar zur nächsten Frage über, ob ihr Vater als "hunderfünfzigprozentiger" ZJ denn besonders streng mit EW gewesen sei. Da Rauchen außerhalb der ZJ nicht zu den explizit verbotenen Handlungen gehört, impliziert die unkommentierte Schilderung zum einen ein kognitives Erstaunen. Es wirkt als verwunderliche Besonderheit, die jedoch in bezug auf die ZJ dadurch als aussagekräftig erscheint, daß HM und EW es offenbar nicht für angebracht halten, das Verbot zu erläutern. Die ZJ werden damit indirekt als "natürlich anders" beschrieben: Abweichungen vom Normalen muß man bei ihnen hinnehmen, es ist sinnlos danach zu fragen, warum diese Abweichungen existieren. Durch den Hinweis darauf, die Verbote hätten EW in moralische Konflikte gestürzt, da sie zwischen der Angst vor Strafe und dem Verrat ihrer Mutter hätte wählen müssen, fügt der Schilderung dabei eine moralisch wertende Implikation hinzu: Die Existenz bestimmter Verbote bei den ZJ hat verurteilenswerte Folgen für ihre Mitglieder. Diese Sequenz schließt unmittelbar an die vorhergehende Feststellung Meisers an, EW sei in eine ZJ Familie hineingeboren worden (s.o.). Zwischen den in der Familie praktizierten Verboten und dem "ZJ-Sein" der Eltern wird damit eine Kausalrelation impliziert.
Explizites Thema desselben Gespräches werden Verbote dann wieder in Zeile 99ff .:
HM.: Gab's denn Verbote für sie?
EW.: Ja.
HM.: Was war verboten?
EW.: Es gab nur Verbote.
HM.: Was war denn verboten?
Im weiteren Verlauf der Sendung schildern dann sowohl EW als auch die Gäste KN, BS und HC eigene Erfahrungen mit Ver- und Geboten, die es bei den ZJ gebe und die sie jeweils als typisch für die Gruppe präsentieren. 41 Alle Sprecher, Meiser inbegriffen, konzeptualisieren diese Verbote dabei stets als negativ bewertete Einschränkungen, die Menschen ohne ersichtlichen Grund von Wichtigem, Vergnüglichem oder schlicht Üblichem abhielten. Dies manifestiert sich auch auf lexiko-semantischer Ebene, indem stets "nicht dürfen" oder "müssen" bzw. deren semantische Äquivalente verwendet werden: 42 Z.110 durfte in keinen Sportverein, durfte keine höhere Schule besuchen, Z.342 Kinder dürfen nicht zu Geburtstagen gehen, Z.354 ZJ Eltern zu Kind: dann mußt du bitte rausgehen, Z.379 Frauen können keine Ämter übernehmen, Z.512 streng nach den Regeln und Gesetzen der ZJ gelebt, Z.691 keine Möglichkeit haben sexuelle Erfahrungen zu machen.
Die Gäste führen außerdem Beispiele an, in denen sie selbst oder andere für Handlungen bestraft wurden, die außerhalb der ZJ als normal gelten: rauchen, als junger Mann eine Freundin haben, als Frau Hosen tragen u.a.. Es wird nicht expliziert, daß die betreffenden Handlungen aus Sicht der Sprecher normal und harmlos seien. Dies wird lediglich impliziert, indem die jeweiligen Bestrafungen im Modus der Empörung geschildert und die entsprechenden Verbote dadurch als offensichtlich unberechtigt und sinnlos behandelt werden. Nur im Gespräch mit HC wird durch die Formulierung "etwas verschrobene Ansicht über Sexualität" (Z.688) eine direkte negative Bewertung der ZJ-Praxis vorgenommen. 43
Im Gespräch mit UR (Gast Nr.3) erwähnt Meiser, es sei seines Wissens nach bei den ZJ verboten, Weihnachten und Ostern zu feiern, und Kinder von ZJ dürften nicht auf Parties und Kindergeburtstage gehen. Auch EW und KN hätten ja zuvor Ähnliches berichtet. 44 Die Wachturm-Gesellschaft habe aber nach einer früheren Sendung Meisers bestritten, daß diese Verbote existierten. UR soll nun "als Fachmann" (Z.346) sagen, wer recht habe. UR antwortet, in der von den ZJ produzierten Literatur werde darauf hingewiesen,
daß viele dieser Feste heidnischen Ursprungs wären und daß natürlich ein wahrer Christ der ins Paradies kommen möchte diese heidnischen Feste nicht feiert. Also Weihnachten ist ein heidnisches Fest, Ostem is ein heidnisches Fest und selbst Geburtstag würden wahre Christen nich feiern (Z.347f).
Durch die Verwendung des Konjunktivs distanziert sich UR dabei von dem Gesagten. Die Differenz zwischen "heidnischen Ursprungs sein" und "ein heidnisches Fest sein" wird dabei in seiner zweiten Reformulierung der ZJinternen Argumentation vernachlässigt, den ZJ damit indirekt eine vereinfachende und pauschalisierende Urteils- und Begründungsweise unterstellt. Manche Eltern, so UR, legten diese Schriften nun "so streng aus", daß sie ihren Kindern Teilnahme an jeglichen Feiern verböten (Z.349). In ihrer pragmatischen Funktion als Antwort auf Meisers Frage, ob die ZJ zu recht bestritten hätten, daß man bei ihnen bestimmte Feste nicht feiern darf, ist die Sequenz uneindeutig. UR äußert zwar nicht, die Feste seien kategorisch verboten, fokussiert jedoch nur diejenigen ZJ, die die Hinweise als Verbote auslegten. Er impliziert damit, es sei zwar nicht notwendig, in der Praxis aber durchaus üblich, das Feiern zu verbieten. Das von Meiser zitierte Bestreiten der ZJ erscheint dadurch als eine unglaubwürdige Scheinrechtfertigung der Wachturm-Gesellschaft. Die in diesem Zusammenhang erwähnte Begründung für die Ablehnung der betreffenden Feste, daß sie nämlich heidnischen Ursprungs seien, wird dabei weder von Meiser noch UR inhaltlich kommentiert. Im gegebenen Kontext, wo ausschließlich Negatives über die ZJ geäußert wurde, wirkt diese Nichtkommentierung dennoch als indirekte Bewertung dieser Begründung: Sie ist offensichtlich nicht überzeugend. 45
Keiner der Sprecher bezieht sich, wie ja durchaus möglich gewesen wäre, auf Gründe dafür, warum man Weihnachten oder Ostern feiern solle, oder z.B. darauf, daß ja auch viele Menschen, die keine ZJ sind und in diesem Land leben, Weihnachten aus verschiedensten Gründen ebenfalls nicht feiern. Im Fokus der Argumentation steht nicht, ob es akzeptabel oder ob und warum es inakzeptabel sei, Feste mit nicht christlichem Ursprung nicht zu feiern. Thema ist (wiederum indirekt) statt dessen zum einen die Glaubwürdigkeit der ZJ, zum anderen die Annahme, daß man bei ihnen Bestimmtes nicht tun dürfe. Regeln und Normen werden so auch hier unter dem Aspekt betrachtet, Menschen von etwas Harmlosem abzuhalten, Verbote darzustellen.
Dies ist auch im anschließenden Gespräch mit BW, der Befürworterin der ZJ, der Fall. Meiser fragt sie in Z.423:
HM: Leben Sie denn nach den Lehren der Zeugen Jehovas?
BW: Ich bemühe mich mächtig
HM: Also es gelingt auch nich so ganz nech?
BW: Ja Ich bin ja noch kein Zeuge Jehovas also ich bemüh mich da wirklich weil mir das für mich der Lebensinhalt is im Prinzip.
Meisers rhetorische Frage, es gelinge ihr sicher auch nicht so ganz (Z.425), impliziert im Kontext der vorausgegangenen Schilderungen, daß es bei den ZJ ja bekanntermaßen ein System von Verboten und Geboten gebe, das ein lebendiger Mensch zwangsläufig übertreten müsse. BWs Antwort bezieht sich jedoch nicht auf diese Implikatur, sie äußert sich nicht über die Qualität oder Berechtigung der Verbote, sondern nennt ihre persönliche Verfassung als Grund dafür, die Verbote vielleicht (noch) nicht einhalten zu können: Sie sei ja noch keine ZJ, bemühe sich aber. Dieses Bemühen begründet sie durch den Verweis auf die Wichtigkeit, die ein regelgerechtes Leben für sie persönlich habe. Meiser geht nicht auf diese Begründung ein, sondern schließt mit einer Frage an, die sich auf die Annahme bezieht, man dürfe bei den ZJ keine Kritik an der eigenen Institution üben. Er akzeptiert damit nicht die von BW nahegelegte positive Sicht der ZJ und ihrer Lebensweise, sondern bringt ein neues Beispiel dafür ein, warum die ZJ abgelehnt werden können bzw. müssen.
In einem anderen Zusammenhang, in Z.477, erwähnt BW:
also ich versuche nach der Bibel zu leben nach den guten Vorsätzen zu leben denn ich meine ich finde die Welt auch so jetzt nich in Ordnung wie se is da werden Sie mir doch bestimmt zustimmen in vielen Dingen gefällt se uns doch allen nich.
Indirekt gibt sie damit erneut eine Begründung für die Existenz bestimmter Regeln an. Ihre Äußerung würde ihrem propositionalen Gehalt nach Meiser eigentlich gefahrlos Zustimmung erlauben. Sie ist so vage formuliert, daß ihr nicht sinnvoll widersprochen werden könnte, denn irgend etwas findet, so ist unterstellbar, sicher jeder Mensch an "der Welt" kritikwürdig. Dennoch schließt Meiser in negativer Weise an, indem er seine Position durch eine Umformulierung gegenüber der ihrigen abgrenzt:
Der durch "aber" angezeigte Dissens hat an dieser Stelle eher rituellen Charakter: Wie oben schon angesprochen, indiziert der Widerspruch eher das Bemühen, in keinem Fall mit BW in bezug auf irgend etwas die ZJ Betreffendes übereinzustimmen, als den Versuch, einen relevanten inhaltlichen Beitrag zu leisten. Meiser nimmt so nicht die in der vorigen Äußerung angelegte Anschlußmöglichkeit auf, den Grund für die Existenz der Ver-/Gebote darin zu sehen, sie dienten der Verbesserung "der Welt", indem sie gute Vorsätze aufzeigten. Statt dessen impliziert er, anderen, womit im gegebenen Zusammenhang nur die ZJ gemeint sein können, gefalle nichts an der Welt wie sie jetzt sei. BWs anschließende Reaktion legt nahe, daß sie seine Äußerung eben so verstanden hat: Sie schreibt ihr offenbar die lmplikatur zu, die ZJ wollten aufgrund dieser kompletten Ablehnung der Welt alles in dieser maßregeln und verbieten. Dies weist sie als unwahr zurück:
BW: JA die Zeugen Jehovas ham doch nich nur Verbote (3 Sek. Pause) Verbote in der Hinsicht das is alles biblisch belegt 46 (Z.479).
Meiser geht nicht auf diese Erwiderung ein, sondern spielt auf die inquistiorischen Befragungen durch Älteste bei den ZJ an, die in den ersten beiden Gesprächen erwähnt worden waren:
HM:( (schnaubt)) Also wenn mich der Pfarrer fragen würde ob ich ne Erektion gehabt hätte inner gewissen Situation ich glaube ich würd' dem den Weihwasserkessel um die Ohren schlagen ((Gelächter, Gejohle)).
Durch die unmittelbare Anknüpfung an BWs Äußerung fügt er die Frage nach den Verboten nachträglich in einen allgemeineren thematischen Bezugsrahmen ein, der sich als "unbegründete, unverständliche Maßregelungen bei den ZJ" betiteln ließe. Er schreibt dadurch auch BWs Antwort zu, ein Beispiel für eine nicht überzeugende Begründung einer unsinnigen Regelung zu sein. Indirekt und, so ist anhand des Gesagten unterstellbar, wohl auch unwissentlich und unwillentlich, verweist Meisers Äußerung aber auch darauf, daß die ZJ durchaus mit anderen religiösen, genauer, christlichen Gemeinschaften vergleichbar sind. Seine Ansprüche an einen Pfarrer setzt er analog zu denen, die ein ZJ an die Ältesten haben könnte und/oder sollte. Die zuvor eingeführte und bis zu diesem Zeitpunkt in der Sendung beibehaltene Opposition von "ZJ" versus "Normale" wird im Anschluß jedoch nicht aufgelöst. Der Fokus der Argumentation wechselt nicht z.B. zu Besonderheiten, die religiöse von nicht religiösen Gruppen trennen, sondern bleibt bei solchen, durch die sich die ZJ von allen anderen unterscheiden.
Relevant im Hinblick auf die Aushandlung intersubjektiv geltender moralischer Begriffe ist in dieser Sequenz vor allem, daß BW abstreitet, es gebe ausschließlich Verbote bei den ZJ, und auch, daß sie die existierenden Verbote als nicht prototypische kategorisiert. Sie verwendet zwar weiterhin das Lexem "Verbote", indiziert aber durch "in der Hinsicht', daß sie dieses hier nicht im üblichen, unmarkierten Sinne gebraucht. Durch die Betonung von "Verbote" (statt von "nur") fokussiert sie dabei nicht die Ausschließlichkeit von Verboten, sondern deutet an, daß es außer Verboten auch noch vieles andere bei den ZJ gebe: Es gibt nicht nur Verbote, sondern auch Schönes, Angenehmes. Der Satzbau deutet an, daß sie ihren angefangenen Satz während des Sprechens umformuliert. Die dabei zusammenfallenden Sätze ließen sich hypothetisch reformutieren als
a) Es gibt noch mehr als Verbote bei den ZJ-,
b) Verbote haben sie in der Hinsicht schon, daß sie Dinge nicht gestatten, es sind aber keine willkürlichen und dogmatischen Verbote, kein bloßer Zwang, was zu verurteilen wäre, sondern die Untersagungen sind alle biblisch belegt.
Sie differenziert also indirekt zwischen "normalen" Verboten, die negativ zu bewerten sind, und gerechtfertigten Verboten, die "eigentlich" keine Verbote, sondern Gebote sind. Sowohl Meiser als auch BW weisen dem Lexem "Verbot" damit in seiner unmarkierten Bedeutung eine moralisch negativ wertende Bedeutung zu: Will man die Bezeichnung für die Kategorisierung eines Sachverhaltes verwenden, den man als grundsätzlich richtig bewertet, muß das betreffende Verbot spezifiziert oder aber andere Lexeme verwendet werden. BW selbst tut dies an anderer Stelle, indem sie von "guten Vorsätzen" spricht (Z.477). 47
In den Gesprächen mit den anderen Gästen reagiert Meiser auf die Schilderung einiger Verbote oder Strafen mit ostentativem Erstaunen. Nur einmal fragt er direkt nach einem möglichen Grund für ein Verbot (Z. 116: "aber das hat doch was mit Ihrer Weiterbildung zu tun mit Ihrer Karriere zu tun, warum denn warum durften Sie denn nicht weiter in die Schule gehen?"). Begründungen der ZJ für die Existenz bestimmter Verbote werden ausschließlich reformulierend von den Gästen erwähnt. Die Sprecher markieren dabei immer deutlich, daß sie die "Logik" anderer wiedergeben, nicht ihre eigene, z.B. 48
EW: Weil meine Karriere eigentlich sein sollte ZJ zu sein und warum sollte ich jetzt zum Beispiel Medizin studieren um etwas zu lernen was es im Paradies eigentlich nicht mehr gibt weil es wird keine Krankheiten mehr geben (Z. 114).
Solche Begründungen der ZJ werden entweder unkommentiert stehengelassen oder durch einen ironischen Kommentar Meisers als inakzeptabel und lächerlich bewertet:
HM.: 'n Ohrring is ja schon unsittlich wo beginnt eigentlich oben oder unten (Z.233).
Es wird nie inhaltlich auf sie eingegangen; sie werden weder direkt bewertet noch wird begründet, warum sie als inakzeptabel angesehen werden.
In einigen Fällen wird Verboten zwar zugeschrieben, unter bestimmten Bedingungen berechtigt sein zu können, diese Bedingungen erweisen sich aber in bezug auf die gegebenen Beispiele als nicht gegeben:
HM: Also ich mein daß Tutti Frutti verboten war hab ich ja noch Verständnis dann wahrscheinlich in dem Alter
EW: Nein, also es wurde dann auch Dallas sollte man sich nicht mehr anschaun (. .) weil da Alkohol wohl verherrlicht wurde (Z. 107ff).
Niemand wirft die Frage auf, ob die Begründungen der Verbote auf einem anderen als dem eigenen Bewertungs- und Relevanzsystem basieren und, wenn ja, um welche Art von System es sich dabei handelt und ob bzw. aus welchen Gründen dieses System von den Anwesenden abgelehnt wird. Statt dessen beziehen sich die Gäste und Meiser in selbstverständlicher Weise auf die (implizite) Norm, daß niemand daran gehindert werden dürfe, normale, d.h. übliche Dinge zu tun. Diese Parameter wird als "natürlich" relevante auf die Beispielfälle angesetzt. Die implizierten normativen Erwartungen zielen also nicht darauf ab, unbedingt bestimmte Dinge wie Weihnachten feiern oder Rauchen tun zu sollen, sondern es geht darum, sie prinzipiell tun zu können. Die Befolgung der genannten Regeln wird dabei nie als Folge einer freiwilligen und bewußten Entscheidung der Zeugen Jehovas behandelt, sondern stets als Folge von Zwang. Nur BW deutet eine andere Sichtweise an, indem sie erwähnt, sie bemühe sich, nach den guten Vorsätzen der Bibel zu leben (Z.475), bzw. die ZJ lebten nach der Bibel (Z.453). Sie beschreibt damit eine individuelle Handlung, die anderen Sprecher beziehen sich hingegen stets auf interindividuelle Sachverhalte, nämlich die Beeinträchtigung von Menschen durch andere. Die gesamte Argumentation in bezug auf das Thema Verbote basiert auf der Oppositionsbildung "ZJ" versus "Normale". Diese Unterscheidung wird nur an wenigen Stellen ansatzweise durchbrochen bzw. die Möglichkeit einer Alternative wird angedeutet, jedoch nicht weiter verfolgt. 49 Auch dies verdeutlicht, daß es in der Sendung "eigentlich" darum geht, Beispiele für die (negative) Besonderheit der ZJ zu finden, wobei diese Beispiele relativ beliebig sein können. Dies wird jedoch nicht auf einer Meta-Ebene benannt.
9.3.1.2 Briefe
Alle Verfasserlnnen setzen als bekannt und unstrittig voraus, daß in der Sendung sowohl die ZJ insgesamt abgelehnt wurden als auch alle genannten besonderen Ver- oder Gebote der Gruppe verurteilt wurden. Außerdem, daß diese Verbote als Begründungen für die negative Gesamtbewertung der Gruppe fungierten. Keiner der Schreibenden thematisiert, daß in der Sendung nirgendwo expliziert oder rekonstruiert wurde, was genau denn jeweils als empörender Aspekt der genannten Verbote betrachtet wurde. Auch die Zuschauer behandeln damit die jeweiligen "Skandalons" als offensichtliche, d.h. zumindest als erkennbare und nachvollziehbare. 50
Fast alle Zuschriften, in denen direkt oder indirekt auf Verbote eingegangen wird, stellen jedoch negative Anschlüsse an die Sendung dar, d.h. dienen der Kritik an der Sendung bzw. bestimmten Sprecherlnnen und/oder dem Widerspruch. Im Hinblick auf das Thema "Verbote" stellt nur Nr.7 eine Bekräftigung und Erweiterung der ablehnenden Haltung dar, die der Sendung zugeschrieben wird:
Nr. 7:.. es gibt noch viele andere Verbote, die in Ihrer Sendung nicht genannt wurden, die ich selbst erlebte und ich verstehe einfach nicht, was diese Verbote sollen. Ich durfte nicht fernsehen (..) Madonna hören, keine Zeitung lesen.
Die Verfasserin begründet indirekt ihre Empörung damit, daß die Verbote unverständlich und sinnlos gewesen seien. Umgekehrt deutet sie so an, daß Verbote, deren Zweck verstellbar und nachzuvollziehen sind, durchaus akzeptabel wären. Die Verbote der ZJ werden auch von ihr als negative Einschränkung behandelt. Sie selbst erscheint als von diesen betroffene Person, als passives Opfer der ZJ. Sie sei damals "Sklavin der ZJ" gewesen, erst nach ihrem Austritt habe sie wieder normal sein können:
Ich lernte wieder Weihnachten kennen, ich bekam wieder einen Freundeskreis (..) ich trage Leggins oder Jeans, färbe (schminke) mich. Ich handarbeite wieder, ich lache wieder auf
Ihre von ihr selbst positiv bewertete Normalität wurde offenbar erst durch ihren Austritt aus der Gemeinschaft der ZJ (wieder)hergestellt. Hier beschreibt sie sich selbst als Handelnde.
In den anderen Briefen, die sich auf Verbote bei den ZJ beziehen, wird zum
einen die Existenz bestimmter Verbote oder Strafen kategorisch bestritten:
Nr. 11: mein Sohn wurde von mir nicht geschlagen
Die negative Bewertung von "Kinder schlagen" wird damit bestätigt, dieses Urteil wird aber ebenso wie in der Sendung präsupponiert. Einzelne Sachverhalte werden in den Zuschriften zum zweiten auch gerechtfertigt
Nr.11 (Fortsetzung) .... seine Dummheiten wurden sicherlich bestraft doch die Strafe richtete sich immer nach der Art der Tat. Die Lieblingssendung im Fernsehen wurde gestrichen ( .. ) Ich sehe mir auch nichtjeden Blödsinn an und achte auch bei dem Jungen darauf, was er sich ansieht. Auch Ihre Frau wird darauf achten, was sich Ihre beiden Töchter ansehen. 51
Die Rechtfertigung des Fernsehverbotes bezieht sich hier nicht auf die gleichen Parameter, nach denen es in der Sendung kategorisiert und bewertet worden war. Die Verfasserin beschreibt das TV-Verbot als eine dem jeweiligen Anlaß angemessene gerechtfertigte Erziehungsmaßnahme, nicht als pauschales Untersagen von Vergnügungen oder übertrieben starke Bestrafung. Das Verbot wird so auch nicht als automatische Folge ihrer Zugehörigkeit zu den ZJ behandelt, sondern als Ausdruck ihrer allgemeinen elterlichen Verantwortung. Auch durch die Vermutung, Meisers Frau handele sicher nicht anders, wird das Verhalten als eines kategorisiert, das nicht für die ZJ spezifisch ist. Es wird statt dessen in den allgemeineren Bezugsrahmen "Erziehung" gestellt. Damit definiert die Schreiberin im Vergleich zur Sendung den Konfliktanlaß um: Ihre Erwiderung impliziert, es sei dort "an sich" verurteilt worden, den Fernsehkonsum anderer Menschen kontrollierend zu maßregeln. Der Kontext der Themenbehandlung und damit die Perspektive, aus der heraus das Verbot in der Show bewertet wurde, wird so ausgeblendet, die Unterstellung nämlich, ZJ verböten alltäglichen Dinge aufgrund dogmatischer Glaubenssätze. Diese den ZJ unterstellte Grundhaltung fungiert ja als latenter Bezugspunkt aller Einzelargumentationen. Die Schreiberin, die sich selbst als aktive ZJ zu erkennen gibt, geht hierauf aber nicht ein. Sie bestreitet weder, daß Verbote von Glaubensfragen abhängen (können), noch bestätigt und rechtfertigt sie dies.
Eine ähnliche unkommentierte Verschiebung der Perspektive findet sich auch in den Briefen Nr.9 und Nr.20. Hier werden die Verbote von Drogen, Rauchen und Alkohol als etwas eingebracht, das die positive Bewertung der ZJ begründet.
Nr.9: bei uns gibt es keine Probleme mit rauchen Drogen, Alkohol, Mord oder sonstigen Verbrechen ( ).
Nr.20: Sie (Anm.: die ZJ) haben als Gesamtheit gesehen mehr Interesse an dem Wohlergehen ihrer Kinder als dies bei vielen anderen Gruppierungen zu beobachten ist. Z.J. rauchen nicht weil das biblische Gebot der Nächstenliebe verbietet einen anderen zu schädigen. Dazu gehören auch die Kinder, die eine erhebliche Menge von Schadstoffen einatmen müssen wenn ihre Eltern rauchen.( ) ZJ achten darauf, daß ihre Kinder nicht durch schlechten Umgang in die Drogen- oder Alkoholszene abrutschen.
Alkohol, Drogen und Nikotin werden in beiden Briefen als gefährliche, eindeutig und konsensuell abzulehnende Dinge behandelt und unter dem Aspekt eingeführt, daß sie in der restlichen Gesellschaft Probleme darstellten. Diese Probleme, die äquivalent zu "Mord oder sonstigen Verbrechen" gesetzt werden, gebe es bei den ZJ nicht. Anders als in der Sendung werden die Verbote damit hinsichtlich ihres praktischen Nutzens bewertet. Dieser Aspekt wird jedoch nicht als expliziter Widerspruch zu der in der Sendung eingenommenen Haltung formuliert, es wird also nicht gesagt "Sie haben Verbote unter einem falschen Aspekt betrachtet". Als strittig und argumentativ zu klärend wird so in beiden Briefen auch nicht der Grund für die Existenz der Verbote behandelt. Impliziter Bezugspunkt der Argumentation und des durch sie vollzogenen Widerspruchs ist die Gesamtbewertung der ZJ. Diesbezüglich implizieren die Zuschriften eine Konklusion, die derjenigen der Sendung konträr gegenübersteht ("die ZJ sind gut, denn "). Die Erwiderungen in den Briefen stellen jedoch pragmatische Widersprüche dar, die nur in Kenntnis des Bezugstextes als solche erscheinen. In bezug auf die globale Quästio werden hier wie in der Sendung einzelne Beispiele "gesammelt", deren moralische Qualität jeweils als unstrittig und offensichtlich vorausgesetzt und von der Diskussion ausgenommen wird. Das Verhältnis der in Sendung und Briefen jeweils gewählten Kriterien der Bewertung bleibt dabei unklar: schließen sie sich wechselseitig aus oder wären sie kompatibel?
Beide Verfasser (Nr.9 und Nr.20) konzeptualisieren die betreffenden Sachverhalte nicht als "Verhindem von etwas Wünschenswertem", sondern als "Schutz vor etwas Negativem". Keiner von beiden verwendet das Lexem "Verbot" Es findet also im Vergleich zur Sendung auch eine Umbenennung der bewerteten Sachverhalte statt. Dennoch läßt sich unterstellen, daß alte Sprecher durchaus "dasselbe" meinen, also nicht aufgrund der Vagheit oder Mehrdeutigkeit verwendeten Lexeme aneinander vorbei reden. "Dasselbe" wird statt dessen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und erscheint dementsprechend einmal als "Folge einer dogmatischen Setzung", einmal als "Schutz vor". In allen drei hier angeführten Briefen (Nr.9, Nr.11 und Nr.20) erscheinen die ZJ außerdem nicht als passive Opfer von Zwängen, sondern als Profitierende bzw. bewußt zum Wohle anderer (ihrer Kinder) Agierende.
Auffällig ist außerdem, daß in keinem der Briefe jemand als Begründung anführt, die Verbote seien nun einmal Teil der religiösen Überzeugung der ZJ: Ihrer Interpretation der Bibel nach sei es unangemessen, bestimmte Dinge zu tun, und sie wollten nun einmal nach der Bibel leben. Statt dessen werden positive Bewertungen immer primär durch Verweis auf praktische und moralische Werte begründet, bezüglich derer eine allgemeine Anerkennung erwartbar ist. 52 In allen Fällen wird dadurch nicht die Existenz der Verbote begründet und gerechtfertigt, sondern ihre negativen Folgen bestritten. In Nr. 20 verweist der Verfasser zwar auf die Bibel (s.o.), bindet die Frage des Rauchverbots aber nicht vorrangig an einen Glaubensaspekt, sondern kategorisiert es als Fall davon, anderen prinzipiell nicht schaden zu dürfen. Das Nichtrauchen erscheint als menschliche Pflicht, die jeder, nicht nur ein ZJ, einhalten müßte, der anderen nicht schaden will, wenn er das Gebot der Nächstenliebe akzeptiert. Nicht die Eigenschaft, eine biblisch begründete Norm zu sein, sondern die rational erklärbare Funktion des Verbotes als Schutz vor gesundheitlichen Schäden machen primär den argumentativen Status der Äußerung aus. Begründet wird, daß das existierende Verbot sinnvoll ist. Indirekt wird damit auch die mögliche Oppositionsbildung verschoben: Wenn jemand diesen Anspruch aufgrund seiner Anbindung an einen biblisch begründeten Wert zurückweisen wollte, müßte er sich nicht allein gegen die ZJ wenden, sondern gegen alle, die sich auf christliche Werte beziehen.
In bezug auf das Thema "Verbote (bei den ZJ)" stehen sich so zusammenfassend in Sendung und Briefen mehrmals konträre moralische Bewertungen gegenüber: Dieselben Verbote werden einmal als (offensichtlicher) Anlaß zur Empörung behandelt, das andere Mal als zu lobender Ausdruck von Verantwortung Diese gegensätzlichen Bewertungen der moralischen Qualität der Sachverhalte lassen sich aber nicht darauf zurückführen, daß zwischen den jeweiligen Sprechern Divergenzen in dem Sinne vorlägen, daß z.B. bestimmte moralische Begriffe oder Bezeichnungen einmal positiv, das andere Mal negativ eingestuft würden. Der Dissens beruht statt dessen darauf, daß Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und nach unterschiedlichen Parametern bewertet werden. Dies scheint den Beteiligten nicht bewußt zu sein bzw. die Perspektiven-Divergenz wird nicht thematisiert. Es handelt sich in diesem Sinne um einen irrationalen Dissens, bei dem keine einheitliche Definition dessen vorliegt, worüber man sich eigentlich streitet.
Wollten die Beteiligten in bezug auf das Thema "Verbote" einen Konsens oder Kompromiß erzielen, müßten sie sich meiner Ansicht nach zunächst auf eine gemeinsame Quästio einigen, die als zu klärend gelten soll. Diese könnte hier die Frage danach sein, in welchen Fällen Regeln und Normen als verurteilenswerte Einschränkungen von Handlungsmöglichkeiten zu bewerten wären und wann als sinnvolle, legitime Leitlinien zum eigenen oder fremden Wohl. Weder innerhalb der Sendung noch im Briefkorpus legt das Geäußerte dabei nahe, daß die Sprecher diesbezüglich inkompatible Meinungen vertreten würden: Daß beide Möglichkeiten existieren und moralisch negativ bzw. positiv zu bewerten sind, scheint von allen als unstrittig vorausgesetzt zu werden. Alle Beiträge implizieren außerdem die normative Gewißheit, daß es grundsätzlich schlecht ist, anderen zu schaden oder ihr Wohlergehen zu beeinträchtigen, daß ein ausschließlich von Regeln und Vorschriften geleitetes Leben nicht wünschenswert ist und auch, daß sinnlose Verbote abzulehnen sind.
Gleichzeitig ist den Beteiligten jedoch auch zu unterstellen, daß es keinesfalls ihre Intention ist, sich über "Verbote an sich" sachlich und argumentativ zu verständigen. Verbote interessieren nicht "als solche", sondern nur in ihrer potentiellen Funktion, Relevantes über die ZJ zu indizieren. Argumentatives Ziel aller Beiträge ist es, eine bestimmte Bewertung der ZJ zu begründen und gegen tatsächliche oder erwartete Gegenmeinungen durchzusetzen. Die einzelnen Verbote dienen als Beispiele, mit deren Hilfe latent ein weiter gefaßter Konflikt ausgetragen wird. 53 Dieser Basiskonflikt läßt sich anhand des Gesagten als Streit über die Anerkennung bzw. Verurteilung der biblisch und religiös bestimmten Lebensweise der ZJ benennen. Damit ist auf der Ebene des latent Ausgetragenen durchaus Grundsätzliches, d.h. auch Moralisches strittig: es geht um konkurrierende Entwürfe des guten und richtigen Lebens. Weder in den Briefen noch der Sendung wird aber diese Ursache der einzelnen manifesten Konflikte (d.h. den diskutierten Verboten) benannt.
Eine Verständigung der Parteien bzw. "streitdidaktische" Überlegungen Dritter müßten in jedem Fall daran ansetzen, daß
a) die Beteiligten pragmatisch und damit nicht nach einer formalen, sondern nach einer praktischen Logik argumentieren, und
b) daß dies kein induktives Vorgehen bedingt sondern ein deduktives:
Die Sprecherlnnen gehen nicht von konkreten Fällen aus, um zu einer übergreifenden, gemeinsam anerkannte Regel oder Norm in bezug auf eine gemeinsam identifizierte strittige Frage zu gelangen. Es existieren statt dessen bereits zwei Meinungen, die gar nicht modifiziert werden sollen (oder können). Von diesen festen Gewißheiten ausgehend werden Sachverhalte kategorisiert und bewertet, erscheinen jeweils "natürlich" als "Fälle von ".
In der Sendung zeigte sich dabei deutlich, daß eine dieser vorausgesetzten Gewißheiten darin bestand, die ZJ als "Feinbild" zu betrachten. Die erwähnten Verbote wurden stets innerhalb der Rahmung betrachtet, daß es sich bei ihnen um Beispiele bzw. Beweise für die (schon vorher gewisse) negative Andersartigkeit der ZJ handele. Die Analyse des zweiten (Sub)themas "Bluttransfusionen" zeigt Ähnliches auf und verdeutlicht außerdem einen zweiten Aspekt: die interaktiv hergestellte und bestätigte Dominanz einer von zwei (oder mehr) konkurrierenden argumentativen Logiken, d.h. die hegemoniale Stellung eines 'Sprachspiels'.54
9.3.2 Thema "Bluttransfusionen"
9.3.2.1 Sendung
Das Thema Bluttransfusionen wird von Meiser in Zeile 267 im Gespräch mit dem zweiten Gast Konstantin Nikolapodus (KN) eingeführt:
HM. Also es gibt ja einen Streitfall und gerade heute kam eine Meldung aus den Vereinigten Staaten daß dort ein kleines Baby das einen Herzfehler hatte gestorben ist denn eine Herzoperation wäre möglich gewesen wenn die Eltern einer Bluttransfusion zugestimmt hätten und dieses bei den Zeugen Jehovas strikt verboten es darf auch kein Blutplasma und alle Blutersatzstoffe auch die aus tatsächlichem Blut hergestellt worden sind sind verpönt sind verboten dürfen nich angewandt werden ehm wie stehn Sie denn da zu?
Der Streitfall wird durch "ja" als bekannter präsentiert, wodurch Meiser indirekt auf einen vorgängigen Diskurs(strang) verweist. Das konkrete Beispiel wird so als Realisierung eines allgemeinen und bereits zuvor etablierten Konfliktes behandelt. Der Streit scheint zwischen den ZJ und, da keine zweite Partei benannt wird, "uns", d.h. den Nicht-ZJs, zu bestehen. Der Konfliktanlaß, also das Empörende an dem geschilderten Fall, wird von Meiser nicht expliziert und so als offensichtlich behandelt.
Logisch impliziert er, daß eine Operation das Baby gerettet hätte, daß eine solche Operation aber notwendig mit einer Transfusion verbunden gewesen wäre. Die Weigerung der Eltern, eine Übertragung zuzulassen, war deshalb gleichbedeutend mit einem Todesurteil, da keine Operation stattfinden konnte. Durch "möglich gewesen" (Z.269) indiziert Meiser, daß eine solche aber wünschenswert gewesen wäre. Der Tod des Babys erscheint so primär als Folge der Entscheidung der Eltern, nicht als Folge des Herzfehlers. Diese Entscheidung wird indirekt dadurch erklärt, bei den ZJ seien Bluttransfusionen verboten (Z.270).55 Warum dieses Verbot besteht, wird nicht gesagt, was nahelegt, daß eine Begründung entweder nicht existiert oder aber die existierende von Meiser nicht akzeptiert wird. Dies bestätigt die im vorigen Kapitel genannte Beobachtung, daß die Sprecher in ihrer Argumentation deduktiv verfahren: Meiser bewertet hier den Sachverhalt nach vorhandenen Mustern, bezieht sich auf vorhandene normative Vorstellungen von Welt, deren Angemessenheit und Gültigkeit nicht in Frage gestellt werden. Es geht an dieser Stelle also nicht um das Verstehen fremden Eigensinns, wenn Verstehen den Versuch bezeichnen soll, die Motive eines anderen nachzuvollziehen. Thematisiert werden Effekte des Verbotes, nicht die Gründe der Beteiligten Personen für seine Befolgung.
Meiser verweist dreimal darauf, daß das Verbot bei den Zeugen Jehovas existiere. Dabei verwendet er jedesmal Lexeme, die die Weigerung als Untersagung von etwas und als "Abhalten von" kategorisieren: "sind verpönt', ,sind verboten", "dürfen nicht angewandt werden". Mit "strikt" wird das Verbot außerdem als offenbar streng überwachtes markiert. 56 Durch die gewählte Formulierung wird die Entscheidung der Eltern kausal auf ihre ZJ-Zugehörigkeit zurückgeführt und de-agentiviert: Es erscheint kein handelndes, Entscheidungen treffendes Subjekt. Da die genannten Folgen des Verbotes als vermeidbare und vermeidenswerte behandelt werden, werden indirekt sowohl das Verbot selbst als auch diejenigen, die dafür verantwortlich sind, verurteilt: sie sind der Unterlassung schuldig.
Meisers Frage, wie KN "dazu" stehe (Z.272), bietet dem Gast den gesamten Redebeitrag zur Stellungnahme an. Gerade, weil die Schilderung keine explizite Bewertung durch Meiser enthält, hat sie den Charakter einer moralischen Beispielgeschichte "mit Einladung zur Empörung". 57 Naheliegende Ziele der Empörung wären dabei für KN sowohl der geschilderte Einzelfall als auch der "Streitfall" als solcher. Zur Moralisierung, aber auch Problematisierung laden dabei verschiedene Aspekte ein, zum Beispiel die Fragen, ob Leben in jedem Fall zu erhalten sei, ob jemand über das Leben eines anderen entscheiden dürfe und, wenn ja, wann etc.. KNs Reaktionen "dat is Humbug was die da erzählen" (Z.273) und "das is biblisch nich mehr haltbar, absolut nich" (Z.277) sind deshalb überraschend. Er geht weder auf den konkreten Beispielfall ein, noch bewertet er das Gesamtthema nach moralischen Kriterien. Statt dessen führt er an, die Argumentation der ZJ sei biblisch nicht haltbar, also sachlich falsch. Der geschilderte Fall hat offenbar bei ihm keine moralische Empörung, sondern kognitiven Dissens ausgelöst.
Seine Antwort erlaubt zumindest den logischen Schluß, daß er die Transfusionsverweigerung für (moralisch) richtig und akzeptabel erachten würde, wenn sie biblisch belegbar wäre. KN erwähnt außerdem noch ein Buch, das in Kürze erscheinen solle und das in der Blutfrage den "Genickbruch" für die ZJs bedeuten werde; da sei dann "nix mehr zu machen" (Z.283f.). Auch dies fokussiert Sachfragen, er bezieht sich auf die sachliche Haltbarkeit bestimmter Begründungen. Als einziger Sprecher in der Sendung (außer BW) behandelt er die ZJ damit indirekt als prinzipiell zurechnungsfähig: Ihre Argumentation erscheint hier als zu widerlegende, nicht als lächerliche und deshalb zu vernachlässigende.
Es wäre nun nicht überraschend, wenn Meiser eine solche Haltung in bezug auf den geschilderten Fall als nicht hinzunehmenden Widerspruch zu seiner eigenen Empörung verstehen und deshalb thematisieren würde. Er fragt jedoch nicht nach, wie auch KN Meisers indirekt ausgedrückte Entrüstung nicht angezweifelt hatte. Beide Sprecher behandeln damit gegenseitig ihre Äußerungen als kompatibel und als wechselseitige Ergänzungen. Aus Rezipientinnensicht läßt sich als gemeinsamer Nenner ihrer Äußerungen hier die Bewertung ansetzen, daß die ZJ in bezug auf die Blutfrage im Unrecht sind. Die Qualität des unterstellten Unrechts als einmal moralisch, einmal sachlich falsches, wird dabei eingeebnet. Der vorausgehende wie auch anschließende Verlauf der Sendung legen nahe, auch KNs Beitrag als eine weitere Bestätigung der berechtigten moralischen Verurteilung der ZJ aufzufassen.
Meiser zeigt anschließend einen "Blutausweis" der ZJ ins Publikum und in die Kamera. Auf diesem werde mitgeteilt, man wolle "kein Blut", also "überhaupt keine Transfusionen oder kein Blutersatzstoffe" und zwar auch im höchsten Grade der Lebensgefahr" (Z.94ff). Meiser kommentiert dies nicht weiter, was im kontextuellen Zusammenhang als negative Bewertung der hierdurch indizierten Haltung der ZJ wirkt: Es handelt sich erneut um etwas nicht Nachvollziehbares. Die Betonung der Ausschließlichkeit der Ablehnung (überhaupt kein") sowie des Ausmaßes der Weigerung ("auch im höchsten Grade der Lebensgefahr") legt dabei nahe, daß Meiser die Haltung der ZJ in höchstem Maße unverständlich ist. Dieses Erstaunen impliziert die Erwartung, eigenes Leben doch in jedem Fall erhalten zu wollen. Durch seine Anbindung an den zuvor geschilderten Fall erscheint das Erstaunen jedoch nicht allein als Enttäuschung einer kognitiven Erwartung, sondern auch als moralisch relevantes Nichtverstehen: Die betreffende Haltung zieht solche verurteilenswerten Fälle nach sich wie den geschilderten und ist demnach selbst grundsätzlich falsch.
Zum ersten Mal wird dann von Meiser jedoch eine Begründung für die Existenz des Verbotes reformulierend erwähnt: "weil der christliche oder der der der Glauben der ZJ dies so vorschreibe" (Z.297f.). Durch die Verwendung des Konjunktivs distanziert er sich dabei von der zitierten Proposition. Er differenziert außerdem durch "oder" zwischen dem christlichen Glauben und dem Glauben der ZJ, die er nicht notwendig als "dasselbe" zu kategorisieren scheint. 58
Die "Blutfrage" wird auch im 3. Gespräch thematisiert, hier vom Gast Ulrich Rausch (Z.330ff.):
HM:Aber was ist denn gegen die Zeugen Jehovas einzuwenden?
UR: Also ich sage mal es ist erst mal eine gefährliche Sekte
HM: Warum?
UR: Es gibt keine Sekte wo von vornherein klar ist daß die Mitgliedschaft zum Tode führen kann nämlich eben im Falle daß man einen Unfall hat und eine Bluttransfusion bekommen muß und es sterben sehr viele Menschen
HM: das Beispiel was ich gesagt hab von dem kleinen Baby
UR: genau
UR: Die Wachtturmgesellschaft selber hat in einem Erwachet vor zwei Jahren zugegeben daß wohl tausend von Jugendlichen deshalb gestorben wären.
Die Logik der Argumentation weist Parallelen zu dem von Meiser zuvor skizzierten Fall auf: Es wird eine Szenerie entworfen, in der die Notwendigkeit einer Bluttransfusion vorausgesetzt ist. 59 Auch UR betrachtet das Unterlassen einer Transfusion nicht als Folge einer individuellen Entscheidung, sondern als Folge der Zugehörigkeit zu den ZJ. Der mit der Äußerung implizierte Vorwurf richtet sich so nicht gegen die von einer Weigerung potentiell betroffenen Individuen, sondern gegen die Institution "ZJ". Die Konjunktion "und" (Z.335) bindet den Verweis auf die vielen Menschen, die sterben würden, logisch an das Vorausgehende an: die Menschen sterben wegen des Verbotes, nicht aufgrund von Unfällen. Dies hat wiederum Belegfunktion in bezug auf die zuvor geäußerte indirekte Forderung danach, man müsse Kritik an den ZJ üben (Z.333): Die Sekte birgt nicht nur die potentielle Gefahr, daß ihre Mitglieder sterben, sondern dies geschieht tatsächlich, und zwar häufig. "Leben" erscheint dabei als uneingeschränkt positiver Wert und wird in Opposition zu "Tod" gesetzt.
Der Hinweis, die ZJ hätten die Todesfälle selbst "zugegeben" (Z.337), fungiert als weiterer Indikator für die hierdurch realisierte Kritik an den ZJ. "Zugeben" bezieht sich normalerweise auf Sachverhalte, in denen die Verantwortung für etwas konsensuell Verurteiltes eingestanden wird. Auch hier wird eine unmittelbare Ursache-Wirkungsrelation zwischen dem Verbot und dem Tod der Betroffenen impliziert. Als zu beklagende Opfer benennt UR dabei "Jugendliche", obwohl nicht ersichtlich ist, warum ausschließlich Jugendliche Unfälle erleiden sollten. Allerdings tritt an ihrem Beispiel die unterstellte Vermeidbarkeit der Todesfälle deutlicher hervor: Der Tod eines jungen Menschen ist überraschend und hat normalerweise einen besonderen Grund- der hier in der unterlassenen Transfusion zu sehen ist. 60
Die Blutfrage wird also in der Sendung als bereits etablierter Streit zwischen den ZJ und "der Welt" behandelt. Von den Anwesenden wird allgemeiner Konsens darüber unterstellt, daß die ZJ diesbezüglich eine außergewöhnliche und grundsätzlich falsche Position einnehmen. Die Weigerung gegenüber Transfusionen wird als nicht nachvollziehbar und als von den ZJ nicht überzeugend begründet behandelt. Die gewählten Beispiele fokussieren verurteilenswerte Folgen der Praxis, die vor allem solche Menschen betreffen, die keine eigenen Entscheidungen treffen können. Nahegelegt wird so auch, daß alle, die sich der "Wir-Gruppe" der 'Normalen' zugehörig fühlen oder fühlen wollen, sich sowohl dieser Bewertung des Transfusionsverbotes anschließen als auch handlungsrelevante Schlüsse ziehen müssen, also z.B. Kritik an den ZJ üben. Normative, aber implizit bleibende Voraussetzung der indizierten Empörung ist dabei immer, daß Leben anderer, das erhalten werden kann, auch erhalten werden muß. Zumindest kognitiv wird außerdem erwartet, daß Menschen normalerweise den Wunsch haben, das eigene Leben zu bewahren.
Die Argumentation bezieht sich stets auf Konstellationen, in denen binär zwischen Leben oder Tod unterschieden wird. Grenzfälle, in denen Leben z.B. als nicht mehr lebens- oder erhaltenswert erachtet werden könnte, oder auch differenzierende Kriterien wie "humanes Leben", werden nicht erwähnt. Sie werden nicht explizit ausgeschlossen, im Fokus der Bewertung stehen aber keine allgemeinen Fragen nach Leben und Tod. Leben wird statt dessen unter dem Aspekt betrachtet, daß es durch die spezielle Weigerung der ZJ gefährdet wird oder werden kann. ZJ-Mitglieder werden entweder als passive Opfer (Jugendliche) oder als gehorsame Ausführende des Verbotes konzeptualisiert (Eltern). Die Wahl, keine Transfusion vorzunehmen, erscheint als kausale Folge der Mitgliedschaft bei den ZJ. In den von den Gästen und Meiser genannten Beispielfällen werden Aspekte erwähnt, die in der Sendung auch in anderen Zusammenhängen als "ZJ-typisch" präsentiert wurden, z.B. unverständliche Verbote im allgemeinen, aber auch der (brutale) Umgang der ZJ mit ihren Kindern. Die wiederholte Erwähnung dieser Fragen kann, so unterstelle ich, im Hinblick auf die Rezeption der Sendung als "Salienzverstärker" wirken, d.h. die betreffenden Merkmale werden als besonders relevante und auffällige markiert. Ihre mehrmalige Erwähnung kann außerdem jeweils als Bestätigung von zuvor Gesagtem verstanden werden ("das haben ja alle unabhängig voneinander gesagt, da muß es wohl stimmen").
9.3.2.2 Briefe
Nur in einem Brief (Nr.14) äußert sich der Verfasser kritisch zum Blutverbot der ZJ. Er unterstellt dabei als selbstverständlich und bekannt, daß es sich bei diesem Verbot um etwas Verurteilenswertes handelt. Als neu und interessant wird von ihm allein das in der Sendung angekündigte Buch behandelt, das KN als "Genickbruch" für die Argumentation der ZJ beschrieben hatte:
Nr. 14: Das war ja nun riesig interessant, worauf uns jener junge Mann brachte, (..) wenn der Freund das Buch herausbringt, dann würde ich es sofort kaufen wollen! Die "Blutwurschtelei" der Z-J ist doch furchtbar, nicht wahr?
In den anderen vier Briefen, in denen die Blutfrage erwähnt wird, erfolgen hingegen negative Anschlüsse an die Sendung; die Verfasser widersprechen einzelnen Propositionen und üben Kritik.
Nr.4: Leukozyten sind keine "blutspezifischen" Teile, weshalb die Einnahme von eben diesen dem Gläubigen freigestellt wird.
Hier wird indirekt die sachliche Richtigkeit einer Äußerung KNs bestritten, dabei präsupponiert, daß und warum das Thema im gegebenen Zusammenhang relevant ist. Die Erwiderung stellt im Verhältnis zum Ausgangstext einen pragmatischen Widerspruch dar, als dessen Folgerung sich ergibt, daß die ZJ nicht, zumindest nicht aufgrund von KNs Äußerungen, abzulehnen sind. Warum die Einnahme blutspezifischer Teile nicht erlaubt ist, wie die Äußerung impliziert, wird nicht als zu Begründendes behandelt. Nicht die allgemeine, moralische Qualität des Verbotes ist hier also strittig. Im Vergleich zur Sendung wird damit in bezug auf das Thema "Blut" die zu klärende Quästio verschoben. Durch den anschließenden Verweis auf "die Gegner" der ZJ und ihre Redeweise wird die Sendung gleichzeitig als "Fall" bzw. Teil eines bereits etablierten Diskurses behandelt, innerhalb dessen es zwei feindliche Parteien mit jeweils typischen Rede- und Argumentationsmustern gibt:
Nr.4: In Zusammenhang mit dem "Blutgesetz" reden JZ- das fällt mir persönlich auf- von "Leben", während die Gegner von "Tod" sprechen. Das ist bezeichnend! 61
Das "Bezeichnende" kann in diesem Zusammenhang nur die Annahme sein, daß die Blutfrage weder sonst noch in der Sendung um ihrer selbst willen diskutiert wird, sondern von ZJ und ihren Gegnern jeweils als strategisches Argument für die Gesamtbewertung der ZJ instrumentalisiert wird. Der Verfasser geht jedoch nicht weiter auf diese Meta-Ebene des Konfliktes ein und legt weder hier noch an andere Stelle nahe, daß ihm diese Ebene bewußt wäre. Er bezieht sich eher "performativ" auf sie, schreibt den Gegnern der ZJ zu, in bestimmter Weise zu argumentieren, weil sie eben Gegner seien. Der Hinweis erhält im kontextuellen Zusammenhang die Funktion, Vorwürfe eben solcher Gegner dadurch zu entkräften, daß sie als unglaubwürdige Sprecher erscheinen, da sie strategisch handelten. Ähnlich wird in Nr.20 argumentiert:
..daß zwar immer wieder gern die Weigerung der ZJ zu BT angeführt wird, um angeblich Glauben zu machen, diese Gemeinschaft "ließe ihre Kinder sterben".
Der reformulierte Vorwurf gegen die ZJ wird durch "angeblich" und die Positionierung in Anführungszeichen als offensichtlich unberechtigter und grotesker kategorisiert und dadurch zurückgewiesen. Durch "immer wieder" behandelt der Verfasser den Vorwurf als etablierten Topos und ordnet damit ebenfalls die konkrete Sendung einem bereits vor ihrer Ausstrahlung bestehenden thematisch definierten Diskurs zu. 62 Die Zurückweisung des Vorwurfs gegen die ZJ wird anschließend durch zwei Aspekte begründet:
jedoch zieht ein großer Prozentsatz von Personen, die keine ZJ sind, es vor, sich ebenfalls nicht dieser Behandlungsmethode zu unterziehen. Die Zahl dieser Personen steigt ständig, Kliniken in Amerika die sich auf blutlose Chirurgie spezialisiert haben, weisen sehr große Erfolge auf und auch hier in Deutschland wird sich diese Methode weiter durchsetzen. Durch ihre Weigerung Bluttransfusionen anzunehmen können sich ZJ auch sicher sein, daß keiner ihrer Angehörigen in den vor ein paar Jahren stattfindenden Blutskandal verwickelt war bzw. mit aidsverseuchtem Blut angesteckt wurde.
Zum einen handelt es sich seiner Argumentation nach bei der Weigerung, Transfusionen nicht zuzulassen, um eine Haltung, die nicht spezifisch für die ZJ ist; statt dessen könne es fast als normal gelten bzw. werde wohl bald normal sein, daß man sich ohne Blut operieren läßt. Zum anderen lasse sich die Weigerung der ZJ gegenüber Transfusionen auf ihr Verantwortungsgefühl zurückführen: Sie schütze sie selbst und Angehörige vor gesundheitlichen Gefahren. Das Subthema "Bluttransfusionen" erfüllt so auch in dieser Zuschrift argumentative (hier: rechtfertigende) Funktion in Hinblick auf die Gesamtbewertung der Zeugen Jehovas. Ähnlich wie in Nr.4 und Nr.26 behandelt der Schreiber nicht den Grund für die Existenz des Ver- bzw. Gebotes als relevanten Bezugspunkt seiner Argumente.
Durch die Zurückweisung des der Sendung zugeschriebenen Vorwurfs, die ZJ ließen ihre Kinder sterben (s.o.), bewertet der Verfasser den betreffenden Sachverhalt ebenfalls als negativen und bestätigt damit indirekt die diesem Vorwurf unterliegende normative Erwartung: Das Leben anderer (bzw. das Leben der eigenen Kinder) dürfe in keinem Fall fahrlässig gefährdet werden. Ähnliches wird auch in Nr. 1 1 impliziert:
ZJ sind keine kinderquälenden Monster.
Der Sendung wird zugeschrieben, behauptet oder zumindest impliziert zu haben, die ZJ quälten ihre Kinder. Daß dies bestritten wird, bestätigt ebenso wie die Wahl der Lexeme "quälen" und "Monster" die dieser Zuschreibung immanente negative Bewertung. Der Widerspruch dagegen, daß sie auf die ZJ zutreffe, wird im Anschluß dadurch begründet, daß die Weigerung gegenüber Transfusionen als etwas beschrieben wird, das nicht spezifisch für die ZJ, sondern üblich und in diesem Sinne normal sei:
Nr. 11: Es gibt schon viele Menschen die sich bei einer OP kein fremdes Blut
geben lassen. Viele Ärzte machen schon Herz OP ohne Blut.
Neben dem Verweis auf die "vielen", die das gleiche wie die ZJ täten, beruft sich der Verfasser außerdem in der Erwähnung der "viele(n) Ärzte" auf Autoritäten, die offenbar der kritisierten Praxis der Operationen ohne Transfusion zustimmen. Der Zusammenhang zwischen der Weigerung und spezifischen Normen bzw. Glaubenssätzen der ZJ wird hier ebensowenig aufgenommen wie die unterstellte Qualität der Weigerung als Folge eines Verbotes. Die in der Sendung (latent) als Konfliktanlässe fungierenden Aspekte treten also außer Sicht. Der Brief ist jedoch nur dann als kohärenter und sinnvoller verstehbar, wenn man ihm als argumentatives Ziel die Frage nach der positiven oder negativen Bewertung der ZJ insgesamt unterstellt. Auf Ebene des manifest Gesagten (bzw. Geschriebenen) wird jedoch auch hier ausschließlich die "Blutfrage" behandelt.
In Brief Nr.26 werden nun thematische Aspekte angesprochen, die die Frage nach erfolgten oder unterlassenen Bluttransfusionen über seine Relevanz bzgl. der Achtenswertheit der ZJ hinaus erweitern. Das Thema wird nämlich mit (einem) anderen Diskurs(en) verknüpft bzw. darin verortet:
Mir geht es heute um Bluttransfusionen. Ich habe Menschen erlebt, die Transfusionen verweigerten und trotzdem gesund sind. Andere wurden krank, hinfälliger, weil sie Transfusionen bekommen haben. Auch die Medizin hat diktatorische Tendenzen. Ein Erwachsener kann Stellung nehmen, wenn er dazu fähig ist Schwierig wird es, wenn Kinder behandelt werden müssen. Nur- Eltern sind verantwortlich, werden zur Verantwortung gezogen. Manchmal muß der Arzt der Führer sein. Er hat letztlich die entsprechende Ausbildung. Die Frage bleibt, führt er human oder im Sinne der Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht immer human. Ich wurde kritisch als ich über den großen Teich herüber hörte, daß Menschen ohne Unterleib, nur an Schläuche und Beutel angeschlossen, leben können, dürfen, müssen.
Indirekt wird damit negiert, daß das Thema ein allein die ZJ betreffendes sei. Als verantwortliche Personen, die in allen Fällen über Fragen der medizinischen Behandlung zu entscheiden haben, werden Mediziner genannt. Diesen wird die Pflicht zugesprochen, andere nach Geboten der Menschlichkeit zu beraten. Indirekt widerspricht die Verfasserin des weiteren der in der Sendung stets unterliegenden Präsupposition, daß die Verweigerung einer Transfusion mit negativen gesundheitlichen Folgen gleichzusetzen sei bzw. umgekehrt, daß eine Transfusion Wohlergehen bedeute. Wie auch in der Sendung und den anderen Briefen, wird Leben dabei als positiver Wert behandelt. Die Verfasserin differenziert bei der Kategorie "Leben" jedoch hinsichtlich der Qualität des Lebens für den jeweils Betroffenen.
Sie behandelt Leben also nicht allein in seiner binären Opposition zu "Tod", sondern impliziert, daß nicht jedes Leben erhalten werden müsse bzw. gar nicht erhalten werden dürfe. Als Grenzlinie fungiert die Kategorie des "humanen" Lebens, die sie nicht definiert, sondern dessen Extension sie anhand von Beispielen umreißt: Ein nicht humanes Leben kann demnach zum Beispiel eines sein, bei dem Menschen "an Schläuche und Beutel angeschlossen" existieren. Diesen Zustand zu verlängern, so legt ihre Argumentation nahe, bedeutet gerade nicht, Gutes zu tun, sondern Leiden zu bereiten. 63 Als noch offene Frage erwähnt sie dabei, daß es etwas anderes sei, ob man vitale Entscheidungen für sich selbst oder für jemand anders treffen muß. Sie verweist so indirekt auf den kategorialen Unterschied zwischen individuellen und interindividuellen Handlungen.
Dem Brief ist damit der Hinweis darauf immanent, daß das Thema "Bluttransfusion" nicht notwendig mit der Gegenüberstellung von "ZJ" und "Normalen" gleichgesetzt werden muß. Eine alternative Kategorisierung der möglichen Streitparteien (z.B. "Vertreter einer humanen und reflektierten Medizin" versus "Anhänger einer inhumanen, unreflektierten Medizin") wird hier nicht explizit vorgeschlagen, performativ aber verwendet. Damit stellt das Schreiben ein bestimmtes Potential im Hinblick auf mögliche Folgetexte und damit die Streitentwicklung dar: Die Perspektive auf den Konflikt wird erweitert. Dies kann nun zum einen als Ablenken vom "eigentlichen" Streit - dem Konflikt um die ZJ als Glaubensgemeinschaft - bewertet werden, zum anderen aber auch als Relativierung und "Geraderücken" der Bewertungsperspektive, da die ZJ hier in selbstverständlicher Weise mit anderen Gruppen gleichgesetzt werden. Anders als in einigen Briefen zur Sendung "Wessis kotzen mich an", 64 wird diese alternative Sichtweise auf den Konflikt jedoch nicht explizit als solche vorgeschlagen, sondern indirekt eingebracht, indem sie angewendet wird.
Zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: In den meisten Briefen wird die Weigerung der ZJ, Transfusionen nicht zuzulassen, nicht als notwendiger Anlaß dafür behandelt, die Gruppe moralisch zu verurteilen. Damit stehen sich in Relation zur Sendung zwei konträre (moralische) Bewertungen des Sachverhalts "Transfusionsverweigerung" gegenüber. Dieser Dissens läßt sich jedoch, wie auch beim oben untersuchten Thema "allgemeine Verbote", nicht begründet darauf zurückführen, daß die jeweiligen Sprecher sich in gänzlich unterschiedlichen "moralischen Räumen" bewegen oder denselben Werten und/oder Normen gegensätzliche Qualität zuweisen würden. Dissens läßt sich ebenfalls nicht darauf zurückführen, daß die Bedeutung der verwendeten Lexeme mißverständlich wäre.
Auch wenn sich die Verfasserlnnen der Briefe nicht explizit auf die Gesamtbewertung der ZJ als argumentatives Ziel beziehen, lassen sich ihre Anmerkungen nur als sinnhafte und relevante verstehen, wenn sie in Bezug zu einer solchen, der Blutfrage übergeordneten Quästio interpretiert werden. Auch die lokalen Verschiebungen dessen, was als strittig behandelt wird, lassen sich durch ein solches pragmatisches Ziel erklären. Da ein solches aber weder in der Sendung noch den Briefen thematisiert und "zugegeben" wird, eröffnen die konträren Bewertungen sowohl der Bluttransfusionen als dadurch auch der ZJ zumindest die Möglichkeit, aus Sicht Dritter wie auch der Beteiligten als Indikatoren für grundsätzliche Divergenzen gedeutet zu werden. Ich nehme dabei an, daß eine Perspektiven-Divergenz und eine darauf basierende unterschiedliche Auswahl von Bewertungsparametern in der "normalen" Rezeption nicht bemerkt werden würde, sondern daß allein die konträren Bewertungen des Blutverbots als "empörend" bzw. als "lobenswerte Haltung" Beachtung fänden. 65
Auch in bezug auf dieses (Sub-)Thema werden Rechtfertigungen der ZJ in den Briefen nicht an biblische oder religiöse Aspekte gebunden. Es werden so nicht, wie ja zumindest möglich gewesen wäre, Glaubensgrundsätze der ZJ als selbstevidente Begründung für die Existenz des Verbotes zitiert. Statt dessen führen alle Sprecher als Hauptargumente solche an, von denen zu erwarten ist, daß sie als "rationale" auch bzw. gerade von Nichtgläubigen akzeptiert werden würden. Es wird so auf den gesundheitlichen oder erzieherischen Nutzen bestimmter Verbote verwiesen, aber auch auf ihre Qualität, normale, d.h. übliche Verfahren darzustellen. Der Verweis auf eine Mehrheit bzw. große Menge von Menschen erhält dadurch die Funktion, moralisch zu legitimieren, selbst wenn dies von den Sprecherinnen nicht beabsichtigt gewesen sein mag.
Alle in Sendung und Briefen von unterschiedlichen Sprecherinnen (Schreiberinnen) implizierten moralischen Normen lassen sich nun auch auf die übergeordnete moralische Grundregel beziehen, daß es falsch ist, anderen Menschen zu schaden. Die gewählten Beispiele zielen fast alle auf die intersubjektiven Auswirkungen von Handlungen ab und implizieren als übergeordnete Bezugsnorm die Forderung, daß das Wohlbefinden anderer nicht beeinträchtigt werden darf und man aktiv dafür eintreten muß, anderen zu helfen und sie zu schützen. Positiv bewertetes eigenes oder fremdes Tun wird dabei zumeist als Aktivität eines frei und intentional sich entscheidenden Subjekts konzeptualisiert. 66
Als latentes, nicht aber expliziertes "eigentliches" Problem zeichnet sich ab, daß die Beteiligten sich wahrscheinlich auf mindestens zwei unterschiedliche Definitionen dessen beziehen, was als "gut für andere" anzusehen ist. Das Leben eines anderen nicht zu erhalten erscheint entsprechend dieser Definition einmal in jedem Fall als verwerflich, das andere Mal als unter bestimmten Umständen nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar als moralische Pflicht. Dies ist dann der Fall, wenn man es als allem anderen übergeordnete Norm ansieht, den Willen Gottes zu befolgen oder aber, anderen kein inhumanes Leben zuzumuten. 67 Es kommt jedoch weder in der Sendung zur ex- oder impliziten Thematisierung dieser Frage noch wird eine solche durch die Briefe begonnen oder auch nur nahegelegt. "Dieselben" Sachverhalte werden aus unterschiedlichen Perspektiven und unter unterschiedlichen normativen Voraussetzungen betrachtet, deren Relation untereinander jedoch unklar bleibt.
Unterstellt man, daß die in der Sendung "unterlegene" Seite, die ZJ, ihre eigene Position in bezug auf die Verbote adäquat nur durch Berufung auf eben solche nicht akzeptierten Argumente begründen könnte, die von der Mehrheit ihrer Kontrahenten nicht als Argumente akzeptiert werden würden, so stellt sich die Konfliktkonstellation im Sinne Lyotards als "Unrecht" dar: 68 ein Konflikt wird als zu entscheidender und als entscheidbarer behandelt, obwohl die beteiligten Parteien in unterschiedlichen "Sprachspielen" agieren und es keine gemeinsamen Kriterien gibt, nach denen gerecht entschieden werden könnte. Dennoch wird das Bezugssystem einer Partei als dasjenige herangezogen, innerhalb dessen Vorwürfe und Rechtfertigungen formuliert werden können und nach Maßgabe dessen entschieden wird; der anderen Partei geschieht dadurch Unrecht.
Dieser sich abzeichnende "Terror der Vernunft" 69 scheint in anderer Hinsicht jedoch auch die "Siegerseite" zu betreffen, indem er sie nämlich dazu zwingt, die eigene Ablehnung der ZJ argumentativ auf konkrete Gründe zurückzuführen, obwohl sie (wie von mir vermutet) eben nicht vollständig rational begründbar ist. Dieses "Vorschieben" rationaler Gründe könnte nun etwas sein, daß nicht (nur) bewußt als rhetorische Strategie eingesetzt wird, sondern auf eine Art moralisches Dilemma der Sprecher verweist: Man stellt an sich und andere den Anspruch, tolerant zu sein und (moralische) Bewertungen und Kritik, wenn, dann argumentativ und rational zu begründen. Man fühlt jedoch oft in einer Weise, die sich weder vor anderen noch vor sich selbst in der geforderten (normalen) Form legitimieren ließe. Aus diesem Grund "sucht" man nach Anlässen und Gründen, die die eigene Emotion rationalisieren und für andere, aber vielleicht auch für sich selbst, nachvollziehbar und plausibel machen kann. Auch die Analyse der drei anderen Sendungen und der Briefe, die sich auf sie beziehen, (siehe Kapitel 10 bis 12) legen eine solche Vermutung nahe.
Anmerkungen:
1 Im folgenden kürze ich die "Zeugen Jehovas" durch "ZJ" ab.
Meiser kommentiert dies ironisch damit, er habe noch nie in der Bibel gelesen, daß es zu Jesu Zeiten Fernsehen gegeben habe. Auch könne man die Sendezeit nun einmal nicht beliebig verlängern.
3 Meiser liest dies aus einem Brief der ZJ-Verwaltung in Selters vor, präsentiert die Begründung somit zumindest als wörtliches Zitat.
4 Dieser ostentative Austritt erscheint als eine Art Fazit aus dem in der Sendung Geäußerten. Er wird vom Saalpublikum mit Applaus belohnt und so als nachvollziehbare und lobenswerte Handlung bewertet.
Der Einfachheit halber bezeichne ich Moderator und Gäste im folgenden meistens mit ihren Initialen entsprechenden Abkürzungen: HM, EW, KN, UR, BW, BS, HS und HC.
6 Zum Transkriptionsverfahren siehe Anhang. Satzzeichen orientieren sich vor allem an Sinngrenzen und tatsächlich Gesprochenem, wo z.B. keine kurze Pause zwischen Sequenzen gemacht wird, steht kein Komma.
7 Meiser spricht die Unverbessedichen-ZJ" jedoch ohne deutliche Pause in der Mitte, wodurch die gesprochene Version des Titels in der Sendung ohnehin eher als die unverbesserlichen ZJ' verstehbar ist.
8 Das gesamte erste Gespräch wird beispielsweise rückverweisend von Meiser reformulierend zusammengefaßt, EW habe gesagt, bei den ZJ sei "alles falsch" (Z.265). An anderer Stelle begründet er seine Behauptung, bei den ZJ würden Kinder gezüchtigt, und züchtigen bedeute dabei "schlagen", mit dem Verweis darauf, das hätten seine Gäste "aber so erzählt" (Z..444).
9· B. Wendt hierbei immer ausgenommen.
10 Diese Rechtfertigungsposition wird unter anderem von Meiser auch dadurch bestärkt, daß bereits seine zweite Frage an BW mit einem "aber' eingeleitet ist, ihre vorhergehende Äußerung also nicht vollständig akzeptiert wird.
11 Kotthoff (1993b) stellt eine solche "Präferenz für Dissens', durch die Streitatmosphäre sozusagen auch formal indiziert wird, als Charakteristikum aller dissenten Sequenzen fest. Vgl. hierzu auch Gruber 1996.
12 Positiv bewertete oder als "normal" ansehbare Eigenschaften der ZJ, die von den Gästen erwähnt werden, werden nie von ihm vertiefend aufgegriffen.
13 "Arbeitt" verweist dabei auf einen Anspruch auf Seriösität, Fleiß, Ernsthaftigkeit; Meiser hätte ja auch einfach postulieren können, sie würden die Sendung so gestalten, wie sie eben möchten. Daß die Sendung aber von journalistischer Arbeit abhängt, impliziert, daß ein besonderes Fachwissen notwendig ist, das zu einer reflektierten, nicht von bloßen Präferenzen abhängigen Form führt.
14 Siehe auch 9.3.: Detailanalysen.
15 EW sollte keine höhere Schule besuchen, weil das Weltende Armageddon nahe und es sich nicht lohne, vorher noch eine Ausbildung zu machen. Diese Weissagung' liegt aber schon Jahre zurück und ist offensichtlich bisher nicht eingetreten.
16 Siehe auch 9.3.: Detailanalysen.
17 KNs Aussage wird dabei unmittelbar von EW bestätigt.
18 "Hat er denn versucht sie argumentativ zu überzeugen" Z 90).
19 Auch wenn es so BWs Absicht gewesen sein mag, gerade die Ähnlichkeit zwischen den ZJ und einer anderen Gemeinschaft darzulegen, ergibt sich als "Ergebnis' der Sequenz auch hier, daß weiterhin die Besonderheit der ZJ Thema ist.
20 Diese Gleichsetzung von normal = gut bzw. nicht normal = schlecht ergibt sich zunächst als struktureller Effekt, sie muß nicht von den Sprechern so gemeint oder ihnen bewußt sein.
21 Siehe hierzu auch Kapitel 14.2 ("Traditionelle" oder "postmoderne" Moral).
22 Der allgemeinen Bewertung, daß die Bibel eine "gute Sache' sei, widerspricht niemand, ebensowenig der Behauptung, ein Leben nach der Bibel sei moralisch gut.
23 Damit ist indirekt ein "klassisches" Problem auch der demokratischen Rechtsordnung berührt, der Abgrenzung von positiver und negativer Freiheit, also der Freiheit, tun zu können, was man möchte und dem Schutz anderer, die nicht durch mein Handeln in ihrem Recht auf Handlungs und Denkfreiheit eingeschränkt werden dürfen.
24 Es gingen insgesamt 26 Briefe ein, deren Länge zwischen vier Zeilen (Nr.1) und drei getippten Seiten (Nr.21) variiert. Fast alle Briefe sind persönlich an Hans Meiser adressiert und beginnen entweder mit "sehr geehrter" oder "werter Herr Meiser". Drei weitere, Nr. 14, 19, 20, sind an "RTL Sachbearbeiter", "mein lieber Mitmensch", "Sehr geehrte Frau Gruber, sehr geehrter Herr Meiser" gerichtet (Frau Gruber war die zuständige Redakteurin). In keinem der Briefe wird Meiser geduzt. Der Titel der Sendung wird nur einmal (ironisch) vollständig zitiert, einmal wird er als "unverbesserliche ZJ" wiederholt. Die anderen Briefe nennen zumeist sowohl das Sendedatum als auch eine Variante des Titels, wobei das "die Unverbesserlichen" wegfällt: ("Sdg vom"/"heutige Sdg"; "Sendung über Zeugen Jehovas" bzw. "über Jehovas Zeugen"; "Thema Zeugen Jehovas"; "Sdg. Zeugen Jehovas").
25 Dies korrespondiert mit der häufigen Reformulierung und Nennung des Titels als "über ZJ" oder "Thema ZJ".
26 Nummer 2, 7, 14, 15, 17 und 23. Nr. 17 gehört nur "halb" zu dieser Gruppe, da dieser nicht direkt an den Sender oder Moderator gerichtet ist, sondern die Kopie eines Faxes an die Wachtturmgesellschaft ist, das der Redaktion zugesandt wurde. Zustimmung zum Tenor der Sendung wird damit also nur impliziert, da sich das Fax als kritischer Hinweis des Verfassers an die Wachtturmgesellschaft verstehen läßt. Es ist übrigens auch aus diskurstheoretischer Sicht interessant, da es auf eine Form der "zerfaserung" des Diskurses im Anschluß an die Sendung verweist.
27 Nummern 1, 4, 6, 8, 9, 10, 11, 12,18, 20, 21 und 24.
28 Nummern 3, 5, 16, 19.
29 Hier wie auch im Rest der Arbeit entspricht die Schreibweise von zitierten Briefausschnitten dem Original.
30 Vgl. hierzu die Reaktionen auf die Sendung "Arabella. Ich entkam der Sekte", Kapitel 1 0.
31 Interessant sind dabei die unterschiedlichen Deutungen dieses Gespräches: Einmal wird Mitleid für BW geäußert, weil sie sich den ZJ "ausliefem" wolle, ein anderes mal festgestellt, BW sei dem kritischen Interview nicht gewachsen gewesen. In drei Briefen wird hingegen BW gelobt und Meiser als Unterlegener" behandelt, der BW nichts habe erwidern können. Sie sei überzeugend aufgetreten, habe gute Bibelkenntnis besessen, sie habe sich nicht einschüchtern lassen und ungewöhnliche Argumente eingebracht.
32 In Nr. 18 wendet sich der Verfasser z.B. an Meiser als einem Vertreter des Hegemonialdiskurses, der nicht nur die ZJ sondern auch andere Minderheiten unterdrücken würde. Meiser wird hier als "Sie als Kapitalist" angesprochen.
33 Zum Beispiel in Nr.17, 23 und 25.
34 Beispiele in Nummern 3, 5, 8, 9,16, 21, 22 und 26.
35 Beispiele in Nummern 2, 5, 6, 7, 8, 10, 11, 12, 23 und 26.
36 Dies geschieht dadurch, daß entweder Wahrheitsansprüche einzelner Propositionen zurückgewiesen werden, oder aber dadurch, daß ein in der Sendung behandeltes Thema unter einem anderen Aspekt betrachtet und bewertet wird. Dieser pragmatische Widerspruch stellt sich als solcher nur im Vergleich von Ausgangs- und Folgetext dar, ist nicht explizit als Widerspruch gekennzeichnet.
37 So kann zum Beispiel das Schlagen und "Züchtigen" von Kindern, über das mehrmals geredet wird, als "verwandt" mit Kindesmißbrauch wahrgenommen worden sein. Indoktrination" ließe sich durch seine semantische Verwandtheit mit dem Lexem Gehirnwäsche" erklären, das in der Sendung verwendet worden war. Siehe hierzu auch die Analyse von "Arabella- Sekten" (10. 1): Dort erscheint lndoktrination als quasi prototypische Eigenschaft von Sekten.
38 Erwähnt werden außerdem diejenigen, die die ZJ wegen ihres Glaubens verfolgten; Gegner der ZJ, die Sachverhalte fälschlich so darstellten, als ließen die ZJ ihre Kinder sterben; Kapitalisten, Talk Gäste, die von Sendung zu Sendung reisen; die Gesellschaft, in der das Thema Sexualität leichtfertig behandelt werde; die Wissenschaft, die nicht immer human sei; andere, die sich Christen nennen würden, aber Kriegsdienst leisteten und/oder die Nazis unterstützt hätten; andere, die Kinder mißbrauchten oder sie schlügen.
39 Neben diesen offenbar auf intuitiver Gewißheit basierenden normativen Erwartungen beruft sich ein Verfasser (Nr. 20) auch auf den "Pressekodex des Deutschen Presserates" als Bewertungsmaßstab Er fordert Meiser zu einem nach diesem als "journalistisch fair" zu bewertendem Verhalten auf. Insofern formuliert auch er selbst eine weitere moralische Forderung: die Erwartung, ein Moderator habe die Pflicht, sich entsprechend dieses Kodex zu verhalten.
40 In der gleichen Weise erfolgt auch in den folgenden Kapiteln (10-12) die Analyse einzelner Themen.
41 Folgende Handlungen werden erwähnt, die bei den ZJ verboten und/oder mit prompten Sanktionen behaftet seien: Rauchen, Kindergeburtstage, Parties, Weihnachten und Ostem feiern, gewisse Femsehsendungen (in denen Alkohol und Sex verherrlicht würden), Mitgliedschaft in einem Sportverein, eine höhere Schule besuchen, studieren, als junger Mann eine Freundin haben, als junge Frau einen Freund haben, Ohrringe tragen, (englische) Popmusik hören, in die Eisdiele gehen, vor- und außerehelicher Sex, als Frau bestimmte Ämter ausführen, als Frau Hosen tragen.
42 Diese sind in den Beispielen unterstrichen.
43 Diese bezieht sich zunächst nur auf die Ungewöhnlichkeit und Exotik der beschriebenen Ansichten, die aber durch den nachfolgenden Kontext zu einer moralisch relevanten wird: Sie führe dazu, daß Menschen zu früh in die Ehe getrieben würden, was sich dann als fatal erweisen könnte. Die verschrobene Einstellung' wird dadurch rückvvirkend zu einer moralisch abzulehnenden.
44 KN hatte allerdings Weihnachten und Parties gar nicht erwähnt. Unterstellt man, daß Meisers Rückverweis in kohärenter Weise an das Erwähnte anschließen soll, so legt er nahe, den Diskussionsrahmen weiter als zuvor zu fassen und auf unsinnige Verbote' allgemein zu beziehen.
45 Zu einer moralisch relevanten Bewertung der ZJ als Gruppe wird diese Sequenz ähnlich wie andere unkommentierte Schilderungen durch den textuellen Zusammenhang und ihre implizite Unterordnung unter die globale Quästio der Sendung: sie wirkt als weiteres Beispiel dafür, daß die ZJ anders sind und nicht akzeptable Regeln haben. Ob jede einzelne dieser Regeln in einer moralischen Weise zu verurteilen ist, ist weniger relevant als die lmplikation, daß zumindest die Summe aller Abweichungen die ZJ zu einer verurteilenswerten, nicht achtenswerten Gemeinschaft macht.
46 Er hatte zuvor in Z.102 geäußert, es habe "nur Verbote" für sie gegeben, s.o..
47 Es liegt mir daran, den Unterschied zwischen einer bloßen "negativen Konnotation'" eines Lexems und seiner Funktion als unmittelbare negative moralische Bewertung hinzuweisen: "Verbot' erscheint hier nicht nur als etwas Unangenehmes, Lästiges, sondern wird als moralisch negativ bewertete Kategorie verwendet.
48 Diese Distanzierung er-folgt entweder durch den jeweiligen Kontext, d.h. ein Verbot wurde als Beispiel für die eigene schlimme Zeit bei den ZJ geschildert, oder durch mimische oder intonatorische Hinweise: ironischer Tonfall, Hochziehen der Augenbrauen o.ä..
49 So z.B. dort, wo Meiser darauf verwies, er würde dem Pfarrer den Weihwasserkessel um die Ohren hauen', sollte der ihn nach einer Erektion fragen, die er, Meiser, mal gehabt habe (S.O.). Ähnlich ist es in Z.549, wo er B. Stöckler fragt, was sie denn eigentlich aufrege, da es doch bestimmte Formen des Miteinanders in jedem Tischtennisverein gebe. BS geht daraufhin jedoch nicht auf diesen Vergleich ein, sondern fokussiert den Aspekt, daß bei den ZJ Ver- und Gebote nicht für alle Mitglieder gleichermaßen gälten.
50 Niemand äußert z.B. es sei ja unverständlich gewesen, worüber sich die Gäste überhaupt aufgeregt hätten. Die in der Sendung implizierten Normen werden damit übereinstimmend als allgemein geltend behandelt (was nicht notwendig heißen muß, daß sie auch als legitim geltend, also gültig anerkannt werden).
51 Der Brief war an Meiser adressiert, "Ihre Frau" richtet sich somit an den Moderator.
52 Im Kontext vorgängiger Diskussionen über die ZJ kann dies auch als indirekte Widerlegung des Vorwurfs des "Hinterwäldlertums" oder der "Technikfeindlichkeit" bzw. Antiquiertheit der Gruppe verstanden werden. Es werden betont "moderne" Argumente zur Begründung herangezogen.
53 Es läßt sich auch annehmen, daß diese Art der Behandlung es beiden Seiten ermöglicht, jeweils auf einem Gebiet zu "operieren", von dem anzunehmen ist, daß es zwischen allen unstrittig ist. Zum Beispiel also das Abheben auf die negativen gesundheitlichen Folgen des Rauchens- diese können von niemandem ernsthaft bestritten werden, damit könnte auch die durch das Argument implizierte positive Bewertung der ZJ nicht unmittelbar argumentativ zurückgewiesen werden.
54 Der Begriff des 'Sprachspiels' geht auf Wittgenstein zurück (ders. 1984) und meint, vereinfacht ausgedruckt, eine kommunikative Ordnung, einen bestimmten (Handlungs)zusammenhang, innerhalb dessen Sprache verwendet wird und in dem bzw. durch den sprachliche Zeichen erst ihre kontextuell variierende Bedeutung erhalten. Zum Begriff des Sprachspiels im hier gemeinten Sinne vgl. auch Lyotard 1989.
55 Was hier überhaupt erst impliziert, daß die Eltern ZJ sind.
56 Zum Vergleich: es wäre ebenfalls möglich gewesen, die Weigerung als individuelle Entscheidung der Eltern oder auch aller ZJ zu fassen, etwa als 1. sie wollen kein Blut'. Hinsichtlich thematischer Isotopien ist hier auf die bereits zuvor geschilderten Verbote und Strafen zu verweisen.
57 Vgl. Günthner 1993.
58 Es ist nicht eindeutig, ob die Umformulierung während des Sprechens am originalen Wortlaut des von Meiser zitierten Textes (dem Blutausweis der ZJ) liegt oder an Meisers Einschätzung, nach der er den Glauben der ZJ nicht mit christlichem Glauben in eins setzt, obwohl diese selbst sich als christliche Glaubensgemeinschaft definieren würden. Letzteres liegt zum einen deshalb nahe, weil er frei rephrasiert und nicht abliest, zum anderen deshalb, weil sich die ZJ wahrscheinlich selbst nicht vom Christentum abgrenzen würden.
59 Ebenso sind zahlreiche Fragen in bezug auf das gleiche Thema in der Sendung "Arabella- Ich entkam der Sekte" strukturiert, siehe Kap. 1 0.
60 Das Thema "Blutverbot" wird auch im 5. Gespräch mit BS am Rande erwähnt, wo es darum geht, daß man kein Blut "essen' dürfe. Es wird an dieser Stelle jedoch nicht als moralisch problematischer Fall thematisiert, sondern als eines von vielen Geboten, das den Alltag bei den ZJ zu einem schwierigen Unterfangen mache (siehe auch 9.3.1.).
61 Der Verfasser schreibt wirklich "JZ", nicht "ZJ".
62 Nämlich dem über die ZJ und ihre Akzeptanz oder Ablehnung innerhalb der Gesellschaft.
63 Sie bedient sich damit bewußt oder unbewußt einer utilitaristischen Argumentation, nach der das Kriterium für Gutes die quantitative Vermehrung von Glück ist. Es sollen also möglichst viele Menschen möglichst viel Glück haben/empfinden.
64 Vgl. Kapitel 11.
65 Diese Annahme basiert auch auf der Beobachtung, daß in der Rezeption offenbar zwar die "Wirkungen" struktureller Eigenschaften der rezipierten Texte wahrgenommen werden, jedoch nicht den "richtigen" bzw. vereinfachenden Ursachen zugeschrieben werden; siehe hierzu Kapitel 13.2.
66 Selbstbestimmung als positiver Wert erscheint sowohl in Sendung als auch Briefen auch noch in Zusammenhang mit anderen Themen. Er steht dabei zumeist in Relation zur ebenfalls indirekt geforderten Abwesenheit von Zwang.
67 Der "Wille Gottes" wird nun weder in der Sendung noch in den Briefen unmittelbar von einem Fürsprecher der ZJ als Argument angeführt. Insofern basiert die Annahme, daß alle oder einige ZJs sich vorrangig gegen Transfusionen sperren, weil sie es mit ihrem Glauben nicht vereinbaren können, auf meiner Spekulation und damit u.a. auf Annahmen, die auf Implikationen des in der Sendung Behaupteten basieren. Dennoch will ich hier davon ausgehen, daß eine solche religiöse Begründung zumindest bei einigen ZJs der eigentliche Grund für die Einhaltung bzw. Anwendung des Verbotes ist, und nicht dessen praktischer Nutzen.
68 Vgl. dazu Lyotard 1985 und 1989.
69 Dies ist sicherlich überspitzt formuliert und soll nicht im Sinne einer brutalen Gewaltherrschaft verstanden werden, wohl aber als "heimliche" nahezu uneingeschränkte Dominanz eines Denkparadigmas, nämlich dem der "Vernunft" und "ihrer" Form der Auseinandersetzung, der Argumentation Dominanz meint dabei wiederum, daß es offenbar zumindest von allen als kollektiv geltend unterstellt wird, daß Konflikte argumentativ zu regeln sind und auch, daß nur vernünftige" Begründungen als Argumente verwendet werden können. Es wird deutlich, daß Vernunft' dabei in einem bestimmten Sinne zu verstehen ist, nämlich vorrangig auf etwas wie Ratio' begrenzt ist, Gefühle, wie z.B. das einer moralischen Verantwortung, sind dabei mehr oder weniger ausgeklammert.