Ursula Neitz: Weltenwechsel

Im Rahmen einer Diplomarbeit für das Pädagogikstudium, beschreibt die Autorin, Ursula Neitz, unter dem Titel "Weltenwechsel", aufgrund von Texteditionen, vorher auf Band aufgenmmener Interwiews, den Entwicklungsweg zweier vormaliger Zeuginnen Jehovas näher. Wie schon der Titel "Weltenwechsel" andeutet, sind diese Biographien letztendlich nicht "bruchlos" verlaufen. Die Autorin, selbst eine ZJ-Sozialisation hinter sich habend, empfand offenbar das darstellen von Fällen, außerhalb der eigenen Biographie, als geeignet, entsprechende Konfliktsituationen deutlich zu machen. Inwieweit ihre gewählten Fälle typisch sind, mag man mit einem Fragezeichen versehen. Aber als generell untypisch kann man sie sicher nicht bezeichnen.

Ihr zweites Fallbeispiel, von ihr "Anja" genannt, unterscheidet sich schon mal dadurch, dass ihre Eltern der ansonsten Zeugentypischen Mißachtung höherer Bildungsstufen für ihre Kinder, so nicht stattgaben. Immerhin brachte es auch dann die "Anja" zum Pionier für die Zeugen Jehovas. Zusammen mit ihrem Mann zogen sie gar in ein Gebiet, wo die Zeugen noch nicht so präsent waren, um den dortigen Versammlungsaufbau zu stärken. Hier allerdings mussten sie alsbald erfahren, dass ihr zusehends immer liberaler verstandenes Zeugen Jehovassein (grob gesprochen den lieben Gott eine guten Mann sein lassen und mehr der Gemeindesoziologischen Seite zugetan. Das "Brüder und Schwestersein" also allzu wörtlich verstanden). Das diese Tendenz durchaus nicht im Sinne der WTG liegt und entsprechende Maßregelungen nach sich zog.

Diese Ernüchterung, die sich in Trippelschritten der Entfernung von der WTG fortsetzt, sollte noch andere Ernüchterungen nach sich ziehen. Beispielsweise die, dass bisher als Grundlage auch der eigenen Ehe gesehene Zeugen Jehovassein, nach dessen Wegfall die Frage verschärft auf die Tagesordnung setzte: Welche Grundlage gibt es denn für die weitere Ehe noch? Offenbar gab es auf diese Frage keine Antwort im Sinne eines Happyend. Insofern hier ein Fall vorliegt, der nicht von prinzipieller Bildungsfeindlichkeit geprägt ist, konnte "Anja" durch Forcierung ihrer Bildungsanstrengungen, etwa durch die Aufnahme eines Studiums, sich einen gewissen Ausgleich verschaffen.

Das andere Fallbeispiel, von der Autorin "Clara" genannt, hingegen hatte Eltern die auf dem Bildungsfeindlichen Kurs der WTG mitschwammen. Auch hier blieb eine Ernüchterung letztendlich nicht aus. Diese Ernüchterung äußert sich beispielsweise in solchen Passagen wie:

"Es war da auch wieder so, dass ich viele Sachen gar nicht mitmachten durfte - damals war ich ja erst 15 als ich mein Lehre anfing. Und zu den Weihnachtsessen der Firma da durfte ich immer nicht mitgehen , das hat den Chef schon geärgert und ich musst mir dann seinen Ärger anhören. Ich würde das Betriebsklima verderben, wenn ich nicht mitmachen würde. Dabei konnte ich doch gar nichts machen, mein Vater hätte mich nie gehen lassen."

Auch sie fühlt sich durch die raue Wirklichkeit in der vergleichsweisen Situation einer Nichtschwimmerin, die von einem 5 Meter Sprungturm ins kalte Wasser gestoßen wurde. Den "Sprung" hat sie zwar überstanden, aber "Blessuren", auch dauerhafter Art, die blieben. Auch davon kann man in diesem Buch lesen.

Erschienen auch im Buchhandel, im IKS Garamond Verlag, Jena , in der Reihe "Religio". ISBN 3-934601-81-2

Ergänzend siehe auch:http://www.manfred-gebhard.de/Parsimony.9469.htm

Dämonen auf dem Dach

Als zweites Buch der gleichen Autorin, ebenfalls in der Religio Reihe des des IKS Garamond Verlages, liegt noch der Band "Dämonen auf dem Dach" vor. Laut Untertitel "Lebensberichte von ehemaligen Zeugen Jehovas". Umfasste der erste Band zwei, so dieser Band nunmehr zehn solcher Einzelberichte. ISBN 3-934601-83-9

"In den vorgestellten Lebensgeschichten kristallisiert sich für die Zeit der Mitgliedschaft deutlich das Phänomen der Fremdbestimmung heraus", rekapituliert die Autorin zusammenfassend. Ist diese Fremdbestimmung positiv oder negativ bewertbar? Nach der Lektüre kann man das wohl eindeutig beantworten. Bei den vorgestellten Fällen - negativ.

Auch das wird man sagen können, ohne das dies in diesem Band tiefergehend reflektiert wird.

Die Organisation der Zeugen Jehovas lebt von der Fremdbestimmung ihrer Mitglieder. Ohne dieses ihr wesenseigene Element gleicht sie dem sprichwörtlichem Fisch auf dem trockenen Lande.

Davor haben schon einige AutorInnen die Fremdbstimmung thematisiert. Egal, wen man da jetzt nennen will: Josy Doyon, Renate Sprung, Gerd Wunderlich und andere mehr. Die hatten ihre Individualerfahrungen zu eigenen Büchern ausgeweitet. Hier nun begegnet man in Kurzform, sogleich "zehn solcher Bücher".

Stärke dieses Buches sind in der Tat solche Individualberichte. Dem vorangestellt ist auf den Seiten 8 - 28 ein allgemeiner Überblick zu den Zeugen Jehovas. Da allerdings ist zu sagen. Dem Kriterium populärwissenschaftlicher Literatur (und das will auch dieses Buch sein) entspricht er mit Sicherheit nicht. Fast jeder zweite Satz ist gespickt mit kryptischen Literaturangaben. Willkürliches Beispiel, um viele vergleichbare Beispiele ergänzbar, ist beispielsweise die Aussage auf S. 28:

"Die Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas kann aufgrund folgender Strukturen als geschlossenes soziales System und ebenso als geschlossenes Sinnsystem (vgl. Schütz/Luckmann, 1975) bezeichnet werden."

Genau diese kryptischen Literaturangaben, die der Durchschnittsleser überhaupt nicht nachvollziehen kann, unterbrechen in nahezu penetranter Weise immer wieder die Textaussage. Geeignet gewesen wäre es, diese Literaturangaben durch nummerierte Fußnoten, vorzugsweise im Anhang angeordnet, auszutauschen. Das hat die Autorin nicht getan. Sie beließ ihre kryptischen Literaturangaben im Fließtext. Abgesehen von der soziologischen Komponente, ist auch die theoretische Durchdringung der Zeugen Jehovas-Religion nicht unbedingt ihre "stärkste" Seite. Das wird auch an dem Literaturverzeichnis deutlich; dass einerseits relevante Literatur nicht erwähnt; andererseits aber dafür auch zweifelhafte Literatur erwähnt, wie das katholische 1961 erschienene "Lexikon Christlicher Kirchen und Sekten" von Johannes Gründler. Wer die Gründler'schen Ausführungen zum Thema Zeugen Jehovas selbst gelesen, und wer sich mit der ideologischen Grundlage der Zeugen Jehovas selbst intensiv befasst, dem ergreift beim Namen Gründler eher das Bauchweh, denn das "Hurraschreien".

Aber Hauptkernpunkt sind ohne Zweifel die vorgestellten Individualberichte, die allesamt die Erziehung zum Außenseitertum durch die Zeugen Jehovas belegen, und dies durchaus nicht im positiven Sinne.

Als Veranschaulichungsbeispiel kann man auch auf das einleitende Fallbeispiel hinweisen.

Aus Kinder werden eines Tages Leute, dass ist auch bei den Zeugen Jehovas so. Und dann offenbaren sich in bestimmten Konstellationen eben auch die Schattenseiten der WTG-Erziehung, in einer Art und Weise, wie sie in der Theorie natürlich nicht vorgesehen ist. Der einleitende Erlebnisbericht unter dem Pseudonym Pascal Bachmann geschrieben, berichtet beispielsweise, dass in seinem Fall die Zeugen Jehovas-Außenseitererziehung zu einem ganz sonderbarem Ergebnis geführt hatte.

Das er Weihnachten nicht zu feiern hätte, war natürlich auch ihm eingetrichtert worden und weitgehend befolgt. Tja, wo aber ist die Grenzziehung? Das ist schon immer eine schwierige Frage gewesen. Schon seit den Tagen der Zeugen Jehovas in den Hitler'schen KZs.

Die einen sahen es dort als Kriegsbegünstigung an, wenn sie den ihn aufgetragenen Arbeitsauftrag der Angorakaninchenpflege ausüben wurden, und verweigerten diese, da sie mutmaßten, die Kaninchenwolle könnte ja in Militäruniformen Verwendung finden.

Die anderen hatten hingegen keine Skrupel SS-Offizieren den Haushalt zu führen, deren Kinder zu Babysittern und anderes mehr; damit der SS-Offizier so entlastet, umso strammer auf dem Appellplatz seine strammen Befehle herausbrüllen konnte.

Die Zeiten haben sich gewandelt. Die Probleme von Zeugen Jehovas-Kindern liegen auf einer niedrigen Ebene. Gleichwohl müssen auch sie manchmal eigenverantwortlich abwägen, was ist im Sinne ihrer Religion nicht erlaubt, und was gerade eben noch.

Vor einer solchen Konfliktsituation stand offenbar zur Weihnachtszeit auch dieser Pascal. Er konnte es durchaus mit seinem Gewissen vereinbaren, in einer Bastelstunde Sterne herzustellen. Stolz auf sein Werk zeigte er es seiner Mutter und wollte die so selbstgebastelten Sterne am Fenster seines Zimmers anbringen. Die Mutter hatte erst mal mit dem Stirnrunzeln zu kämpfen. Nachdem sie sich dann einigermaßen gefasst hatte, sagte sie sich wohl auch. Na ja, dass könnte man ja noch durchgehen lassen. Dem Vater, Ältester der Versammlung, erging es ähnlich. Nach dem Zureden seiner Frau, ließ auch er sich zu einer ähnlichen Haltung überreden.

Allerdings hatte diese Familie die "Rechnung ohne den Wirt" gemacht. Das sollte sich dergestalt bemerkbar machen, das andere Verwandte (gleichfalls den Zeugen Jehovas zugehörig, den Grundsatz befolgten, dass zu denunzieren). Die Folge, bei der nächsten Zeugen Jehovas Versammlung wurde diese Familie nach Versammlungsende zu einem Gespräch zurückbehalten. Die Zeugen Jehovas-Falken befanden, dass mit den Sternen geht zu weit. Das muss rückgängig gemacht werden. Da der Vater seinen Ältestenposten wohl nicht wegen dieser Sache aufs Spiel setzen wollte, wurde dieser Aufforderung sofort in vorauseilendem Gehorsam Folge geleistet.

Nicht diese eigentlich recht banale Begebenheit interessiert hier. Hier interessiert mehr, wie aus dem Kind Pascal dann eines Tages ein Mann wurde, und welche Erfahrungen und Eindrucke er dann in dieser Phase seines Lebens sammelte.

Dazu nachstehend ein entsprechendes Zitat aus dem genannten Buch, dass meines Erachtens für sich spricht:

"So war uns Jugendlichen dann auch immer bewusst, was uns blühen konnte, wenn wir uns sexuell betätigten. Wie eingangs erwähnt haben die Zeugen Jehovas ein sehr verkrampftes Verhältnis zur Sexualität. Es herrscht auch ein sehr striktes Rollenverständnis von Mann und Frau in der Versammlung. Als künftigen Zeugen Jehovas musste uns natürlich eingebläut werden, wie wir mit den beginnenden Hormonschüben umzugehen hatten. Wir hatten schon von klein an gelernt, welche Gefühle Jehova wohlgefällig und welche 'sündig' waren. Die Sexualität vor der Ehe fand laut Wachtturmgesellschaft eindeutig die Missbilligung Jehovas. Wenn sich ein Paar vor der Ehe verlustierte, musste es unbedingt geheim bleiben, sonst drohte eine 'Komiteeverhandlung' mit den bekannten Folgen. 'Hurerei' nannte die Wachtturmgesellschaft solche schamlosen Übertretungen von Gottes Gesetz.

Wir jungen Leute standen deshalb auch immer unter besonderer Beobachtung. Wenn wir uns untereinander trafen, dann wurde darauf geachtet, dass sich bloß kein Junge und Mädchen allein in einem Raum befanden. Es konnte ja sein, dass beide die Wollust überfiel und sie sich ins Unglück stürzten. Von Verhütung hatte man höchstens im Sexualkundeunterricht in der Schule gehört. Da man natürlich Gottes Gesetz nicht vorsätzlich brechen wollte, dachten viele auch nicht an Kondome oder Ähnliches. Das hätte ja bedeutet, dass man sich ohnehin nicht mehr an die Maßstäbe Jehovas halten wollte ...

Ein Mädchen in unserer Versammlung wurde dann doch von ihrem Freund schwanger. An Verhütung hatten sie beide scheinbar nicht gedacht. Sie war noch in der Ausbildung, also auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen. Als ihr Freund, der nur 'Interessierter' war, sie dann verließ, stand sie natürlich dumm da. ...

Da bei den Zeugen Jehovas eine Beziehung gleich zwingend als Eheanbahnung gesehen wird, wurden alle Pärchen am Ort ständig von den Eltern beäugt, dass sie auch ja keine Zeit allein verbringen konnten. 'Hurerei' und damit mindestens eine 'öffentliche Zurechtweisung' vor der Versammlung war ja eine gesellschaftliche Katastrophe. Auch wenn der Versammlung das 'Vergehen' nicht namentlich mitgeteilt wurde, konnten sich die lieben Brüder und Schwestern das ohnehin meistens denken. Das bekamen dann indirekt auch die Eltern zu spüren, die ja anscheinend nicht richtig auf ihre Kinder aufpassten. ..."

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