Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Zeitdokument: Tjaden/Krappatsch

Anfang der 90-er Jahre veröffentlichten die Autoren Heinz Peter Tjaden und Walter Krappatsch, zwei kleinere Bücher unter dem Titel: "Gift gegessen. Aussteiger aus Endzeitsekten berichten" und "An ihren Früchten." Schon seit geraumer Zeit sind diese Publikationen über den Buchhandel nicht mehr beschaffbar. Neben der Neuapostolischen Kirche sind auch die Zeugen Jehovas darin ein Thema. Nicht in allen Ausführungen gehe ich mit den Autoren konform. Namentlich behagt mir jene Passage nicht, wo eine Publikation von Algermissen aus den 20-er Jahren zitiert wird, die unterstellt (und das taten zeitgenössisch noch ein paar mehr), dass die Bibelforscher von den Freimaurern finanziert würden. Es sei eingeräumt, dass diese Algermissen-These in einen kritischen Kontext gestellt wird. Offenbar sind aber für einige Verschwörungstheoretiker, prinzipiell einfache Antworten auf weit kompliziertere Vorgänge, angesagt. Mit dieser These habe ich mich bereits in der "Geschichte der Zeugen Jehovas" im Detail auseinandergesetzt, und bitte dort weiteres dazu zu entnehmen.

Immerhin scheinen mir die Ausführungen von Tjaden/Krappatsch, auf ihre Art durchaus ein Zeitdokument zu sein, dass es verdient auch an dieser Stelle in seinen die Zeugen Jehovas bezüglichen Teilen, dokumentiert zu bleiben. Dies um so mehr, als wohl kaum von einer über den Buchhandel beschaffbaren Neuauflage auszugehen sein dürfte.

Bezüglich der Autoren siehe auch die Webseite:

http://www.artikel-4.de/

Die Geschichte dieser Glaubensgemeinschaft beginnt 1881 mit der Gründung der Wachtturm-und Traktatgesellschaft in Pittsburgh (USA). Den Namen "Zeugen Jehovas" führt sie seit 1931 (bis dahin "ernste Bibelforscher"). Jehova soll der richtige biblische Name Gottes sein, ein Irrtum, wie Wissenschaftler bewiesen haben.

An der Spitze dieser Glaubensgemeinschaft stehen der Präsident und die Leitende Körperschaft. Länder- bzw. Ländergruppen werden von Zweigbüros betreut, darunter gibt es Bezirke, die wiederum in Kreise aufgeteilt sind. Sie werden von Bezirks- bzw. Kreisaufsehern geführt. Auf der untersten Stufe stehen die Versammlungen. Sie werden von der Ältestenschaft, bestehend aus Sekretär, Aufseher und Dienstamtsgehilfen, geleitet.

In der Bundesrepublik Deutschland haben die Zeugen Jehovas derzeit rund 120 000 aktive Mitglieder. [Zum Zeitpunkt der Verfassung dieser Ausführungen] Weltweit soll die Zahl der aktiven Mitglieder bei 3 Millionen liegen.

Die Zeugen Jehovas nehmen am politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben nicht teil. Sie lehnen den Wehrdienst ab, verweigern Bluttransfusionen, feiern weder Weihnachten noch Ostern und taufen keine Kinder. 1933 schrieb die deutsche Wachtturmgesellschaft an den "sehr verehrten Herrn Reichskanzler" Adolf Hitler, daß es keinen Gegensatz zwischen den "hohen ethischen Zielen und Idealen" der Zeugen Jehovas und den Zielen und Idealen der "nationalen Regierung bezüglich der Verhältnisse des Menschen zu Gott" gebe. Zurückgewiesen werden müsse die "Verleumdung, Bibelforscher würden durch die Juden unterstützt."

Abschließend schrieb das deutsche Zweigbüro: "Unter Berufung auf die angeblich harte Sprache unserer Literatur erfolgten einige Verbote unserer Bücher ... Der beanstandete Inhalt der Bücher (nimmt) doch nur Bezug auf Zustände und Handlungen im Anglo-Amerikanischen Weltreich, und daß dieses -speziell England- doch für den Völkerbund und die auf Deutschland gelegten ungerechten Verträge und Lasten verantwortlich zu machen ist. Das im obigen Sinne unserer Literatur Gesagte richtet sich also doch -einerlei, ob in finanzieller, politischer oder ultramontaner Beziehung gegen die Bedrücker des deutschen Volkes und Landes, aber doch nicht gegen das sich gegen diese Lasten sträubende Deutschland, so daß die erfolgten Verbote absolut unverständlich sind."

Der Beschwichtigungsversuch der Zeugen Jehovas scheiterte. Hitler ließ 6000 Gemeindemitglieder in Konzentrationslager sperren. 2000 Zeugen Jehovas starben hinter Stacheldraht.

Keine Antwort

Die Glaubensgemeinschaften, die in diesem Buch behandelt werden, habe ich brieflich um die Beantwortung der folgenden Fragen gebeten:

- Wie erklären Sie sich die Tatsache, daß Mitglieder Ihrer Glaubensgemeinschaft diese wieder verlassen?

- Wie verhält sich Ihre Glaubensgemeinschaft gegenüber diesen Ex-Mitgliedern?

Die deutsche Zentrale der Zeugen Jehovas antwortete nicht. Dieses Schweigen wird nach dem Lesen der folgenden Erfahrungsberichte verständlich.

Handgreiflich geworden

"Das Licht wird immer heller", verkündet die Wachtturmgesellschaft. Das Glück der Zeugen Jehovas nehme zu. Anders klingt es in der Schrift "immer im Bilde" (1989, zu beziehen über, den Bruderdienst ...): "Wer Zeuge Jehovas wurde, hat durch diesen Schritt sowie durch seinen totalen Einsatz zumeist alle ,weltlichen' Freunde verloren. Bei einem Bruch mit den Zeugen verliert er nun auch diese menschliche Gemeinschaft. Angst vor der Ächtung hat ihren Grund in der Angst vor dem Alleinsein, aber auch vor Rufmord. Die Zahl der Zeugen, die aus Angst vor der Ächtung ihr Leben wegwerfen, wächst beständig."

Systematisch schürt die Wachtturmgesellschaft auch die Angst vor dem Kontakt mit Aussteigern. Von Berührungsängsten handelt der folgende Erfahrungsbericht: "Einer älteren Dame, die zu den Zeugen gehörte, wurde auf der Straße plötzlich übel. Eine Ausgeschlossene sieht das, eilt herbei, nimmt sich ihrer an und bringt die ältere Dame bis zu ihrer Haustür. Plötzlich zuckt die Zeugin zusammen und ruft: 'Eben ist Frau ... vorbeigegangen und hat uns gesehen. Jetzt kommt eine Meldung, paß auf, das wird furchtbar.' Tatsächlich erschien einen Tag darauf ein leitender Herr von der Ortsversammlung der Zeugen und stellte die ältere Frau empört zur Rede: 'Wie kannst du dich von Frau ... nach Hause bringen lassen, Weißt du nicht, daß sie ausgeschlossen ist bei uns? Alle diese Leute mußt du meiden wie den Teufel."'

Der "Bruderdienst" 29/30 schildert, was andere "als 'Zeugen Jehovas' erlebt, erlitten und erzählt" haben. Dieses Magazin erscheint heute unter dem Menschen" und wendet dem Titel "Brücke zum Menschen und wendet sich an Sektenopfer.

Eine Frau aus Erlangen berichtet: "Nach dem Kongreß wurde ich vorgeladen vor das Komitee. Man stellte mir bestimmte Fragen und hielt mir vor, ich bete zu Jesus ... (diese Gebete waren ihr verboten worden, weil Jesus ein Mensch und die Anbetung von Menschen nicht gestattet sei, der Verf.) Ich sagte ihnen, daß ich daran festhielte, und versuchte, es ihnen zu erklären. Aber sie waren nicht zugänglich und schlossen mich aus. Ich wollte ihnen zum Abschied noch die Hand geben, sie legten keinen Wert darauf. Dann begann eine Hetzkampagne..."

Von Gewissensnöten erzählt ein Ex-Mitglied: "Vielen jungen Zeugen Jehovas geht es wie mir. Sie leiden unter den Verboten menschliche Qualen. Da ich mich unfähig fand, allen Geboten der Gesellschaft nachzukommen, fühlte ich mich alsbald als elender Sünder und dachte, daß es für mich sowieso keine Rettung gäbe. Ich wollte die Versammlung schon öfters verlassen, tat es aber nicht, da ich glaubte, dann ist alle Hoffnung für mich aus."

Ein Schlaglicht auf den Umgang mit Andersdenkenden wirft auch die Schilderung eines ehemaligen Zeugen aus Dortmund: "Im vorigen Jahr, auf dem Kongreß in München, sah ich einen jungen Mann, der Schriften anbot. Als ich nähertreten wollte, um diese Broschüre entgegenzunehmen, wurde ich von einigen Ordnern ziemlich unsanft abgedrängt. Anderen Brüdern, die nichtsahnend das gleiche vorhatten, erging es genauso. Man sagte mir, dieser junge Mann sei ein Gegner, und ihm sei wegen Verbreitung falscher Lehren die Gemeinschaft entzogen."

Von Nächstenliebe zeugen die Zeilen eines Berliner Ehepaars ebenfalls nicht: "Vor einigen Monaten starb in unserer Nähe eine Zeugin, die lange Jahre mit dem Wachtturm und anderen Schriften auf der Straße gestanden hat. Sie wurde krank und ist buchstäblich umgekommen. Die Zeugen kümmerten sich nicht um sie. Sie wurde vom Sozialamt beerdigt. Die Frau war einseitig gelähmt. Kein Zeuge ging sie besuchen. Wir haben die Frau nicht persönlich gekannt, und uns wurde geraten, nicht hinzugeben."

Ein Studienleiter der Zeugen Jehovas aus Dresden beschwert sich: "Auf dem Nürnberger Kongreß lernte ich ... Unterschiede kennen in ganz grober Form. Da schliefen und wohnten die Bezirks- und Kreisdiener mit ihren Frauen in der Villa am Dutzendteich. Wir als schwer körperlich arbeitende Brüder schliefen auf dem Boden in Massenlagern."

Auf der Seite 325 des Buches "Neue Himmel und neue Erde" schleudert die Sektenzentrale Ausgeschlossenen und Ausgetretenen ihren Haß nach: "Die Abtrünnigen, welche zur Klasse des ,schlechten Sklaven' werden, lassen ihre Namen als Fluchwort zurück und werden hinausgeworfen, um ihr Teil mit den Heuchlern zu haben, die in Harmagedon schließlich hingerichtet werden. Ihr Tod verursacht daher keine Trauer unter Gottes Neuer-Weltgesellschaft."

Unglaubliches erleben auch Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften, aber kaum eine "Endzeitkirche" treibt die Menschenverachtung derart auf die Spitze wie die Wachtturmgesellschaft. "Angst vor der 'Vernichtung der Abtrünnigen' geht gutgläubigen Wachtturm-Anhängern auch dann noch nach, wenn sie sich gegen Irrlehren und Machtmißbrauch auflehnten - unter Umständen komplexartig und im Unterbewußtsein noch Jahre nach dem Bruch mit dieser Ideologie", trifft die Schrift "immer im Bilde" das zentrale Problem von Sektenaussteigern. Nach Ausschluß oder Austritt quält zudem viele das Gefühl, ein einzigartiges Schicksal erlitten zu haben. Von diesem Irrtum müssen sie befreit werden.

In der Wahrheit

Frauke Schulz (Name geändert. Der richtige Name ist dem Autor bekannt) aus dem Kreis Unna war 14, als ihre Mutter "in die Wahrheit" kam. "In der Wahrheit" sein bedeutet in der Sprache der Zeugen Jehovas, daß sich jemand aktiv zu dieser Glaubensgemeinschaft bekennt. Ihre drei Töchter mußten sie begleiten, ihr Mann kam nicht mit.

Als 15jährige ließ sich Frauke Schulz taufen, obwohl sie von den Lehren der Wachtturmgesellschaft nicht überzeugt war, sie ließ sich taufen, weil sie eine enge Beziehung zu ihrer Mutter hatte. Trotzdem schwamm sie aber nur an der Oberfläche mit und blieb dort. Heute ist sie froh darüber, weil sich Gemeindemitglieder, die nicht tief hinabtauchen, ohne Gewissensbisse von dieser Sekte trennen können.

Lippenbekenntnisse und Gehorsam schätzten Frauke Schulz vor dem ausgeklügelten Strafensystem ihrer Mutter, wenn sie jedoch ungehorsam war und den "Wachtturm" nicht studierte, mußte sie spülen, wenn sie die Bibelstunden nicht besuchte oder nicht an Haustüren predigen wollte, mußte sie das Haus putzen.

Im April 1988 klingelte bei Frauke Schulz das Telefon. Ihre Mutter überfiel sie mit dem Vorwurf "Du hast dich mit falschen Religionen beschäftigt" und fragte: "Bist du ausgeschlossen worden?" Dann müsse sie den Kontakt abbrechen. Frauke Schulz reagierte empört: "Wie die Nazis tut ihr alles, was euer Führer befiehlt." Damit war das Gespräch beendet. Seither hat Frauke Schulz nichts mehr von ihrer Mutter gehört. Ein paar Tage später klingelte das Telefon ein zweites Mal in Sachen Zeugen Jehovas. Am Apparat war nun ihre Schwiegermutter, die mitteilte, daß sie den Kontakt zu ihrem Sohn abbrechen müsse, weil er kein Gemeindemitglied mehr sei. Auch diese Beziehung ist seitdem tot.

Frauke Schulz breitet "Wachtturm"-Ausgaben auf dem Tisch aus. Diese Zeitschrift der Zeugen Jehovas erscheint laut Impressum in 104 Sprachen und wird in einer Auflage von über 11,6 Millionen Exemplaren gedruckt.

Der "Wachtturm" vom 15. März 1986 beweist, daß sich die Mutter und die Schwiegermutter von Frauke Schulz auf der Sektenlinie bewegen. In einem Artikel heißt es: "Wenn wir unsere Kinder so entschieden vor dem Einfluß der Pornografie schützen würden, sollten wir dann nicht erwarten, daß unser liebevoller himmlischer Vater uns in ähnlicher Weise vor geistiger Unmoral schützt, wozu ja auch die Abtrünnigkeit zählt? Er sagt: Haltet euch vor ihr fern!"

Der "Wachtturm" ist für die Zeugen Jehovas kein beliebiges Magazin, jeder Satz wird von Sektenmitgliedern aufgesogen, in den "Königreichssälen" sind die Sonntage der Wiederholung des Gelesenen gewidmet. Die Fragen, die von den Amtsträgern gestellt werden, werden im 'Wachtturm' als Fußnoten abgedruckt.

Frauke Schulz erlebte so manchen Wiederholungskurs, wenn sie die Antworten auf die vorgegebenen Fragen nicht mit Lineal unterstrichen hatte, mußte sie sich Kritik gefallen lassen. Mit freier Hand gezogene Linien störten den Ordnungssinn der Amtsträger.

Der Vater von Frauke Schulz ist auch nach 30 Jahren nicht "in die Wahrheit" gekommen, darum wären ihm Tochter und Schwiegersohn auch weiterhin willkommen, ihre Mutter allerdings werde bei einem Besuch kein Wort mit ihren Gästen wechseln. Das machte sie ihrer Tochter während des Anrufs im April 1988 klar.

Diskussionen und Streitigkeiten geht Fraukes Vater schon lange aus dem Weg. Zu jener Zeit, als seine Frau die ersten Schritte in den "Felddienst" tat, war das noch anders. Als Fabrikarbeiter und Bauer mußte er von morgens bis abends schuften, den Besuch von Bibelstunden, die Missionsarbeit und das Studium der "Wachtturm"Artikel hielt er für Zeitverschwendung. Erst schimpfte, dann schauspielerte er.

Als Requisiten benutzte er Schnapsflaschen, die er im Haus versteckte. Seine Frau sollte glauben, daß er seinen Ärger im Alkohol ertränke. Sie fiel auf diese Komödie nicht herein und blieb die überlegene, weil sie mit Wörtern besser umgehen konnte als er.

Frauke Schutz erinnert sich daran, daß ihre Mutter oft den Kopf über Amtsträger schüttelte, die im "Königreichssaal" vorne standen und ihre Predigten sprachlich schlecht verpackten. Sie schwieg, weil sie wußte, daß bei den Zeugen Jehovas die Männer vorne stehen, weil sie Männer sind. Sie tröstete sich mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die sich für die Elite hält. Sie hatte mit 19 geheiratet und unter der Rolle der Hausfrau gelitten.

Als Frauke Schutz 17 war, wollte sie, wie die anderen, tanzen gehen und sich mit Gleichaltrigen treffen. Sie bekam von ihrer Mutter Ohrfeigen und Schläge, die ihr den rechten Weg weisen sollten. Auf dem rechten Weg gibt es für die Zeugen Jehovas keine Freude am Tanz, keinen übermäßigen Alkoholgenuß, keine Zigaretten und keinen Sex vor der Ehe. Im "Wachtturm" vom 15.3.1986 wird der richtige Glaubenskurs so abgesteckt: "Auch bei der Wahl der Entspannung dürfen wir Gott nicht außer acht lassen."

n den 60er Jahren lernte Frauke Schulz ihren Mann Herbert kennen. Während eines Kongresses der Zeugen Jehovas in München hatte eine ihrer beiden Schwestern eine Frau fotografiert, die den "Wachtturm" anbot. Adressen wurden ausgetauscht. Eines Tages holte diese Frau das Foto ab. Ihr Sohn Herbert begleitete sie. 1964 heirateten Frauke und Herbert Schulz. Sie war damals 20 Jahre alt. Ihr Mann besuchte die Treffen der Zeugen Jehovas noch seltener als sie. Er bastelte in seiner Freizeit lieber herum, als den "Wachtturm" zu lesen oder von Haus zu Haus zu gehen.

Als ein "Königreichssaal" umgebaut werden mußte, überlegte er nicht lange und half. Ein "Glaubensbruder" belehrte ihn "Es wäre besser, wenn du predigen würdest als hier zu arbeiten."

Herbert Schulz arbeitete noch bis zum Abend weiter, packte dann seine Sachen und beteiligte sich nicht mehr an den Umbauarbeiten.

Die Missionsarbeit hat bei den Zeugen Jehovas den höchsten Stellenwert. Jedes Gemeindemitglied muß im Monat mindestens 12 Stunden mit dem "Wachtturm"' auf der Straße stehen oder an den Wohnungstüren klingeln, um "Menschen zu fischen".

Mit dieser Verpflichtung ist die Verpflichtung zum Kauf von mindestens 12 "Wachttürmen" verbunden. Viele Ausgaben verstauben auf irgendwelchen Dachböden. Auch die in großen Mengen produzierten Bücher müssen die Zeugen Jehovas kaufen.

Wird so die Gemeindearbeit finanziert? Frauke Schulz schlägt den "Wachtturm" vom 1. Dezember 1985 auf. Sie deutet auf einen Artikel, der diese Frage so beantwortet: "Viele Menschen sind überrascht, daß die Zeugen, die zu ihnen an die Tür kommen, kein Geld sammeln. Andere sind beim ersten Besuch eines Kongresses oder eines Königreichssaales erstaunt, daß keinerlei Kollekte gesammelt wird. Wie wird denn das Werk der Zeugen Jehovas finanziert? Die Antwort lautet: durch freiwillige Spenden derjenigen, die Jehova 'mit ihren wertvollen Dingen ehren' möchten (Sprüche 3:9)."

Nach diesem Wink mit der Bibel werden Schenkungen, Versicherungen und Testamente aufgezählt, der Artikel endet: "Weitere Informationen oder Rat in dieser Angelegenheit kann man erhalten, wenn man an das jeweilige Zweigbüro der Gesellschaft schreibt." Manchmal ist die Zentrale noch deutlicher geworden, der Erfolg bleibt nicht aus, die jährlichen Einnahmen der Wachtturmgesellschaft werden auf 750 Millionen Mark geschätzt.

Deutlich waren auch die Jahreszahlen, die in dieser Sekte für den Beginn einer neuen Welt gehandelt wurden. Keine Voraussage traf ein. Heute setzt sich die zweite Zeugen-Zeitschrift "Erwachet" das folgende Ziel: "... diese Zeitschrift (stärkt) das Vertrauen zum Schöpfer, der verheißen hat, noch zu Lebzeiten der Generation, die die Ereignisse des Jahres 1914 erlebt hat, eine neue Welt zu schaffen, in der Frieden und Sicherheit herrschen werden."

Einen Beitrag zum Verständnis lieferte "Erwachet" am 22.4.1972: "Die Generation, die das Jahr 1914 erlebt hat, ist jetzt schon alt. Von dieser Generation sind viele gestorben. Doch müssen 'alle' von Jesus für unsere Zeit vorhersagten 'Dinge , in Erfüllung gehen, ehe 'diese Generation vergeht'. Das bedeutet, daß die Zeit, da das geschehen wird, nahe, sehr nahe sein muß."

Am 15. März 1977 bat der "Wachtturm" um Geduld: "Was für den ewigen Gott 'eine kleine Weile' ist, könnte für uns ... eine sehr lange Zeit sein." Das Ehepaar Schulz kümmerte sich nicht um Prophezeiungen, die in unregelmäßigen Abständen überarbeitet werden, die Eheleute besuchten die Treffen und Kongresse der Zeugen Jehovas, weil sie dort hilfsbereite und freundliche Menschen trafen. Sie hielten die Lehren der Zeugen Jehovas für einen Kinderglauben, der ohne Schwarzweißmalerei nicht auskommt.

Schwarz sind für diese Glaubensgemeinschaft die großen Kirchen. In Predigten werden evangelische und katholische Geistliche als die schlimmsten Ungläubigen dargestellt. Sie müßten, so die Begründung, die Wahrheit kennen, was wohl bedeuten soll, daß sie sich wider besseres Wissen gegen die Zeugen Jehovas entscheiden.

Herbert Schulz wurde zu einer Entscheidung gezwungen. In den 70er Jahren suchten ihn "Glaubensbrüder" auf und forderten von ihm den Verzicht auf Zigaretten. Ein halbes Jahr Entwöhnungszeit wurde ihm eingeräumt. Nach Ablauf dieser Frist standen die Zeugen Jehovas wieder vor der Tür. Herbert Schulz gab zu, daß er das Rauchen nicht aufgegeben hatte und wurde ausgeschlossen. Da für viele Zeugen der Ausschluß die schlimmste aller denkbaren Strafen ist, leugnen sie die Übertretung der Sektengebote und flüchten sich in Heimlichkeiten.

Frauke Schulz entschied sich einige Jahre nach dem Ausschluß ihres Mannes endgültig gegen die Zeugen Jehovas. In all den Jahren hatte sie nie einen Auserwählten zu Gesicht bekommen.

In dieser Sekte wird die Zahl von den 144000 Auserwählten wörtlich genommen. Kurz vor Ostern feiern die Zeugen Jehovas Abendmahl, bei dem Brot und Wein gereicht werden. Genießen dürfen Brot und Wein nur die Auserwählten. Während der Abendmahle, die Frauke und Herbert Schulz besuchten, trank niemand den Wein, niemand aß von dem Brot.

Im Glaubensgebäude der Wachtturm-Gesellschaft wohnt neben den Auserwählten, "die erkauft sind von der Erde" (Offenbarung 14,3) die "große Volksmenge der anderen Schafe" (Offenbarung 7,9), dazu gehören sowohl Zeugen Jehovas als auch "gute Menschen". Diese "große Volksmenge" wird nicht in den Himmel entrückt, sie soll nach den biblischen Katastrophen die "neue Erde" bewohnen.

Frauke und Herbert Schulz wissen nicht, ob die Zahl 144000 nach Auffassung der Sektenzentrale schon erreicht ist, Amtsträger antworteten auf diese Frage, daß es keine Antwort gebe.

Vor Jahrzehnten lautete die Antwort noch: Zu den 144000, die als "himmlische Klasse" bezeichnet werden, gehören alle treuen Zeugen, die bis zum Jahre 1931 Bibelforscher geworden sind.

Doppelleben

Die Trennung von den Zeugen Jehovas begann für Kerstin Hauptmann (Name geändert. Der richtige Name ist dem Autor bekannt) mit einem Doppelleben. Ihre Kindheit hatte sie in der Glaubensgemeinschaft verbracht, als Heranwachsende wollte sie mehr Zeit für sich haben. Im Alter von 13 Jahren zog sie sich von den Zeugen Jehovas zurück und legte eine Pause ein, die jungen Mitgliedern zugestanden wird. Ihre Mutter aber war damit nicht einverstanden und schloß ihre Tochter vom Familienleben aus, Streit und Schläge gehörten von nun an zum Alltag, und nach kurzer Zeit erfüllte sich die Prophezeihung des "Wachtturm" vom 15. August 1988: "Diejenigen, die darauf vertrauen, daß Jehova für sie sorgt, ersparen sich viele Schmerzen und Sorgen." Kerstin Hauptmann sah nur einen Ausweg: Sie kehrte in die Glaubensgemeinschaft zurück und ließ sich mit 16 Jahren taufen.

Die Zweifel aber wuchsen. Da sie beim Rauchen ertappt worden war, mußte sie einem Ältesten "ihre Sünden beichten", der jedoch weniger an der "Sünde des Rauchens" sondern vielmehr an "Sünden der Sexualität" interessiert war. Jede Einzelheit wollte er wissen, und Kerstin Hauptmann kam sich mißbraucht vor.

Den Glaubensweg verließ sie vor drei Jahren. Auf einer Fachoberschule wurde sie in Soziologie, Pädagogik und Psychologie unterrichtet und lernte Gruppenprozesse durchschauen, die sie bei den Zeugen Jehovas kennengelernt hatte. Ihre Mutter, die ihre Aggression nicht im Zaum halten konnte, wenn es um ihre Religion ging, verlor die Selbstbeherrschung. Für sie gab es keinen

Mittelweg, wie er im "Wachtturm" vom 15. August 1988 zwischen zwei Bibelworten vorgezeichnet wird: "Kindererziehung: 'Wer seine Rute zurückhält, haßt seinen Sohn, wer ihn aber liebt, der sucht ihn sicherlich heim mit Züchtigung' (Sprüche 113:24). 'Reizt eure Kinder nicht, damit sie nicht mutlos werden' (Kolosser 3:21)." Sie züchtigte ihre Tochter, bis sie Blutergüsse hatte. Kerstin Hauptmann floh zu ihrer Großmutter.Nach einer Woche meldete sich ihre Mutter. Nun war sie nicht maßlos in Taten, sondern in Worten: "Du mußt sterben, wenn du nicht 'in der Wahrheit' bleibst."

Nach dem Besuch ihrer Mutter setzte sich in Kerstin Hauptmann die Überzeugung fest: "Du kommst von den Zeugen Jehovas nicht los." Ein Ältester der Gemeinde nahm ihr diese Überzeugung mit merkwürdigen Vorhersagen über ihr weiteres Leben. Er begnügte sich nicht mit der Ankündigung, ihr werde es schlecht gehen, sondern untermauerte sie auch noch auf diese Weise: "Du wirst Drogen nehmen oder Süßigkeiten essen, bis du dick bist." Hätte er doch nur schon die Sätze aus "Erwachet" vom 22. August 1988 gekannt, die dort zum Thema "Abstoßendes Verhalten" veröffentlicht wurden: "Vielleicht ist dein Verhalten anderen gegenüber die Ursache des Problems. Denke nur an die Neunmalklugen oder diejenigen, die alles besser wissen ... Dann gibt es solche, die gern streiten und jedem ihre Meinung aufdrängen möchten, sowie die 'allzu Gerechten', die jeden prompt verurteilen, der nicht nach ihren persönlichen Maßstäben lebt (Prediger 7:16)." Wahrscheinlich aber wäre auch die Kenntnis dieser Sätze nicht dienlich gewesen, weil sie nicht auf die Zeugen Jehovas bezogen werden, sobald sie sich als Gruppe darstellt. Da gilt der Satz: "Viele Streitigkeiten können vermieden werden, wenn wir ganz einfach die theokratische Ordnung beachten und an unserem Platz bleiben."

Kerstin Hauptmann blieb nicht an ihrem Platz, sie wollte kein schlechtes Gewissen mehr haben. Ob sie inzwischen ausgeschlossen worden ist weiß sie nicht. Eine Zeitlang fühlte sie sich von Amtsträgern verfolgt. Sie warteten nach Schulschluß auf sie oder liefen hinter ihr her, wenn sie sich auf der Straße blicken ließ. Inzwischen wird sie in Ruhe gelassen, auch ihre Mutter fand sich mit der Entscheidung ab. über eines wundert sich Kerstin Hauptmann: Seit sie nicht mehr zu den Zeugen Jehovas gehört, steigert ihre Mutter ihren Einsatz für die Glaubensgemeinschaft als müsse sie Buße tun. Die folgenden Sätze aus dem "Wachtturm" vom 15. August 1988 liefern möglicherweise eine Begründung: "Einige, die nur einen sehr geringen Anteil am Predigtdienst haben, mögen dies damit begründen, daß es ihnen aufgrund des Drucks am Arbeitsplatz und wegen der Erziehung der Kinder kaum möglich ist, mehr zu tun. Zugegeben, der Druck, dem wir in den gegenwärtigen 'letzten Tagen' ausgesetzt sind, ist sehr groß (2. Timotheus 3:1). Jesus warnte jedoch davor, sich von den 'Sorgen des Lebens beschweren' zu lassen. Wenn sich die Verhältnisse verschlimmern, sollten sich Christen 'aufrichten und die Häupter emporheben' (Lukas 21:28,34). Unsere Füße 'mit der Ausrüstung der guten Botschaft' beschuht zu haben -die regelmäßige Beteiligung am Predigtdienst- ist eine der besten Möglichkeiten, gegen Satans Angriffe 'festzustehen' (Epheser 6: 14,15)."

Wie es aussieht, wird Kerstin Hauptmanns Mutter demnächst einen Erfolg verbuchen können: Nach Jahren des Ehestreits und Ehezanks steht ihr Mann auf der Schwelle der Glaubensgemeinschaft.

Süßigkeiten und Angst

Oma, die heute nicht mehr zu den Zeugen Jehovas gehört, schenkte ihrem Enkel, der nie zu den Zeugen Jehovas gehört hat, Süßigkeiten, wenn er die Versammlungen besuchte. Damals war er neun Jahre alt, und die Glaubensgemeinschaft rechnete mit dem Ende der Welt im Jahre 1975. In den folgenden fünf Jahren besuchte der Hannoveraner Wolfgang Lütge die Versammlungen der Zeugen Jehovas regelmäßig, zuerst wegen der Süßigkeiten, dann aus Angst, die Prophezeiungen, die sich 1975 erfüllen sollten, könnten zutreffen. Ein Onkel überzeugte ihn schließlich davon, daß er an eine Irrlehre glaubte. Als 14jähriger verabschiedete er sich von den Zeugen Jehovas, eine Zeitlang blieb die Angst sein Begleiter. Diesen Begleiter schüttelte er ab, so wie die Zeugen Jehovas falsche Prophezeiungen, die zu ihrer Geschichte gehören, abschüttelten.

Am 30. August 1975 verkündete der Vizepräsident Fred Franz auf einem Bezirkskongreß in Gelsenkirchen: "Nach biblischer Chronologie ... enden 6000 Jahre Menschheitsgeschichte am Freitag, dem 5. September, mit Sonnenuntergang." Am 5. September ging dann zwar die Sonne unter, die Welt aber nicht. Heute werden die Gemeindemitglieder darauf gedrillt, auf diesbezügliche Fragen zu antworten, die Leitende Körperschaft habe niemals für 1975 den Beginn der Tausendjahrherrschaft angekündigt, verschweigen, daß schon die ersten Christen davon überzeugt waren, daß sie in der "letzten Zeit" lebten. Im 9. Jahrhundert rechneten dann jüdische Rabbiner den Zeitpunkt für die Wiederkunft von Jesus aus. Im 12. Jahrhundert wagte sich der Mönch Joachim von Fiore an die Endzeitberechnung, andere eiferten ihm nach und kamen auf die Jahre 1260, 1360 und verschiedene Jahreszahlen im 16. Jahrhundert.

Im 19. Jahrhundert brach über die Menschen eine Flut von Prophezeiungen herein. So sagte der Engländer John Aquila Brown das Ende der Welt für 1844 voraus. Diese Prophezeiung übernahm der Amerikaner William Miller und beschwor, nachdem dieses Jahr verstrichen war, eine schwere Krise der Adventbewegung herauf. Einige adventistische Gruppen legten ein neues Jahr fest. N.H. Barbour aus Rochester im Staate New York setzte sich an die Spitze einer dieser Bewegungen. Er studierte die Schriften von Brown und gab eine Zeitschrift mit dem Titel "Herald of the Morning" heraus, auf deren Titelseite verkündet wurde:

"Ende der Heldenzeiten im Jahr 1914". Der Gründer der heutigen Zeugen Jehovas, Charles Taze Russell, übernahm diese Vorhersage. Er hatte auf einer Geschäftsreise nach Philadelphia eine Ausgabe des "Herald of the Morning" in die Hand bekommen, 1876 kaufte er eine Druckerei und wurde Mitherausgeber der Zeitschrift. Die Zusammenarbeit zwischen Barbour und Russell war nicht von langer Dauer, im Juli 1879 erschien die erste Ausgabe des "Wachtturm".

Die Jahre nach dem 1. Weltkrieg verliefen für die Zeugen Jehovas stürmisch. Die Enttäuschung über das Jahr 1914, Russells Tod im Jahre 1916 und die sich anschließenden Nachfolgekämpfe ließen die Wellen hochschlagen. Im Jahre 1920 schließlich veröffentlichte der neue Präsident Rutherford eine Broschüre mit dem Titel "Millionen jetzt lebender Menschen werden nicht sterben". Sie enthielt ein neues Enddatum: 1925. Über seine eigenen Voraussagen soll Rutherford gesagt haben: "Ich habe mich lächerlich gemacht."

Jedem, der mehr wissen möchte, sei das Buch "Der Gewissenskonflikt" von Raymond Franz empfohlen. Franz gehörte neun Jahre lang der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas an, 1981 wurde er ausgeschlossen, weil er mit einem Ex-Mitglied essen gegangen war!

Nur noch wenige Jahre

"Im höchsten Fall dauert es nur noch wenige Jahre, bis Gott das verderbte System der Dinge, das jetzt die Erde beherrscht, vernichten wird", versicherte der "Wachtturm" 1969.

Detlef Meyer (Name geändert. Der richtige Name ist dem Autor bekannt) glaubte daran. Da sein Bruder 1950 den väterlichen Bauernhof geerbt hatte, zog er nach Niedersachsen, lernte am Arbeitsplatz einen Zeugen Jehovas kennen, der ihm erzählte, daß diese Glaubensgemeinschaft eine große Familie sei und weckte in ihm die Sehnsucht nach einer neuen Geborgenheit.

Fünfundzwanzig Jahre später erklärte ein Mitglied dieser Sekte in Augsburg vor Zeugen: "Ich tapeziere meine Wohnung nicht mehr, denn das wäre unnütze Arbeit und Geldausgabe, im Herbst ist alles zu Ende."

Diese Überzeugung teilte in jener Zeit auch Detlef Meyer. Von der Wachtturm-Gesellschaft war ihm eingetrichtert worden, daß Aus- und Weiterbildung sinnlos seien. Nach dem Weltuntergang komme es auf handwerkliche Fähigkeiten an, Trümmer müßten beiseitegeräumt werden, damit die "neue Welt" aufgebaut werden könne. Ende der 60er Jahre kündigte Detlef Meyer seine Unfallversicherung, eine Entscheidung, die er heute bitter bereut.

"Wir wissen somit, daß unsere Befreiung, während wir uns dem Jahr 1975 nähern, umso näher kommt." Dieser Satz aus dem "Wachtturm" galt auch für Detlef Meyer, der hoffnungsvoll auf den Tag X wartete.

Seit nunmehr zehn Jahren gehört er nicht mehr zu den Zeugen Jehovas. Er hat die Lehre aus den falschen Lehren gezogen. Die Glaubensgemeinschaft reagierte auf die übliche Weise: Seiner Schwiegermutter wurde der Ausschluß angedroht, falls sie ihren Schwiegersohn in ihr Haus lasse.

Rückblickend sagt er: "Das Paradies wurde mir gepredigt, die Hölle der Enttäuschung habe ich erlebt und bin magen- und nervenkrank geworden."

Ablenkungsmanöver

"Wollen Sie ins Paradies?" fragt mich eine ältere Frau und verharrt zwei, drei Schritte vor der Türschwelle." "Kommen Sie von den Zeugen Jehovas?" frage ich zurück. "Ja", lautet die leise Antwort. "Entschuldigung", sage ich, "mit dieser Glaubensgemeinschaft möchte ich nichts zu tun haben" und schließe die Tür.

Seit diesem Hausbesuch stehe ich wohl als "Unbelehrbarer" in einem Bericht. In solchen Berichten legen Zeugen Jehovas auch Rechenschaft ab über alle verkauften Bücher, Broschüren und Zeitschriften.

Verstößt ein Sektenmitglied gegen ein Sektengebot, werden seine Berichte nicht mehr zur Kenntnis genommen. Außerdem wird er in den Versammlungen mit einem Redeverbot belegt.

Hans Abelmann (Name geändert. Der richtige Name ist dem Autor bekannt) drohten diese Strafen 1962, als er 23 Jahre alt war. Seit 13 Jahren gehörte er zu den Zeugen Jehovas, und nun stand er vor der Frage, ob er neben dem Kriegsdienst auch den Ersatzdienst verweigern sollte. Die Sektenleitung forderte seit dem 2. Weltkrieg die Totalverweigerung, offizielle Stellungnahmen aber kannte Hans Abelmann nicht. Darum schrieb er an die deutsche und an die amerikanische Zentrale der Zeugen Jehovas, bekam jedoch keine Antwort. Um den befürchteten Sekten-Strafen zu entgehen, verweigerte er den Ersatzdienst und nahm eine Gefängnisstrafe mit Bewährung in Kauf.

Schon bald wurde er ein zweitesmal zum Ersatzdienst einberufen. Nun setzte er sich über das Sektengebot hinweg und reparierte als Ersatzdienstleistender die Fernmeldeeinrichtungen der Tübinger Universität. Die Amtsträger reagierten mit einem inoffiziellen Ausschluß. In den Versammlungen, die Hans Abelmann trotzdem mit seiner Frau besuchte, wurden seine Berichte über Hausbesuche nicht mehr registriert.

Nach dem Ersatzdienst stellte er auf Drängen seiner Frau einen Wiederaufnahmeantrag, dem stattgegeben wurde, obwohl er das übliche Reuebekenntnis nicht abgelegt hatte. In den 60er Jahren wurde ihm sogar ein Amt übertragen. Der nächste Konflikt war aber schon vorgezeichnet. Hans Abelmann glaubte nämlich nicht an die Prophezeiung, daß 1975 die Welt untergehen werde und baute in den 70er Jahren unbeeindruckt von den Vorhersagen der Wachtturmgesellschaft ein Reihenhaus. Die Zeugen Jehovas reagierten in diesem Fall süß-sauer.

Auf den ausgebliebenen Weltuntergang reagierte die Wachtturmgesellschaft mit Ablenkungsmanövern. Im "Wachtturm" stempelte sie im Herbst 1976 "einige der Brüder" zu Urhebern der falschen Prophezeiung ab. Hans Abelmann zu dieser Taktik: "Das schlug dem Faß den Boden aus. In mir brodelte es, meine Frau aber beschwichtigte mich immer wieder. Sie glaubte, daß die Wachtturmgesellschaft doch noch Stellung nehmen werde und fragte: Wo sollen wir denn hingehen?"

Kurze Zeit später fand er die Antwort in einem Taschenbuch über Sekten, das zehn Jahre lang unberührt in seinem Bücherregal gestanden hatte. Jetzt kam der Stein ins Rollen: Hans Abelmann las weitere Bücher über die Geschichte der Zeugen Jehovas, auch für seine Frau brach das Glaubensgebäude der Wachtturmgesellschaft wie ein Kartenhaus zusammen, und so erklärten sie gemeinsam ihren Austritt.

Heute hält Hans Abelmann Vorträge über diese Glaubensgemeinschaft und schildert Erfahrungen wie jene: "Ich habe nach dem Ersatzdienst noch eine zweite Lehre als Industriekaufmann gemacht. Darauf reagierten die Zeugen mit Kritik. Außerdem kenne ich einen Zeugen Jehovas, der 1975 seinen Betrieb verkaufte und heute in diesem Betrieb sein Brot als Arbeiter verdienen muß. Für die Zeugen sind wir inzwischen Luft. Zumal sie wissen, daß ich über ihren amerikanischen Weltuntergangsverein Referate halte und zur evangelischen Landeskirche zurückgekehrt bin."

Nicht nur kritische Vorträge treiben die Wachtturmgesellschaft auf die Barrikaden, sie ärgert sich auch über Meinungen wie "Die Zeugen Jehovas sind eine amerikanische Religionsgemeinschaft", noch erboster wird sie auf Hans Abelmanns "amerikanischer Weltuntergangsverein" antworten.

In "Erwachet" vom 8. August 1988 steht in einem rosa unterlegten Kasten: "Obwohl sich die Weltzentrale der Zeugen Jehovas in New York befindet, kommen nur 23 Prozent aller Zeugen Jehovas aus den Vereinigten Staaten. So, wie Jerusalem ein geeigneter Ausgangsort für das Urchristentum war, sind in unserem Zeitalter der Weltkriege und Konflikte die Vereinigten Staaten der geeignete Ausgangsort für das weltweite Predigen der guten Botschaft. Die Erfahrung hat gezeigt, daß anderswo das Werk aufgrund von Vorurteilen und Verboten oder mangels Rohmaterialien zum Stillstand gebracht worden wäre. Aber wenn sich auch die Zentrale in New York befindet, bedeutet das nicht, daß Jehovas Zeugen eine ,amerikanische Religion' sind

Bestreiten wird 'Erwachet' aber nicht, daß die Weltzentrale die Fäden zieht. Die eingangs erwähnten Berichte werden von den Versammlungen an das Zweigbüro ihres Landes geschickt. Jedes Zweigbüro macht einmal im Monat Meldung in New York. Dort rechnen Zeugen Jehovas Durchschnittswerte der geleisteten Predigtstunden und der verkauften Literatur aus. Diese Überwachung gehört zum Sekten-System, als wär's ein Verlagskonzern ...

Blutkarte als Eintrittskarte

Die meisten Zeugen Jehovas befolgen nicht nur Gottes Gebote, sie befolgen auch die Gebote der Weltzentrale. Deshalb tragen sie stets die sogenannte "Blutkarte" bei sich. Diese "Blutkarte" steckt Sabine Resse (Name geändert. Der richtige Name ist den Autoren bekannt) eine Zeugin Jehovas auf dem Sprung aus der Glaubensgemeinschaft, in die Handtasche und steigt ein.

Sabine Resse hat uns bei einer Gruppe angemeldet, die in den Taunus fahren will. Wir nehmen nicht den Bus der Versammlung, sondern fahren mit dem Auto hinterher.

In Selters biegen wir falsch ab und verlieren den Anschluß. Erst nach einer halben Stunde finden wir die Hügelstraße, die zum deutschen Zweigbüro der Wachtturmgesellschaft hinaufführt.

Obwohl die Gruppe längst angekommen ist, kommen wir auf das Gelände, ohne die "Blutkarte" vorzeigen zu müssen. Sabine Resse wundert sich mit uns: "Vor ein paar Jahren war ich auch mit dem Auto hier. Da brauchte ich die 'Blutkarte', um reinzukommen."

Die bis dahin gültige "Blutkarte" ist am 1. Januar 1981 durch eine neue "Blutkarte" ersetzt worden. Seinerzeit erfuhren die "lieben Brüder" aus Wiesbaden, daß der Aufdruck nicht mehr "Keine Bluttransfusion!" laute. Jetzt heiße es: "Achtung bei jedem ärztlichen Eingriff".

Weiter schrieb die deutsche Zentrale: "Eine solche Karte trägt man bei sich, um Ärzte über seinen Standpunkt hinsichtlich des Blutes zu informieren und sie zur Zusammenarbeit zu bewegen. Die Karte sollte die feste Zusicherung zum Ausdruck bringen, daß die Ärzte und das Krankenhauspersonal, wenn sie unserer Weigerung entsprechen, nicht befürchten müssen, von uns zur Verantwortung gezogen zu werden, weil sie kein Blut gegeben haben. Wie Ihr sehen werdet, ist die neue Karte als eine rechtliche Urkunde und nicht als eine religiöse Erklärung abgefaßt worden."

Und damit war die Wachtturmgesellschaft aus dem Schneider? Die Mitglieder werden zur Einhaltung eines Verbotes verdonnert, dessen Übertretung ewige Verdammnis bedeuten kann, und die Ärzte müssen keine Angst vor Prozessen haben, die irdische Verdammnis bedeuten können?

Da mußten auch religiöse Erklärungen her und so schrieb die Weltzentrale einen Brief an "Angehörige des Ärztestandes und verwandter Berufe": "Wir sind der Auffassung, daß die Bibel Christen verbietet, Blut in sich aufzunehmen, d.h. sich mit Hilfe von Blut am Leben zu erhalten. An verschiedenen Stellen verbietet die Bibel ausdrücklich die Aufnahme von Blut. Im Bibelbuch Apostelgeschichte wird allen Christen geboten, 'sich des Blutes zu enthalten' (Apostelgeschichte 15:20, 28, 29, 21:21)."

Das verschwieg die Weltzentrale: In der Urkirche gab es auf der einen Seite die Forderung, daß Heiden, die Christen werden wollten, erst einmal das ganze jüdische Gesetz annehmen müßten, auf der anderen Seite standen die Apostel, die diese Forderung nicht akzeptieren wollten und schließlich einem Kompromiß zustimmten: Verboten wurde der Genuß von Götzenopferfleisch und Blut, verboten wurde zudem die Unzucht.

Religiöse Erklärungen hin, rechtliche Urkunden her, das von den Zeugen Jehovas ausgesprochene Verbot bringt Ärzte in einen Gewissenskonflikt. Was wiegt schwerer: Der Eid der Ärzte oder die Religionsfreiheit, die in diesem Fall eine todbringende Freiheit sein kann?

Ulrich von Burski, 1940 in Leipzig geboren, beschäftigte sich 1970 in seiner Freiburger Doktorarbeit "Die Zeugen Jehovas, die Gewissensfreiheit und das Strafrecht" mit dem Blut-Verbot und formulierte für die Ärzte fünf Faustregeln:

"l. Bei Kindern muß die sofort nötige lebensrettende Bluttransfusion auch gegen den Willen der Eltern vorgenommen werden. Bleibt genug Zeit, so ist die Entscheidung des Vormundschaftsgerechtes einzuholen.

2. Bei Erwachsenen, die in unmittelbarer Lebensgefahr schweben, muß die rettende Transfusion auch gegen ihren Willen vorgenommen werden. Dies gilt für Patienten, die bei Bewußtsein sind. ebenso für bewußtlose Unfallverletzte.

3. Bei Erwachsenen, deren Tod nicht unmittelbar bevorsteht, darf eine Transfusion gegen ihren Willen nicht vorgenommen werden.

4. Wann eine Lebensgefahr unmittelbar ist, ist in der Rechtsprechung nicht geklärt. Man wird dieses Merkmal nicht zu eng auslegen dürfen, so daß auch ein erst in einigen Tagen drohender Tod noch eine unmittelbare Lebensgefahr darstellt.

5. Bei Heranwachsenden, die nicht in unmittelbarer Lebensgefahr sind, darf eine Transfusion gegen ihren Willen dann nicht vorgenommen werden, wenn sie reif genug sind, die ganze Tragweite der Transfusionsablehnung zu erfassen. Dies kann bei 19-20jährigen der Fall sein. Im Zweifel und bei jüngerem Alter ist das Vormundschaftsgericht einzuschalten. Besteht unmittelbare Lebensgefahr, so muß die Transfusion auf jeden Fall vorgenommen werden." Unfaßbar: Da picken sich die ZJ aus den unzähligen indischen Speisevorschriften das Blut-Verbot heraus und stürzen Ärzte, Juristen und nicht zuletzt die Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft in Entscheidungsnot.

Und der "Wachtturm" spuckte große Töne. Als Bluttransfusionen ins Aids-Gerede kamen, war Triumphgeschrei zu hören: Zeugen Jehovas sind nicht gefährdet, weil sie keusch leben und sich des Blutes enthalten. Ein Leser protestierte. In "Erwachet!" wurde sein Brief am 8. August 1988 abgedruckt. Der Amerikaner schrieb: "Aids kann jeden treffen - auch Zeugen Jehovas. Ich lehne die Andeutung, daß Jehovas Zeugen als einzige von Aids frei sind, entschieden ab. Bitte erwecken Sie nicht weiter den Eindruck, Aids sei eine Strafe Gottes, denn sonst mußten Sie das gleiche von Krebs sagen, und das stimmt einfach nicht."

Die Redaktion wand sich ein wenig und antwortete: "Es stimmt, daß - wie unser Leser schreibt - auch Zeugen Jehovas gefährdet sind, aber größtenteils wegen ihres früheren Lebenswandels oder weil sich ihr Ehepartner nicht nach der Bibel ausrichtet. Wir können allerdings keine Parallele zu Krebs erkennen, da er zumeist nicht eine Folge der Übertretung biblischer Gebote ist."

Am 15. März 1989 war der Leser-Protest vergessen, der "Wachtturm" wertete das Blut-Verbot als Beweis für die tiefere Einsichtsfähigkeit der Wachtturmgesellschaft: "Als man Bluttransfusionen unter die gängigen medizinischen Behandlungsmethoden einzureiben begann und somit für Jehovas Zeugen ein Problem entstand, wurde im Wachtturm vom 1. Juli 1945 (engl.) die christliche Ansicht über die Heiligkeit des Blutes erklärt. Es wurde gezeigt, daß sowohl tierisches als auch menschliches Blut unter das göttliche Verbot fällt (l. Mose 9:3,4; Apostelgeschichte 15:28,29). Auf physische Nachwirkungen ging man in dem Artikel nicht ein; die diesbezüglichen Kenntnisse waren damals sehr begrenzt. Die eigentliche Streitfrage drehte sich um den Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz, und das trifft immer noch zu. Heute erkennen viele - und ihre Zahl nimmt ständig zu -, wie weise es ist, Bluttransfusionen abzulehnen."

Bluttransfusionen ablehnen - eine weise Entscheidung? Wir fragten einen Experten. Am 9. Februar 1990 antwortete der Bundesvorsitzende des Verbandes der niedergelassenen Ärzte Deutschlands, Dr. Erwin Hirschmann, es sei "zweifellos möglich, in manchen Fällen Bluttransfusionen durch zum Beispiel sogenannte Plasmaexpander" zu ersetzen. Plasmaexpander sind Infusionsmittel, die den Kreislauf vorübergehend stabilisieren. Dr. Erwin Hirschmann: "Die Infusion solcher Mittel ist bei schwer Unfallverletzten ohnehin die Methode der Wahl." Für Patienten, bei denen "die Zahl zum Beispiel der roten Blutkörperchen im strömenden Blut extrem stark abgesunken ist", gelte: "Eine Bluttransfusion kann nicht durch andere Methoden ersetzt werden."

Auf die Frage, ob eine Bluttransfusion in jedem dieser Fälle Leben retten könne, gebe es allerdings keine allgemeingültige Antwort: "Man wird die lebensrettende Wirkung immer nur mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen können."

Und wie verhalten sich die Ärzte gegenüber Zeugen Jehovas? Der Bundesvorsitzende der niedergelassenen Ärzte Deutschlands: "Lehnt ein Zeuge Jehovas für sich beziehungsweise einen minderjährigen Angehörigen eine Blutübertragung ab, so ist der Arzt selbstverständlich verpflichtet, ihn über die möglichen Konsequenzen einer solchen Unterlassung einsehend zu belehren.

Bleibt es bei der Ablehnung einer Blutübertragung, so wird der Arzt sich das zweifellos von dem betreffenden Patienten beziehungsweise vom Vormund des minderjährigen Patienten schriftlich bestätigen lassen. Gegen den Willen eines geschäftsfähigen Kranken beziehungsweise des gesetzlichen Vormundes eines solchen Kranken darf der Arzt keine Blutübertragung vornehmen.

Handelt es sich bei dem Kranken, wie zum Beispiel häufig nach schweren Verkehrsunfällen, um einen Menschen, der zur Zeit aufgrund seines Verlustes seines Bewußtseins nicht geschäftsfähig ist und demzufolge keine Willensäußerung über die Annahme oder Ablehnung einer Blutübertragung abgeben kann, so ist der Arzt im Rahmen einer Geschäftsführung ohne Auftrag durchaus berechtigt, nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände eine Blutübertragung vorzunehmen."

Bleibt noch Hirschmanns Aussage: "Die Übertragung von Vollblut beziehungsweise von Blutbestandteilen, insbesondere von Blutkörperchenkonzentrationen, kann in vielen Fällen lebensrettend wirken." Und da soll - wie der "Wachtturm" behauptet - das Blut-Verbot weise sein?

Die Quelle der fehlenden Weisheit sprudelt im Taunus, der "Wachtturm" wird in Selters gedruckt. Im Impressum erscheint der jeweilige Chef der Weltzentrale als Herausgeber. Als insgeheimer Herausgeber gilt Gott, Gott gilt auch als Hausherr der deutschen Zentrale, die Klinkerbauten firmieren unter "Bethel". "Bethel" bedeutet "Haus Gottes".

Im Anmeldetrakt erstrahlt die Eingangshalle in Marmor. Italienische Zeugen haben ihn während der Bauarbeiten mit Lastzügen in den Taunus transportiert.

Das Gedränge in der Eingangshalle ist groß, nicht nur deutsche Zeugen Jehovas wollen das Zweigbüro besichtigen, auch Zeugen aus dem benachbarten Ausland wollen sehen, was man ihnen zeigt.

Auf dem Empfangstresen liegen Werbefaltblätter, wir erfahren: "Seit dem 1. Januar 1984 befindet sich der Sitz der Wachtturmgesellschaft in Selters/Taunus. Hier wurden von 1979 an ein neues Bethelheim und eine Druckerei gebaut und fertiggestellt..."

In- und ausländische Mitglieder der Glaubensgemeinschaft halfen beim Bau. Auch anderswo krempelten Zeugen die Ärmel auf. In Dortmund-Hörde stampften sie in fünf Wochen einen "Königreichssaal" aus dem Boden.

"Wir schaffen hier ein Werk Gottes", diktierte der Architekt einem Redakteur der "Westfälischen Rundschau" in den Notizblock. Der meldete am 11. April 1989 außerdem: "Zu der Einrichtung gehört auch ein Babywickelraum mit Küche, denn nach Auffassung der Zeugen Jehovas sollen selbst Säuglinge an den Versammlungen teilnehmen - möglichst schon im Alter von zwei Wochen. Einen eigenen Kindergarten wird es jedoch nicht geben. 'Die Einheit der Familie darf nicht durch Fremdeinwirkung unterbrochen werden', erläutert der Bauleiter. Durch diesen 'gelebten Glauben' seien dann zum Beispiel auch die jugendlichen 'Zeugen' gegen die negativen Einflüsse unserer Umwelt 'immun'." Gänsefüßchen benutzte der Redakteur der "Westfälischen Rundschau" an merkwürdigen Stellen...

Merkwürdig mutet auch eine Ausstellung in der deutschen Zentrale der Wachtturmgesellschaft an.

Die "am laufenden Band" produzierten Daten für den Weltuntergang werden mit keinem Wort erwähnt. Immerhin aber erfahren wir, mit welcher Begründung die Zeugen Jehovas 1950 in der DDR verboten worden sind.

Am 31. August 1950 schrieb der DDR-Innenminister Steinhoff an die Wachtturmgesellschaft in Magdeburg: "Die Tätigkeit der 'Zeugen Jehovas' in den letzten 10 Monaten hat klar bewiesen, daß diese den Namen einer Religionsgemeinschaft fortgesetzt für verfassungswidrige Ziele mißbrauchen. Sie haben im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik und in Groß-Berlin eine systematische Hetze gegen die bestehende demokratische Ordnung und deren Gesetze unter dem Deckmantel religiöser Veranstaltungen betrieben."

In Selters wird der Brief des DDR-Innenministers in einer Glasvitrine ausgestellt. Nicht ausgestellt werden die Erklärung der Wachtturmgesellschaft vom 25. Juni 1933 und der in jenen Juni-Tagen verfaßte Brief an Hitler, der so endete: "...mit der Versicherung unserer allerhöchsten Hochachtung sind wir, sehr verehrter Herr Reichskanzler, ergebenst Watch Tower Bible and Tract Society Magdeburg".

Am 24. Juni 1933 wurde die Wachtturmgesellschaft von den Nazis verboten, einen Tag später fand in Berlin ein Kongreß der Zeugen Jehovas statt, das Ergebnis: besagte Erklärung vom 25. Juni 1933. Der deutsche Zweig biederte sich bei den Faschisten an: "Unsere Organisation gefährdet keineswegs die öffentliche Ordnung und Sicherheit des Staates, sondern sie ist die Bewegung, die für die öffentliche Ordnung, Ruhe und Sicherheit des Landes eintritt."

Der Feind bekam eine Hausnummer: "Man möchte uns gestatten, hier darauf aufmerksam zu machen, daß in Amerika, wo unsere Bücher geschrieben werden, Katholiken als auch Juden sich miteinander verbunden haben in der Beschimpfung der nationalen Regierung in Deutschland und in dem Versuch, Deutschland zu boykottieren wegen der von der nationalsozialistischen Partei verkündigten Grundsätze."

Hitler schluckte den Köder nicht, er hetzte die Gestapo auf die Zeugen Jehovas. Verhaftet wurden auch Spitzenfunktionäre. Erich Frost wurde am 21. März 1937 von der Gestapo festgenommen, 1936 war er von Präsident Rutherford zum "Reichsdiener" ernannt worden. Am 29. Oktober 1937 wurde Frost von einem Sondergericht zu 3 Jahren und 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Er überlebte die Jahre der Gefangenschaft, nach dem 2. Weltkrieg kehrte er auf den Chefsessel zurück.

Am 1. Juli 1961 berichtete Erich Frost im "Wachtturm" über die Gestapo-Verhöre: "Mehr als einmal schlug man mich, bis ich bewußtlos war, überschüttete mich dann mit Wasser, um mich wieder zu Bewußtsein zu bringen. Bald konnte ich nicht mehr liegen und nicht mehr sitzen. Von Freitag bis Montag aß und trank ich kaum etwas, rief aber unablässig Jehova um Hilfe an, damit ich um der Brüder willen schweigen könnte. Als ich wieder vor die Gestapo-Meute geführt wurde, dachte ich an Daniel in der Löwengrube."

In der Löwengrube brüllte Frost einen Namen nach dem anderen heraus. Der Gestapo verriet er am 2., 15., 20., 24., 26., und 29. April 1937 wer wo die Organisation leitete, auch zwei Treffpunkte verriet er.

Viele Zeugen Jehovas kamen in Konzentrationslagern um, die Wahrheit über Erich Frost erfuhren die Überlebenden - wenn überhaupt - erst viele Jahre später, das im "Wachtturm" errichtete Lügengebäude brach zusammen, 1964 endete die Frost-Periode, der Zeugen-Chef verlor seinen letzten Posten.

An die Opfer der Nazi-Diktatur wird in Selters erinnert. Und weiter geht es. Viel Zeit zum Verweilen bleibt während der Führung durch das deutsche Zweigbüro nicht. Schließlich landen wir in der Druckerei. Hier stehen drei Rollenoffset-Maschinen. Jede kann in der Stunde 44000 Bibel oder Buchlagen, Zeitschriften oder Broschüren drucken. Eine neue Ausgabe des "Wachtturm" läuft gerade vom Band, vom Band gelaufen ist in dieser Druckerei auch das Buch "Die Offenbarung - Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe" Dieses Werk erschien 1988, auch in diesem Buch wurde die Geschichte der Glaubensgemeinschaft gefälscht.

Eine Kostprobe, das sogenannte "Dritte Reich" betreffend: "Da Intrigen von katholischer Seite Hitler zur Machtübernahme in Deutschland verholfen haben, ist der Vatikan am Tod von sechs Millionen Juden, die während der schrecklichen Judenverfolgung der Nationalsozialisten starben, mit schuld." (Seite 271)

Nirgendwo steht ein Satz über den eigenen Anbiederungsversuch, statt dessen immer wieder Sätze wie dieser: "Die katholische Kirche ist... mitverantwortlich für die Einlieferung von Tausenden von Zeugen in die Konzentrationslager; die Hände der Kirche triefen vom Blut Hunderter von Zeugen, die hingerichtet wurden." .(S 270 f.)

Die in diesen Zeilen geäußerte Kritik ohne Selbstkritik hielten lange Zeit auch katholische Theologen für die einzig mögliche Form der Auseinandersetzung. Konrad Algermissen, katholischer Theologieprofessor in Hildesheim, schoß 1925 in seinem Buch "Christliche Sekten und Kirche Christi" gleich mehrere Breitseiten ab: "Ein Prozeß, der vor einigen Monaten in St. Gallen in der Schweiz sich abspielte, gab hochinteressante Enthüllungen über die Beziehungen zwischen diesen angeblich christlichen Bibelforschern und der widerchristlichen, jüdisch-amerikanischen Freimaurerei. Es stellte sich bei dem Prozeß heraus, daß die sogenannten 'Ernsten Bibelforscher' in dem Dienste des jüdisch-amerikanischen Freimaurertums stehen und von dort besoldet werden. Es wurde dort vor Gericht der Brief eines Hochgradfreimaurers verlesen, der folgende interessante Mitteilung enthält: 'Wir geben Ihnen (den ernsten Bibelforschern) auf dem bekannten, indirekten Wege viel Geld durch eine Anzahl Bücher, die während des Krieges sehr viel Geld gewonnen haben; es tut ihrer dicken Brieftasche nicht weh. Sie gehören zu den Juden... Die katholischen Dogmen sind unseren Plänen lästig, deshalb müssen wir alles tun, ihre Anhängerzahl zu vermindern und sie lächerlich zu machen. Mr. Binkele, der verantwortliche Leiter der 'Ernsten Bibelforscher' in der Schweiz, vertreten durch jüdische Advokaten, wurde zu 600 Franken verurteilt; der von ihm wegen Verleumdung Beklagte (ein Protestant) freigesprochen.'...

Ist schon das Zusammengehen der 'Ernsten Bibelforscher' mit dem Freimaurertum bezeichnend genug, so ist vielleicht noch chrakteristischer ihre Freundschaft mit den Spartakisten in den letzten Jahren. 'In den Tagen der Rosenheimer Räteregierung im Jahre 1919 erfreuten sich die 'Ernsten Bibelforscher' der besonderen Gunst der Spartakisten, die den Hauptteil der Versammlungsbesucher stellten und an dem Herunterreißen von Staat und Kirche helle Freude hatten. Diese Bibelforscherversammlungen wurden zu regelrechten Verbrüderungskundgebungen zwischen den 'Ernsten Bibelforschern' und Bolschewisten.' (Miesbacher Anzeiger, 19.10.1919)" (Seite 282 ff.)

In Selters gibt es keine Verbrüderungskundgebungen, wenn wir an anderen Gruppen vorbeikommen, nickt zwar dieser oder jener freundlich und grüßt, unser Führer achtet aber peinlich darauf, daß sich kein Mitglied unserer Gruppe einer anderen Gruppe anschließt. "Wir dürfen keine Zeit verlieren", holt er uns nach einem Abstecher zurück, .gleich ist Mittag, dann wird die Druckerei abgeschlossen."

Die fünf Wohngebäude, die zum Zweigbüro gehören, besichtigen mir nicht, auch aus dem Werbefaltblatt über das "Bethel-Heim" erfahren wir wenig über die Lebens- und Arbeitsbedingungen: "Alle Glieder der Bethelfamilie wohnen in den fünf Wohngebäuden, die durch Gänge mit der Verwaltung und der Druckerei verbunden sind. Zum Bethelheim gehört ein großer Speisesaal, der mehr als 700 Personen Platz bietet. Wie es bei allen Familien der Zeugen Jehovas in der ganzen Welt üblich ist, bespricht die Bethelfamilie jeden Morgen einen Bibeltext anhand der Broschüre 'Täglich in den Schriften forschen'. Ein Vorsitzender leitet diese morgendliche Anbetung, bei der an jedem Arbeitstag einige Glieder der Familie eingeladen sind, sich an der Besprechung des Textes zu beteiligen. Vom Foyer erreicht man den 'Königreichssaal', ein Zentrum für biblische Bildung. Jeden Montagabend studiert hier die Bethelfamilie den für die betreffende Woche vorgesehenen Teil der Zeitschrift Der Wachtturm anhand der Bibel und erfreut sich außerdem noch anderer besonderer Programme biblischer Unterweisung. Diese biblischen Besprechungen bilden einen wichtigen Teil im Leben der Bethelfamilie.

Eine Gruppe von Brüdern und Schwestern sorgt dafür, daß jeder nach getaner Arbeit ein behagliches Zimmer vorfindet."

Und was bekommen die Mitglieder der "Bethelfamilie" für ihre Arbeit? Auch darauf gibt das Werbefaltblatt nur eine spärliche Antwort: "Ungeachtet der Dienstzuteilung wird jeder mit Unterkunft und Verpflegung sowie monatlich mit einer geringen Zuwendung versorgt, um persönliche Auslagen zu decken."

Da kann man billig drucken! Der ehemalige Zeuge Jehovas Günther Pape schätzte die Gestehungskosten der Bücher und Zeitschriften in seinem 1970 erschienen Buch "Die Wahrheit über Jehovas Zeugen" auf 10 Prozent und fügte hinzu: "Das Geschäft der Wachtturmgesellschaft ist ein risikoloses Geschäft. Jede Buchauflage kann in Millionenhöhe gedruckt werden. Sie ist schon verkauft, wenn sie aus der Druckerpresse kommt, denn jeder Zeuge Jehovas ist von seiner Glaubensüberzeugung her ein sicherer Kunde. Dieser Kunde wird dann wieder benutzt, selbst Verkäufer für die Gesellschaft zu sein."

Unser Führer in Selters faßt seine Glaubensüberzeugung auffallend oft in vier Worten zusammen: "Das ist sehr schön." Allerdings gibt es in der Zentrale auch Mitarbeiter, die anderer Meinung sind. Rolf Nobel, der zwei Jahre lang so tat, als gehöre er zu den Anhängern der Wachtturmgesellschaft und 1985 das Buch "Falschspieler Gottes" veröffentlichte, schilderte eine Erziehungsmethode: "Wer hält es schon durch, monatelang als 'Latrinenordonanz' die Toiletten zu reinigen. Auf diese Weise kriegen sie jeden 'rebellischen Geist' klein." Der Zeuge hinter dem Anmeldetresen allerdings scheint sich wohlzufühlen. Nach dem Rundgang sind wir wieder im Foyer gelandet, wollen einen Satz Ansichtskarten kaufen und halten das Geld in der Hand, während er in den Telefonhörer fragt: "Wann wollt ihr kommen?" Er schlägt seinen Terminkalender auf.

Nach dem Telefongespräch berichtet er uns ungefragt: "In den nächsten vier Monaten sind wir fast ausgebucht. Ich muß die Versammlungen, die Selters besuchen wollen, vertrösten."

Vertröstet wurde auch unsere Begleiterin Sabine Resse, als sie während der Osterferlen auf dem Hügel der Wachtturmgesellschaft arbeiten wollte. Von einem Ältesten erfuhr sie während einer Informationsveranstaltung über das "Bethel-Heim": "Alleinstehende Frauen werden nicht so gern genommen, alleinstehende Männer werden vorgezogen. Ehepaare ohne Kinder haben die größten Chancen." 600 Frauen und Männer arbeiten und leben isoliert von der Außenwelt für die Wachtturmgesellschaft. Auch Richard E. Kelsey gehört zur "Bethel-Familie".

In einer Meldung der DDR-Informationsschrift "Christliche Verantwortung" hieß es über dieses Familienmitglied: "Wie im Januar 1989 aus dem WTG-Zweigbüro in Selters/BRD bekannt wurde, ist dort einem 'hohen Mitarbeiter' die Gemeinschaft entzogen worden.

Nach Erklärungen aus informierten Zeugen Jehovas-Kreisen handelt es sich um Richard E. Kelsey, den dort hauptverantwortlich vom Hauptbüro in Brooklyn eingesetzten Koordinator oder Zweigaufseher."

"Daran ist kein Wort wahr", teilte Kelsey den Autoren dieses Buches im Dezember 1989 telefonisch mit. Mit diesem Telefonanruf reagierte er auf ein Einschreiben mit Rückschein, Kelsey bot ein Interview an, auf jede Frage werde er antworten. Im Januar 1990 meldet, er sich erneut. akzeptierte den Gesprächstermin 22. Januar und schlug mit ironischem Unterton als Erkennungszeichen für das Treffen in Wiesbaden vor: "Ich kann mich ja mal mit dem 'Wachtturm' vor den Bahnhof stellen."

Keine Suppenschüsseln

Richard E. Kelsey unterhält sich mit Kritikern, erzählt am Telefon, daß er Bücher und Broschüren liest, in denen gefeuerte Zeugen Jehovas über ihre Erfahrungen berichten, sogar den "Gewissenskonflikt" von Raymond Franz, der nach neun Jahren Arbeit in der Führungsspitze in Ungnade gefallen ist, hat Kelsey nicht ungelesen in den Papierkorb geworfen. Was denkt er über diese Dokumentation der Verleumdungskampagnen und Intrigen in der Weltzentrale? Gilt für ihn die Anweisung aus dem "Wachtturm" vom 1. November 1987 nicht: "Irreführende religiöse Propaganda - gleich woher sie stammt - sollte man meiden wie Gift."

Richard E. Kelsey, der die Zeugen Jehovas bei Vortragsreisen auf Linie bringt, will vor dem Wiesbadener Bahnhof stehen, den "Wachtturm" als Erkennungszeichen in der Hand.

Diese Nachricht elektrisiert ehemalige Zeugen Jehovas. Sie schicken Fragen, Briefe kommen aus Nord und Süd, Kopien, Buchauszüge, Zeitschriften. "Ich frage mich, welches Spiel Herr Kelsey spielt", steht unter einem der Fragenkataloge. "Fürchtet er nicht, daß sich andere Mitglieder das gleiche Recht herausnehmen?"

Richard E. Kelsey, der zu einer Gruppe gehört, "die... durch ein Band brüderlicher Zuneigung vereint (ist und weiß), daß ihr Predigtwerk dringend verrichtet werden muß" ("Die Offenbarung Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe", 1988, S. 64) und in der Gehorsam erste Mitglieder-Pflicht ist, will alle Fragen beantworten.

Richard E. Kelsey steht nicht mit dem "Wachtturm" vor dem Wiesbadener Bahnhof, er taucht aus einem Menschenpulk auf und will erst einmal wissen: "Haben Sie das Ziel, religiöse Organisationen zu zermahlen?"

Richard E. Kelsey, 59 Jahre alt, Mitglied des Zweigkomitees in Selters, am Telefon humorvoll plaudernd, reagiert nun auf Fragen wie ein Sprechautomat und streitet plötzlich ab, daß er kritische Schriften gelesen hat: "Das Buch von Raymond Franz kenne ich nicht." Dafür kenne er neben dem hinausgeworfenen Neffen des Präsidenten der Wachtturmgesellschaft alle Mitglieder der Leitenden Körperschaft: "Ich weiß, wer ehrlich ist." Den Rest läßt er offen. "Mit ehemaligen Zeugen Jehovas sprechen wir nicht", sagt Richard E. Kelsey und wischt Berichte über Gewissensbisse und Selbstmordgedanken vom Tisch: "Beschäftigen Sie sich auch mit Menschen, die Probleme mit der evangelischen und der katholischen Kirche haben?"

Die einfachsten Antworten sind die besten. Richard E. Kelsey: "Wer sein Leben nach der Bibel, wie wir sie verstehen, ausrichtet, fängt ein neues Leben an. Dem geht es gut." Und geht von Tür zu Tür, steht mit dem "Wachtturm" und "Erwachet!" auf der Straße und besucht die Versammlungen. Auch Kinder müssen mit: "Sie werden im Sinne der Bibel erzogen." Was die Bibel im Sinn hat, wissen Richard E. Kelsey und die Weltzentrale: "Unvollkommene Menschen brauchen Zucht. Sie brauchen sie von Kindheit an." ("Wachtturm 1. Oktober 1987) Jede andere Erziehungsmethode ist von übel: Die "Freizügigkeit der Kinderpsychologen" führt "zu einer Welle von Jugendkriminalität". (ebenda)

Aber auch Zucht macht nicht jedes Schäfchen weiß. Richard E. Kelsey: "Wer Ehebruch begeht, Rauschgift nimmt, zuviel trinkt oder raucht, und das nicht lassen will, wird ausgeschlossen." Das Ergebnis dieser Härte: "Wir haben große Erfolge bei der Bekämpfung des Alkoholismus und der Rauschgiftsucht."

Andernfalls zerreißt das "Band brüderlichen Zuneigung . Und die Zukunft hätte so rosig sein können! Besonders für die Frauen, arbeiten sie doch gern unter einer gewissen Autorität" ("Das Familienleben glücklich gestalten", 1978, S. 51) und zu Hause, die Jungen aber müssen vor die Tür, um zu "lernen, was es bedeutet zu arbeiten." (ebenda, Seite 159)

Gesellig jedoch sollen auch sie nicht sein: "... einige lassen diesen inspirierten Rat außer acht und pflegen mit weltlichen Personen auf der Arbeitsstelle oder in der Schule engen Kontakt." ("Wachtturm", 15. August 1988)

Die Folgen sind absehbar: Zechtouren, Ehebruch mit Arbeitskolleginnen, schlampige Kleidung, ungekämmte Haare Da mußte auch in jenen August-Tagen ein leuchtendes Vorbild her: "In Kalifornien (USA) erhielt eine junge Schwester namens Angela ein verlockendes Stellenangebot, das die Ausbildung an einem College ihrer Wahl einschloß. Angela entschied sich für den Vollzeitdienst."

Wie Richard E. Kelsey vor 40 Jahren, der eines allerdings nicht tut: "Wir stellen uns nicht mit Suppenschüsseln auf die Straße, damit jemand satt wird."

Die Zeugen Jehovas "schicken zwar mal was in Katastrophengebiete", richtig satt wird man aber nur vom "Wachtturm", und guter Rat ist nicht teuer: "Vermeide unabhängiges Denken." ("Wachtturm, 15. April 1983)

Unabhängig ist auch Richard E. Kelsey nicht: "Ich muß zu einer Besprechung nach Selters. Anordnung von oben. Wir wollen bauen." Ein Händedruck, weg ist er. Eine Einladung läßt er zurück: "Die Zeugen Jehovas kann man nur richtig beurteilen, wenn man die Versammlungen besucht."

Folgt man dieser Einladung, besucht die Versammlungen, wird eines Tages Zeuge Jehovas, bekommt schließlich Zweifel und geht wieder, dann lehnt Kelsey Gespräche ab...

Versprechen zum Abschied

Vor dem Abschied sagte Richard E. Kelsey: "Ich beantworte auch schriftliche Fragen. Außerdem werde ich Ihnen Lebensläufe von Zeugen Jehovas schicken, die positive Erfahrungen gemacht haben.

Von ehemaligen Mitgliedern können Sie nur Negatives erwarten."

Also formulieren wir fünf Fragen:

1. In dem Buch über die Offenbarung, erschienen 1988, geben Sie der katholischen Kirche Mitschuld am Tod der in KZ's gestorbenen Zeugen Jehovas. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Erklärung der Wachtturmgesellschaft aus dem Jahre 1933 und den Brief an Hitler aus dem gleichen Monat?

2. Sie haben zugesagt, daß Sie erklären, wie die Daten für den Weltuntergang zustandegekommen sind. Können Sie sich hier auf das Jahr 1975 beschränken, da die Antwort sonst ausufern müßte? 3. Vor 1975 haben Sie Zeugen Jehovas geraten, von einer zeitraubenden Ausbildung Abstand zu nehmen, da die Welt schon vor dem Ende einer solchen Ausbildung dem Untergang geweiht sein wird. Wie stehen Sie heute zu dieser Aussage?

4. Wie stehen Zeugen Jehovas zur Ausbildung an Hochschulen und Universitäten? Was halten Sie von Berufswünschen, die sich nicht mehr auf den Handwerksbereich und auf andere Bereiche, die für den Wiederaufbau nützlich sind, beschränken?

5. Wie reagiert die Wachtturmgesellschaft, wie reagieren Sie auf Berichte von Ausgeschlossenen Zeugen Jehovas, die in Gewissenskonflikte geraten, die von Selbstmordgedanken geplagt und sogar von den eigenen Eltern verstoßen werden?

Diese Fragen schickten wir am 24. Januar 1990 ab. Ende März 1990 beendeten wir die Arbeit an diesem Buch, Richard E. Kelsey hatte bis dahin nicht geantwortet.

Denk an deine Mutter

Das Verhältnis von Sabine Timm (Name geändert. Der richtige Name ist den Autoren bekannt), zu den Zeugen Jehovas bekam vor sechs Jahren die ersten Risse. Als 15jährige knüpfte sie Kontakte zu Außenstehenden, bis dahin hatte sie die aufgezwungene Rolle einer Außenseiterin gespielt. Obwohl in ihrer Familie Geburtstage gefeiert wurden, obwohl sie hin und wieder an Karnevalsfeiern teilnehmen durfte, stand sie doch am Rand: "Ein Schulkind, das zu den Zeugen Jehovas gehört, darf nicht an Veranstaltungen außerhalb des Unterrichtes teilnehmen. Diese Isolation von den anderen wird nach meiner Meinung von der Organisation gefordert, um einen Austritt aus der Sekte so schwer wie möglich zu machen."

Nicht nur der Kontakt zu Außenstehenden führte zu den ersten Rissen, auch die Ältesten der Versammlung trugen dazu bei. Da sie ein Gymnasium besuchte, wurde sie besonders intensiv beobachtet, denn "Bildung wird von den Zeugen Jehovas als Teufelswerk angesehen. Man soll möglichst nicht mehr als die Pflichtschuljahre absolvieren und ein Handwerk erlernen. Dies wird bei Frauen noch strenger beurteilt, da sich ihr Aufgabenbereich auf häusliche Pflichten beschränken sollte."

Immer wieder forderten Älteste von Sabine Timm: "Verlaß das Gymnasium" Noch größer wurde der Druck, nachdem sie einen Kurs in Philosophie belegt hatte. Eine Zeugin informierte die Ältesten, ein Komitee entschied: "Philosophie ist eine weltliche Weisheit, die vorn Teufel benutzt wird, um Menschen von Gott wegzuführen." Obwohl Komitees bei den Zeugen Jehovas die Funktion eines Gerichtes erfüllen, dessen Urteil schwer wiegt, besuchte Sabine Timm weiterhin den Philosophie-Kurs. Nun verlangten die Ältesten von ihr einen wöchentlichen Bericht über den Unterrichtsstoff. Wieder lehnte Sabine Timm ab: "Anschließend ließ man mich in Ruhe, die Ältesten waren wohl der Ansicht, daß meine Beziehungen zur Welt schon zu stark waren.

Der Kritik folgten Demütigungen. Vor versammelter Gemeinde wurde sie wegen ihres "stolzen Ganges" angegriffen. Sabine Timm: "Das ließ ich über mich ergehen, weil ich nicht wagte, die Aufgaben und Rechte der Ältesten anzuzweifeln."

Vor drei Jahren wurde aus den Rissen ein Graben. Nach einer Operation an der Nebenniere mußte ihre Mutter das zweite Mal unter das Messer. Ein Nierentumor sollte entfernt werden. Die Ärzte waren der Meinung, daß nach der Operation eine Bluttransfusion notwendig sei. Die Familie wollte gemeinsam über das Blut-Verbot der Wachtturmgesellschaft beraten. Sabine Timm: "Obwohl meine Mutter während ihrer langjährigen Krankheit kaum einmal Besuch von Versammlungsmitgliedern bekommen hatte, drängte sich nun ein Ältester in den Familienrat." Und machte seinen Einfluß geltend: Er zerstreute die Zweifel von Sabine Timms Mutter am Blut-Verbot. Sie willigte schließlich in eine Operation ohne Bluttransfusion ein.

Der Eingriff gelang, doch dann brach ihr Kreislauf zusammen: Sechs bis sieben Stunden nach der Operation starb die Mutter von Sabine Timm an den Folgen des Blutverlustes.

Dennoch waren die Ältesten um Worte nicht verlegen, Sabine Timm und ihre Geschwister bekamen zu hören: "Eurer Mutter ist viel Leid erspart geblieben. Jetzt ist sie im Paradies." Aber es kam noch schlimmer. Bei der Begräbnisfeier wurde die Tote als Märtyrerin gefeiert, die bis zuletzt treu gewesen war. Sabine Timm: "Wir hatten die Ältesten um Verschwiegenheit gebeten."

Nach der Beerdigung besuchte Sabine Timm nur noch selten die Versammlungen, sie suchte Ablenkung von der Trauer in Diskotheken und Kneipen. Halt fand sie bei einem Mann, der nicht zu den Zeugen Jehovas gehörte.

Und was geschah nun? Sabine Timm: "Die Zeugen Jehovas gingen, nachdem meine Mutter für ihre Doktrin gestorben war, in ihrem unmenschlichen Verhalten noch einen Schritt weiter. Sie forderten immer wieder von mir, daß ich mich von meinem Freund trenne. Sie beteten mit mir, daß ich von der Versuchung Satans loskommen möge und jagten mir mit schrecklichen Prophezeiungen für meine Zukunft Angst ein. Einmal bezeichneten sie meinen Freund in seinem Beisein als Werkzeug des Teufels."

Der Graben wurde noch breiter. Noch aber sprang Sabine Timm hin und her, Schreckensbilder verfolgten sie, wo sie auch war: "Für mich begann ein langer Weg der Zweifel, Angst und des Gewissenskonfliktes, den ich bis heute noch nicht zu Ende gegangen bin."

Eines Tages stellte Sabine Timm die Versammlungsbesuche ein. Die Ältesten reagierten mit Besuchen, Briefen und Telefonanrufen. Jemand steckte einen Zettel in ihren Briefkasten. Auf diesem Zettel stand: "Denk an Deine Mutter!!!" Sabine Timm: "Eine Zeitlang traute ich mich nicht mehr, die Tür zu öffnen." öffnete sie die Tür, mußte sie damit rechnen, daß ein Ältester vor ihr stand und sagte: "Deine Mutter ist sehr enttäuscht von dir."

Heute kann sie kaum noch sagen, was sie in jenen Tagen aufrecht erhalten hat: "Vielleicht hat mir mein unerschütterlicher Glaube an das Gute, an die Liebe und an einen gerechten Gott geholfen." Den Zeugen Jehovas wirft sie Brutalität im Umgang mit Mitgliedern und Aussteigern vor, "obwohl sie auf Außenstehende friedfertig und naiv wirken. Niemand sollte die Gefahr unterschätzend die sie für Menschen bedeuten können."

Schritt für Schritt in die Freiheit

Das Rentnerehepaar Anneliese und Lothar Westphal (Name geändert, der richtige Name ist den Autoren bekannt), ist nach dem Zusammenbruch des Hitler Regimes zum erstenmal mit der Wachtturmgesellschaft in Berührung gekommen. Zeugen Jehovas klingelten an der Haustür, die Eheleute bekamen einen ersten Einblick in die Lehre, sie waren beeindruckt, weil Gott in dieser Glaubensgemeinschaft einen Namen hatte. Auch die Kritik an den Greueltaten während der Inquisition und an dem unvorstellbaren Reichtum des Vatikans teilten sie. Im Laufe der Zeit kamen die Zeugen Jehovas häufiger, sie studierten mit Anneliese und Lothar Westphal die Bibel, das Ehepaar besuchte die Versammlungen, wollte aber nicht mit "fliegenden Fahnen" vom katholischen ins theokratische Lager wechseln. Darum schoben sie den Tag der Taufe und das damit verbundene Bekenntnis zur "Wachtturm"-Ideologie vor sich her.

1965, kurz vor einem Bezirkskongreß, war ein Ältester wohl der Meinung: "Genug gezögert!" Er schlug die Bibel auf und sagte: "Heute beschäftigen wir uns einmal mit der Taufe." Die Taufe ist bei den Zeugen Jehovas heute mit einer Prüfung verknüpft: Die Kandidaten müssen 80 Fragen der Wachtturmgesellschaft beantworten. Obwohl Anneliese und Lothar Westphal sich bedrängt fühlten, schwiegen sie, wenn später in den Versammlungen behauptet wurde, niemand werde zur Taufe veranlaßt.

Schließlich jedoch gehörte das Ehepaar zu den hundertprozentigen Anhängern, da die beiden aber nicht zu den Mitläufern gehörten, beschäftigten sie sich stets intensiv mit der Lehre - und stießen auf Widersprüche.

Da wurde im "Wachtturm" der Materialismus scharf verurteilt, die Herausgeber aber kümmerten sich nicht um ihr eigenes Urteil. Anneliese und Lothar Westphal: "In Mexiko durfte eine religiöse Organisation nach der Verfassung keine Grundstücke und Häuser besitzen. Darum Firmierten sie auf Anweisung der Weltzentrale anders. In den Versammlungen und bei Kongressen wurde nicht gebetet und gesungen, wenn sie von Haus zu Haus gingen, nahmen sie keine Bibeln mit, sie boten lediglich die Literatur der Wachtturmgesellschaft an und gaben sie als Hilfe für ihre kulturelle Arbeit aus." Diese Praxis kritisierte auch der aus der Leitenden Körperschaft gefeuerte Neffe des heutigen Präsidenten der Zeugen Jehovas, Raymond Franz. Er merkte in seinem Buch "Der Gewissenskonflikt" an: "Man sollte nicht meinen, Zeugen Jehovas in Mexiko seien auf diese Verfahrenswelse verfallen. Sie wurde in der Weltzentrale in Brooklyn ausgeheckt und von dort aus in die Tat umgesetzt." (Seite 131) Am 1. April 1989 gab die Weltzentrale einen neuen Befehl. Im "Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1990" wurde auf Seite 10 gemeldet: "Es ist jetzt erlaubt, bei allen Versammlungszusammenkünften Gebete zu sprechen und im Predigtdienst darf man die Bibel gebrauchen." Und schon im nächsten Satz bekam die katholische Kirche einen Tritt vor das Schienbein: "Eine Frau, die eifrig ein katholisches Bibelstudienprogramm durchführt, äußerte sich zu der neuen religiösen Freiheit der Zeugen wie folgt: "Früher... konnten wir ihnen schon nicht antworten; und jetzt, wo sie an den Türen die Bibel benutzen, sind wir verloren.

Die Eheleute Westphal dazu: "Diesen Preis zu zahlen, nämlich Jehova zu verleugnen, und das ohne Not, etwa weil die Ausübung der Religion verboten wäre, nur um Besitztum in der Welt zu erwerben, muß für Zeugen Jehovas schier unverständlich, ja himmelschreiend sein, und das ist es für uns. Das kann keine Organisation sein, der man vertrauensvoll folgen kann."

Vertrauen flößen auch die Erfahrungen anderer Zeugen Jehovas nicht ein. Das Ehepaar erzählt von einem älteren Mann, nennen wir ihn Johannes, der viel Bitteres erleben mußte: Als Kind wurde ihm Alkohol eingeflößt, die Nazis fügten ihm physisches und psychisches Leid zu. Abgeschoben in ein Landeskrankenhaus, lebte er unter Akoholikern und psychisch Kranken, dann kam er in ein Altersheim. Johannes war krank, hilflos und hatte einen Vormund. Dieser Vormund war nicht dazu bereit, seinen Anspruch auf ein Taschengeld durchzusetzen, denn: "Wir nehmen nichts von der Welt." Der einzige Kontakt von Johannes zu anderen Menschen bestand in Besuchen der Versammlung, er klammerte sich derart fest an die "Wachtturm"-Ideologie, daß er kritiklos die Attacken der Zeugen Jehovas gegen die katholische Kirche unterstützte, er hatte während einer katholischen Messe sogar noch einen draufgesetzt und einen Bischof beschimpft. Deswegen wurde er bestraft, und der Richter meinte: "Ein echter Zeuge Jehovas."

Dieser "echte Zeuge" wurde ausgeschlossen, weil er rauchte. Nach dem Ausschluß wurde er von den Zeugen Jehovas nicht mehr gegrüßt, der Versammlungsleiter wandte sich auf der Straße von Johannes ab. Der alte Mann wurde damit nicht fertig. Er legte sich ins Bett, aß und trank nichts mehr und wartete auf den Tod. Nach drei Tagen wurde er in seinem Zimmer entdeckt. Die Ärzte im Krankenhaus diagnostizierten: "Er ist ausgetrocknet." Im Krankenhaus erholte sich Johannes für kurze Zeit, dann starb er.

Beerdigt wurde Johannes vom Sozialamt. Die Ältestenschaft der Zeugen Jehovas, darunter sein Vormund, hatte sich geweigert, am Grab eine Rede zu halten: "Damit haben wir nichts zu tun."

Nichts zu tun haben Zeugen Jehovas angeblich auch mit Krankheiten der Seele. Anneliese und Lothar Westphal: "Der Älteste betonte in den Versammlungen regelmäßig, daß Zeugen Jehovas keine Psychiater brauchten. Was für ein Selbstbetrug! In einer Versammlung, die 50 Mitglieder hatte, unternahmen um 1970 herum drei Zeugen Jehovas Selbstmordversuche. Ein sehr aktives Mitglied, das immer von der Lehre begeistert gewesen war, versuchte mindestens acht Mal, sich das Leben zu nehmen."

Die Eheleute Westphal erkannten, daß die Welt der Zeugen Jehovas nicht heil ist: "Anspruch und Wirklichkeit klaffen auseinander. Da werden Geschichten über glückliche Zeugen Jehovas erzählt und dann stellt sich heraus, daß manche dieser Geschichten frei erfunden sind. Früher oder später weiß das jeder.

Gemogelt wird auch bei öffentlichen Veranstaltungen. Die Zuhörerinnen und Zuhörer können angeblich Fragen stellen, dazu muß man aber wissen, daß die Redner an ausgewählte Versammlungsmitglieder Handzettel mit vorformulierten Fragen verteilen. Wie peinlich war es nun, als ein ahnungsloser Zuhörer eine nicht abgesprochene Frage stellte! Da konnte der Redner nur noch die Notbremse ziehen."

Wirklichkeit und Lehre bekommen die Zeugen Jehovas auch nicht auf die Reihe, wenn sie von Haus zu Haus gehen. Da sie den Menschen das Königreich der Wachtturmgesellschaft schmackhaft machen müssen, wähnen sie sich stets gezwungen, die Verhältnisse auf der Erde in schwarzen Farben darzustellen. Die private Auffassung der Zeugen Jehovas kann dabei durchaus von der geäußerten Meinung abweichen.

Viele Zeugen Jehovas landen in einer Schein-Welt und werden krank. Elmar Köppl aus Innsbruck hat sich 1984 in seiner Dissertation mit den psychischen Problemen von Zeugen Jehovas beschäftigt. Der Titel der Arbeit: "Die Zeugen Jehovas - Eine psychologische Analyse". Elmar Köppl bezog sich auch auf eine Untersuchung des Australiers John Spencer. Die Ergebnisse wurde 1975 in der medizinischen Fachzeitschrift "The British Journal of Psychiatry" veröffentlicht.

Köppl: "Spencer untersuchte die Akten aller Patienten (7546), die im Zeitraum von 36 Monaten (zwischen 1971 und 1973) in die psychiatrischen Heilanstalten Westaustraliens aufgenommen wurden. Darunter befanden sich 50 Patienten, die sich als aktive ZJ ( = Zeugen Jehovas) auswiesen. Berücksichtigt man, daß zum Zeitpunkt der Untersuchung in Westaustralien (bei der Gesamtbevölkerung von 1068469) ungefähr 4000 Zeugen Jehovas lebten, so war im untersuchten Zeitraum die durchschnittliche Aufnahmequote der Zeugen Jehovas ca. 1,7 mal höher als die der übrigen Bevölkerung. Nach diesen Angaben sind die Zeugen Jehovas nicht nur überrepräsentiert, was ihre Aufnahmehäufigkeit in psychiatrische Anstalten betrifft, sondern darüber hinaus liegt ihr Index für Schizophrenie, paranoide Schizophrenie und Neurose statistisch signifikant über dem der Restbevölkerung."

Elmar Köppl wies auch auf eine amerikanische Studie hin: "Pescor diagnostizierte 8 % der von ihm in Amerika untersuchten Zeugen Jehovas, die wegen Militärdienstverweigerung inhaftiert waren, als psychotische Persönlichkeiten. Gegenüber der Erkrankungsquote der Durchschnittsbevölkerung (0,2%) würde dies bedeuten, daß die der Zeugen Jehovas sogar 40mal höher liegt."

Inzwischen gibt es auch Untersuchungen, die nicht nur belegen, daß die Zahl der psychisch Kranken bei den Zeugen Jehovas relativ groß ist, relativ groß ist sie auch in Familien, die als Mitglieder anderer Religionsgemeinschaften ebenfalls nach strengen religiösen Regeln leben.

Relativ gering ist bei den Zeugen Jehovas der Anteil der Studenten, Hochschulabsolventen und Akademiker. Die drei Söhne von Anneliese und Lothar Westphal allerdings studierten. Ein Sohn wurde Arzt, ein zweiter Studienrat und der dritte wird demnächst Chemieingenieur. Der Versammlungsleiter der Westphal-Söhne war über diesen Bildungshunger gar nicht begeistert, und 1981 beschimpfte ein anderer Versammlungsleiter Studenten als Volksaufwiegler. Die beiden Westphal-Söhne, die seinerzeit eine Universität besuchten, standen auf und verließen den Saal.

Die Wachtturmgesellschaft hatte zu allen Zeiten größeres Interesse an eifrigen Mitgliedern als an gebildeten Mitgliedern, die möglicherweise andere Interessen entwickeln. Der Verkündigungs- und Verkaufseifer wird auch in der "Theokratischen Schule" der Glaubensgemeinschaft propagiert. Dort lehrt man: "Zeugen Jehovas lassen ihr Licht nicht hauptsächlich durch ihren beispielhaften Wandel leuchten. Wichtiger ist der regelmäßige Predigtdienst. Wenn die Wahl besteht zwischen Predigtdienst und etwas anderem, so heißt die Antwort immer Predigtdienst (also die Wachtturmliteratur an den Mann und die Frau bringen, die Verfasser)."

Wer da nicht mitmacht, wer da nicht regelmäßig in Berichten Rechenschaft über die geleistete Arbeit ablegt, wird bestraft. Anneliese und Lothar Westphal: "Der nicht vorliegende Bericht und der mangelnde Einsatz in den Versammlungen führten zu diesem offiziellen Urteil über eine Braut: 'Du hast keinen guten Ruf.' Und so fühlten sich die Ältesten zur Verweigerung einer Hochzeitsfeier vor der Versammlung berechtigt. Proteste bei der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas nützten nichts.' Säumige Berichterstatter werden ständig kontrolliert, sie müssen mit Ermahnungen und telefonischen Nachfragen rechnen. Der Verkauf der Literatur, des "Wachtturm" und von "Erwachet!" soll schließlich gesichert werden.

Ermahnungen mußte sich auch Anneliese Westphal gefallen lassen. In den Jahren vor 1975 legten sich viele Zeugen Jehovas besonders ins Zeug, weil die Weltzentrale damals verkündete, 1975 werde die Welt untergehen. Das damalige Bethelmitglied Pötzinger, heute Mitglied der Leitenden Körperschaft in Brooklyn, besuchte das Ehepaar und forderte Anneliese Westphal zu größeren Anstrengungen auf. Auf ihren Einwand, daß sie gesundheitlich nicht auf der Höhe sei, antwortete das Bethel-Mitglied Pötzinger mit einer Frage: "Was willst du erst machen, wenn du in ein KZ kommst?" Ihr einziges Freizeitvergnügen, das sie sich gerne geleistet hätte, war offiziell verpönt. Ein Vortragsredner auf einem der großen Kongresse: "Schwimmen können mir nach Harmagedon. Danach haben wir Zeit zum Schwimmen."

Wer so denkt, der muß auch das Blut-Verbot für eine weise Entscheidung halten. Martin Westphal, einer der drei Söhne des Ehepaares, erfuhr als Assistenzarzt jedoch, daß Zeugen Jehovas dieses Verbot umgehen. Ein Arztkollege berichtete ihm vom Besuch einer Patientin, die bis dahin eine Bluttransfusion abgelehnt hatte. Sie sagte zu den Ärzten: "Gebt mir die Bluttransfusion, aber macht es in der Nacht, damit es tagsüber von meinen Besuchern nicht bemerkt wird." So vermied sie den sofortigen Ausschluß.

Vor einigen Jahren trennten sich Anneliese und Lothar Westphal von den Zeugen Jehovas, sie verabschiedeten sich von einer Glaubensgemeinschaft, die in vielen Fällen unmenschlich reagiert, auch ihre Söhne besuchten vor langer Zeit zum letzten Mal eine Versammlung. Anneliese und Lothar Westphal: "Mit jedem weiteren Jahr, das nicht in Lethargie, sondern in ständiger geistiger Auseinandersetzung mit der Wachtturmgesellschaft und den Erfahrungen anderer Leidensgenossen verbracht wurde, schritten wir in einem sehr schmerzlichen Loslösungsprozeß weiter in Richtung Freiheit."

Gefügig machen

Diese Sätze stehen in der Diplom-Arbeit von Renate Tide: "Sexualität wird (von den Zeugen Jehovas, die Verf.) als sündhaft, unrein, schwächend dargestellt. Ursache der Sünde und des darauf folgenden menschlichen Leidens ist die Frau (Eva verführte Adam zur Sünde).

Dem patriarchalischen Frauenbild gemäß, ist die Frau für die sexuelle Befriedigung ihres Mannes da. Der Geschlechtsakt ist gleichzeitig ein Akt der Unterwerfung, verherrlichend für den Mann und erniedrigend für die Frau. Von einer gemeinsamen, gleichberechtigten Entscheidung wird nicht ausgegangen.

Die Einschränkung und Unterdrückung der Geschlechtlichkeit durch die strengen Regeln der WTG (=Wachturmgesellschaft) betrifft letztendlich jedoch beide, Mann und Frau. Eine solch repressive Sexualmoral ist die Voraussetzung für den Erhalt gefügiger Persönlichkeitsstrukturen."

Die Verfasserin dieser Zeilen wohnt in Frankfurt, ist 41 Jahre alt, vor vier Jahren wurde sie Sozialpädagogik-Studentin an der Frankfurter Fachhochschule. Auf dem Weg zu den Vorlesungen begegnete sie immer wieder Zeugen Jehovas, die mit dem "Wachtturm" und mit "Erwachet!" auf der Straße standen. Diese Begegnungen waren für Renate Tide Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, als 23jährige hatte sie noch selbst die Zeitschriften der Wachtturmgesellschaft angeboten und war von Haus zu Haus gegangen. In ihrer Diplomarbeit "Problematik und Folgewirkungen der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas und die Ablösung von ihnen (dargestellt mit Hilfe von Fallbeispielen)" verarbeitete sie nicht nur die Erfahrungen anderer ehemaliger Anhänger der Wachtturmgesellschaft, sie verarbeitete auch ihre eigenen Erfahrungen. Im Vorwort schrieb sie am 14. Januar 1989: "Das Verlassen dieser Gemeinschaft war damals für mich mit Problemen verbunden."

Den letzten Anstoß zum Ausstieg hatte ein Kreisdiener gegeben. Bei einem Hausbesuch münzte er das Rollenverständnis der Zeugen Jehovas in Vorwürfe um und stellte Renate Tide, die als 20jährige geheiratet hatte, als Verführerin dar. Sie sei, lautete der Beschluß, daran schuld, daß ihr Mann seine Arbeitskraft nicht mehr für die Glaubensgemeinschaft einsetzte. Eine Zeitlang hatte er nach der Schreinerlehre eine Halbtagsbeschäftigung ausgeübt, 100 Stunden im Monat opferte er für die Zeugen Jehovas, verkaufte den "Wachtturm" oder predigte an der Haustür. Eines Tages glaubte er nicht mehr an die Lehre der Wachtturmgesellschaft, er verlor die Lust am Predigen, kleidete sich nicht mehr so adrett wie gefordert und kümmerte sich nicht mehr um die Vorschriften für die Haarlänge.

Da konnte ein Besuch des Kreisdieners nicht ausbleiben. Der erkannte in Renate Tide nicht nur die Verführerin und lieferte so den Beweis dafür, daß verbotene Früchte die Phantasie anregen, er kramte auch verfaulte Früchte hervor und beschrieb in allen Einzelheiten ein pornographisches Plakat, das er in Schweden gesehen hatte. Renate Tide: "Es war ein merkwürdiges Gespräch, das uns sehr schockiert hat. Ich war damals viel zu verklemmt, um eine Verführerin meines Mannes zu sein."

Der Kreisdiener hatte die Bettkante verfehlt und war auf dem Boden gelandet - wie der "Wachtturm". Am 15. Februar 1975 bekam ein Leser auf eine entsprechende Frage die folgende Antwort: "Unter gewissen Voraussetzungen würden unzüchtige Handlungen, die innerhalb der Ehe begangen werden, eine Grundlage für eine schriftgemäße Scheidung bieten. Selbstverständlich enthält die Bibel weder eine Ermunterung, sich von seinem Partner, der sich des Ehebruchs oder einer anderen schweren Perversität schuldig gemacht hat, scheiden zu lassen... 'Hurerei' gilt als einziger Scheidungsgrund. Der Ausdruck 'Hurerei' lautete in der griechischen Gemeinsprache, in der die Worte Jesu aufgezeichnet wurden, porneia, worunter alle Arten von unsittlichen Geschlechtsbeziehungen, Perversitäten und unzüchtigen Handlungen zu verstehen sind, wie sie zum Beispiel in einem Freudenhaus getrieben werden mögen, einschließlich oralen und analen Geschlechtsverkehrs."

Da Zeugen Jehovas gemeinhin nicht wissen, wie es in einem Freudenhaus zugeht, brach eine Frageflut über die Wachtturmgesellschaft herein, Amtsträger wurden zu unerbittlichen Wächtern über die Moral.

Am 15. Mal 1978 schritt der "Wachtturm" ein: "Man vertrat den Standpunkt, Versammlungsälteste seien berechtigt, sich mit einem solchen Fall zu befassen und ein Urteil zu fällen.

Nach sorgfältiger weiterer Erwägung dieser Frage gelangen wir jedoch aufgrund des Fehlens deutlicher biblischer Anweisungen zu der Überzeugung, daß es sich dabei um etwas handelt, wofür ein Ehepaar selbst die Verantwortung vor Gott übernehmen muß, und daß es nicht die Aufgabe der Versammlungsältesten ist, das Verhalten in solchen ehelichen Intimbeziehungen zu bestimmen oder jemandem lediglich aufgrund derartiger Handlungen die Gemeinschaft zu entziehen...

Wenn eine verheiratete Person die geschlechtlichen Handlungen ihres Ehepartners - obgleich sie nicht mit einer Person außerhalb der Ehe gepflegt werden - für so schwerwiegend hält, daß sie der Unzucht gleichkommen, so ist das ihr eigenes Urteil, und sie muß auch die Verantwortung dafür übernehmen.

Sie mag der Auffassung sein, daß die Umstände sie zu einer schriftgemäßen Ehescheidung berechtigen."

Am 15. Juni 1983 nahm der "Wachtturm" einen dritten Anlauf und landete wieder woanders: "Die obenerwähnten Tatsachen zeigen, daß es sich bei porneia um illegitim sexuelle Verhaltensweisen außerhalb der Ehe handelt. Demnach wären erzwungene perverse Handlungen (z.B. oraler oder analer Geschlechtsverkehr) innerhalb der Ehe kein schriftgemäßer Scheidungsgrund, der den beiden das Recht zur Wiederverheiratung gäbe." Zeugen Jehovas, die sich in den Zeiten der Konfusion hatten scheiden lassen, versicherte der "Wachtturm", daß diese Zeiten, falls sie wieder geheiratet hätten, für sie nicht gelten, und drohte schließlich noch mit dem Ausschluß von "Angehörigen der Versammlung", die für "perverse sexuelle Handlungen innerhalb der Ehe" eintreten oder sie ausüben.

Renate Tide wurde bis heute von den Zeugen Jehovas nicht ausgeschlossen, nach mehreren Umzügen ist sie "einfach verschwunden". Vor fünf Jahren allerdings hat sie Kontakt mit einer Versammlung aufgenommen. Ihr Vater war gestorben, sie hatte mit dem Organisten in der Friedhofskapelle verabredet, daß die Trauerfeier mit einem Lied der Zeugen Jehovas beginnen und mit der "Träumerei" von Schumann enden sollte.

Auf diesen Vorschlag reagierte der Versammlungsleiter ungehalten: "Dann beerdigen wir Ihren Vater nicht." Begründung: "Die 'Träumerei' von Schumann ist weltliche Musik." Renate Tide lenkte ein, der Organist spielte zu Beginn ein Zeugenlied, auch am Schluß spielte er ein Zeugen-Lied und hängte die "Träumerei" von Schumann an. Die Folge: wütender Protest.

Wütenden Protest würde sie ebenfalls für ihre Diplom-Arbeit ernten.

Renate Tide: "Die Zeugen Jehovas kennen meine Arbeit noch nicht."

In dieser Arbeit hat sie sich auch mit den Gründen beschäftigt, die zum Verharren in der Glaubensgemeinschaft führen: "Die Gemeinschaft einer Sekte, so auch der Zeugen Jehovas, spendet Sicherheit und Geborgenheit. Alle beunruhigenden Fragen in bezug auf das Weltgeschehen und das eigene Leben werden hoffnungsvoll beantwortet. Frühkindliche

Bedürfnisse nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, Umsorgtwerden und Bevormundung werden nachträglich erfüllt."

Umsorgt wurden auch ihre Eltern, ihre Mutter kam nach dem Krieg als Flüchtling in den Westen, ihr Vater war nach einer Gehirnhautentzündung Frührenter geworden. Zeugen Jehovas kümmerten sich um sie, in der Glaubensgemeinschaft fanden sie einen Halt und Geborgenheit.

Kein Gruß mehr

Die Großeltern von Karsten Wichmann (Name geändert. Der richtige Name ist den Autoren bekannt) mußten aus Ostpreußen fliehen, sie fanden im Rheinland eine neue Bleibe, eine religiöse Heimat fanden sie bei den Zeugen Jehovas. Seine Eltern schlossen sich erst in den 60er Jahren der Wachtturmgesellschaft an.

Die Familie opferte stets viel Freizeit für die Glaubensgemeinschaft, seine gesamte Zeit opferte einst ein Bruder von Karsten Wichmann, er wohnte auf dem Hügel der Wachtturmgesellschaft in Selters, stellte seine Arbeitskraft zur Verfügung und bekam dafür monatlich 104 Mark. Karsten Wichmann: "Ob mein Bruder immer noch in Selters ist, weiß ich nicht, ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen." Auch der ältere Bruder verzichtete auf eine berufliche Karriere, er wurde Ältester. Der Einsatz seiner Schwester und seines Vater ließ ebenfalls keine Wünsche der Zeugen Jehovas offen.

Minuspunkte sammelte dagegen Karsten Wichmann. Er besuchte ein Gymnasium, verstand sich nicht mit seinen Eltern und schloß sich einem jungen Zeugen Jehovas an, der fortwährend gegen die Regeln der Glaubensgemeinschaft verstieß: "Er machte Sachen, die er nicht durfte. Mein Freund trank Alkohol, rauchte und begann, Drogen zu nehmen. Außerdem suchte er sich eine Freundin außerhalb der Sekte."

Der Freund von Karsten Wichmann bekannte sich zu dieser Freundschaft, die Strafe folgte auf dem Fuße: Er wurde "bezeichnet". "Bezeichnet" heißt: Erlaubt ist der Besuch der Versammlung, "Bezeichnete" dürfen den "Wachtturm" und "Erwachet"' verkaufen und von Tür zu Tür gehen, sie werden von den anderen Zeugen Jehovas auch noch mit einem Gruß bedacht. Daneben läuft nichts mehr: Kein Zeuge Jehovas darf mit einem "Bezeichneten" die Freizeit verbringen, Karsten Wichmann protestierte auf seine Weise gegen die Bestrafung seines Freundes: "Ich habe meine erste Zigarette geraucht und bewußt in Kauf genommen, daß ich fürs Rauchen ausgeschlossen werden konnte. Zigaretten bedeuteten mir damals nichts." Auf seine Weise reagierte er auch auf einen Lesebefehl. 1985 erschien unter dem Titel "Falschspieler Gottes" eine Artikelserie von Rolf Nobel im "Stern", ein Ältester gab ihm die Illustrierte mit den Worten: "Guck mal, was die für einen Quatsch schreiben." Karsten Wichmann las und fand: "Vieles in dem Bericht stimmte. Rolf Nobel schrieb viel Wahres über die Zeugen Jehovas."

Obwohl er dieser Meinung war, obwohl er sich eingeengt fühlte, weil er "als 15-16jähriger nie zu Feten durfte", obwohl er nur heimlich tun konnte, was er wollte, "manchmal habe ich doch Parties mitgefeiert", blieb er bei den Zeugen Jehovas: "Ich war immer noch auf die Glaubensgemeinschaft fixiert und glaubte an die Lehre. Ich wollte da nicht rausgehen. Ich wollte versuchen, die Punkte, die mir bei Rolf Nobel aufgefallen waren, zu klären. Ich habe mich mit Versammlungsteilnehmern über die Artikel unterhalten. Die fragten mich nur, wie ich denn zweifeln könne, ich sei doch immer so eifrig gewesen."

Karsten Wichmann aber ließ nicht locker, er formulierte 20 Fragen, wollte wissen, warum Frauen nicht Älteste werden können, warum Zeugen Jehovas überwacht werden, er zitierte aus dem "Wachtturm" und wies auf Widersprüche hin. Ein Ältester wischte diese Fragen vom Tisch und seine Mutter schrie ihn an: "Du bist vom Teufel besessen." Ein Kreisaufseher verkündete von der Bühne keinen Namen, er begnügte sich mit den Worten: "Ich habe in der letzten Zeit so seltsame Fragen eines jungen Mannes gelesen."

Ein Ältester jedoch setzte sich mit den Fragen von Karsten Wichmann auseinander, er gab ihm Bücher, die nur für Amtsträger bestimmt sind, aber auch in diesen Büchern fand Karsten Wichmann keine befriedigenden Antworten: "Wenn Widersprüche auftauchen, dann behaupten die Zeugen Jehovas, das Licht werde immer heller und heller. Ich erkannte, daß die Lehre der Wachtturmgesellschaft falsch ist."

Er unternahm einen Ausbruchversuch: "Mehrere junge Zeugen Jehovas besuchten Rockkonzerte. Ein kleiner Kreis traf sich und rauchte. Wir liehen uns Pornos aus und betranken uns."

Dann ging es Schlag auf Schlag, im März 1986 wurde er ausgeschlossen. Zu jener Zeit hatte er seine 20 Fragen kopiert und verteilt: "Die Fragen versah ich mit Thesen und gab sie Zeugen Jehovas, die an der Lehre zweifelten."

Die Verletzung der Regeln belastete sein Gewissen, er wurde immer unzufriedener, "weil ich nicht mehr glaubte, was ich den Leuten an den Haustüren erzählte!", als 13jähriger hatte er sich noch freudig in den Dienst der Wachtturmgesellschaft gestellt, war 60 Stunden im Monat für die Zeugen Jehovas auf den Beinen, genoß Vorrechte, kaufte sich von seinem Taschengeld einen Kittel und schenkte bei Treffen der Versammlungsmitglieder Kaffee aus: "Das hat mir damals viel Spaß gemacht."

Der Spaß war ihm aber immer wieder verdorben worden, jeder Versuch, sich von den anderen zu unterscheiden, wurde im Keim erstickt: "Damals hatte ich mir ein Schwänzchen wachsen lassen und trug einen Ohrring." Dieser Verstoß gegen die Vorschriften für das äußere Erscheinungsbild mißfiel den Ältesten. Die kamen zu dem Schluß: Karsten Wichmann muß ausgeschlossen werden. Ein Komitee, bestehend aus drei Ältesten, formulierte die Ausschlußgründe: Karsten Wichmann brach die Beziehungen zu einem Freund nicht ab, obwohl dieser ausgeschlossen worden war, Karsten Wichmann hatte geraucht und Alkohol konsumiert.

Das Komitee kannte keine Nachsicht: "Das waren knallharte Leute. Die Ältesten sind Ankläger und Richter zugleich. Ich wollte trotz allem drin bleiben. Die sozialen Beziehungen und die Gemeinschaft waren mir wichtig. Ich war unheimlich traurig darüber, daß ich ausgeschlossen wurde."

Nach dem Ausschluß wurde Karsten Wichmann von Selbstmordgedanken geplagt, er legte Widerspruch gegen die Entscheidung ein, kritisierte das Verfahren, er ahnte aber, daß er keine Chance hatte: "Ich hatte schon einmal vor einem Komitee gestanden. Meine Mutter schlug mich damals ohne Grund, ich stieß sie zurück. Sie informierte die Ältesten. Ich verteidigte mich vor dem Komitee, sagte, daß ich ungerecht behandelt worden sei, die Ältesten jedoch stellten sich auf die Seite meiner Mutter. Ich müsse meinen Eltern gehorchen, egal was die machten, sagten sie. Das konnte ich nicht akzeptieren, sie behaupteten, ich hätte gelogen, obwohl ich die Wahrheit sagte. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dies so richtig ist."

Nach dem Ausschluß geschah das übliche: Karsten Wichmanns Schwester und seine Brüder brachen den Kontakt zu ihm ab, seine Eltern schlugen Einladungen in seine Wohnung, die er Ende 1985 gemietet hatte, aus, die Zeugen Jehovas grüßten ihn nicht mehr.

Karsten Wichmann litt unter dieser Isolation, die Probleme wuchsen ihm über den Kopf, im November 1989 sah er nur noch einen Ausweg: Er versuchte, sich das Leben zu nehmen. Er wurde gerettet, seine Eltern erfuhren durch einen Zufall von dem Selbstmordversuch, besuchten ihn im Krankenhaus und: "Seit dieser Zeit sind meine Eltern sehr nett zu mir."

Karsten Wichmann war nicht der einzige, der einen Selbstmordversuch unternahm, zwei junge Leute in seinem Alter taten den gleichen Verzweiflungsschritt: "Einer der beiden versuchte sogar mehrmals, sich das Leben zu nehmen." Andere Ausgeschlossene flüchteten sich in den Alkohol und in Drogen: "Mein ehemals bester Freund hing zeitweise an der Nadel."

Heute wird der 23jährige von einem Psychotherapeuten behandelt, er will seine Vergangenheit bewältigen, zu der auch gehört: "Ich habe nicht gelernt, wie man eine Beziehung zu einer Frau aufbaut." Probleme haben nach seiner Meinung nicht nur Ausgeschlossene, sondern auch viele Zeugen Jehovas: "Die lassen sich einfach in der Gruppe treiben. Es ist nicht leicht, gegen den Strom zu schwimmen, es ist leichter, einfach mitzumachen, auch wenn man gar nicht an die Lehre der Wachtturmgesellschaft glaubt."

Drohungen tragen dazu bei, daß Zweifel und Nicht-mehr-glauben-können nicht immer in einen Austritt münden. Vor der Mündung steht der "Wachtturm", von oben wird scharf geschossen, schon im Diesseits tödlich wirkende Schüsse fallen aber nicht, denn: "Wir leben nicht unter theokratischen Nationen, wo solche (ausgeschlossene, die Verfasser) Glieder unserer Familiengemeinschaft im Fleische ausgerottet werden können, weil sie von Gott und seiner theokratischen Organisation abgefallen sind..." (Wachtturm", 15. Januar 1953)

Morgens um 5 Uhr abgehauen

(Name und einige Details redaktionell verändert)

November 1981: Andreas B.... , steht morgens um 5 Uhr auf, duscht sich, füllt zwei Plastiktüten mit dem Notwendigsten, schließt sein Zimmer ab und verläßt sein Elternhaus ... ohne eine Nachricht zu hinterlassen: "Ich wollte einfach nur weg."

Mit einer Frau, die er im Sommer 1981 bei einer Abiturfeier kennengelernt hat, beginnt er einen neuen Lebensabschnitt, schreibt Anfang 1982 an die Versammlung, daß er kein Zeuge Jehovas mehr sein will und verarbeitet seine Vergangenheit in Gesprächen mit seiner Freundin. Andreas B.: "Mit meinen Eltern, Geschwistern und mit anderen Zeugen Jehovas waren solche Gespräche nicht möglich. Die Beziehungen zwischen den Versammlungsteilnehmern waren sehr oberflächlich, die Gefühle des Einzelnen interessierten nicht."

Erst einige Monate nach seinem Auszug meldet sich Andreas B. bei seinen Eltern, fährt eines Tages zu ihnen und packt seine restlichen Siebensachen: "In den Gesichtern meiner Eltern stand blankes Entsetzen. Mein Vater fragte mich nur, ob ich mit meiner Freundin schlafe. Nachdem ich ja gesagt hatte, drehte er sich um und verschwand."

Nach diesem Besuch melden sich die Eltern von Andreas B. kein einziges Mal, er ruft gelegentlich an, ein Jahr schlummern die Kontakte, dann bekommt Andreas B. Gewissensbisse. Fragen tauchen auf: "Habe ich die richtige Entscheidung getroffen? Hätte ich bei den Zeugen Jehovas bleiben sollen?" Diese Fragen treiben ihn schließlich aus der Wohnung, die er mit seiner Freundin teilt, er fährt zu seinen Eltern, die empfangen ihn wie einen "reuigen Sünder". Andreas B.: "Da war mir klar, daß ich nicht mehr zurück wollte. Ich wüßte nicht, was ich bereuen sollte."

Nur eine Nacht verbringt er in seinem Elternhaus, am nächsten Morgen kehrt er zu seiner Freundin  zurück, bestätigt in dem Gefühl, das er schon lange hat: "Ich glaube an nichts mehr." Schon früh habe er sich, erzählt Andreas B., den Pflichten, die ein Zeuge Jehovas hat, entzogen, indem er falsche Angaben über die geleisteten Stunden im Dienste der Glaubensgemeinschaft gemacht habe. Sein Interesse gilt der Musik: "Wenn du Musiker werden willst, mußt du ernsthaft arbeiten. Und du mußt mit anderen zusammen spielen. Gleichgesinnte gab es unter den Zeugen Jehovas aber nicht. Wenn die Musik machten, dann nur als Hobby." ...

Einfluß nimmt der Vater auf die Entscheidung seines Sohnes, als dieser Musik studieren will. Sein Ratschlag lautet: "Studier doch lieber Maschinenbau." Dazu aber hat Andreas B. keine Lust und wählt Physik.

Damit sind seine Eltern einverstanden. Schließlich verbreitet die Wachtturmgesellschaft die Behauptung, daß 144000 Zeugen Jehovas in den Himmel kommen, die anderen seien dazu auserkoren, nach der Vernichtung der Welt die Trümmer beiseite zu räumen und Aufbauarbeit zu leisten.

Auf die Ausbildungs-Tube drückte "Erwachet" am 22. August 1969, damals galt: 1975 geht die Welt unter. Die Wachtturmgesellschaft riet in jenen August-Tagen: "...Eltern, die ihr Leben nach Gottes prophetischem Wort ausrichten, (finden es) viel nützlicher, ihre Kinder einen Beruf erlernen zu lassen, der nicht eine so lange weitere Studienzeit erfordert. Und Berufe, wie der des Zimmermanns, des Installateurs und anderer Handwerker sind nicht nur jetzt nützlich, sondern vielleicht noch nützlicher bei dem Wiederaufbau, der in Gottes neuer Ordnung erfolgen wird.

Viele junge Leute, die einen praktischen Beruf erlernt haben, sind in der Lage, ihren Lebensunterhalt durch eine Nebenbeschäftigung zu verdienen. Dadurch ist es ihnen möglich, viel mehr von ihrer Zeit zu verwenden, um interessierten Personen zu helfen, Gottes Erfordernisse für das Leben kennenzulernen, indem sie mit ihnen die Bibel studieren." Nach dem Abschied von der Wachtturmgesellschaft studiert Andreas B. trotz der von den Zeugen Jehovas unterstellten Nützlichkeit eines Physik-Studiums weiter: "Diese Nützlichkeit wurde mir zunehmend zuwider." Er schreibt für ein Stadtmagazin und findet schnell einen neuen Freundeskreis, dabei hilft ihm seine Freundin.

Zwei Jahre leben sie zusammen, dann heiraten sie. Die Eltern von Andreas B. kommen zur Hochzeitsfeier. Das Verhältnis bessert sich ein wenig.

Abgeschrieben haben ihn dagegen offenbar die Zeugen Jehovas und seine ehemaligen Freunde und Verwandte. Nur einmal meldet sich ein Amtsträger bei Andreas B. und bietet ein Gespräch an. Andreas B. lehnt ab.

Heute besucht der 27jährige gelegentlich die Treffen einer Selbsthilfegruppe für Sektenaussteiger. Der Grund: "Ich wollte sehen, wo die ausgeschlossenen Zeugen Jehovas bleiben." Er kann viele Ausgeschlossene kennenlernen. Nach Schätzung von Experten tritt jeder zweite Zeuge Jehovas eines Tages aus dieser Glaubensgemeinschaft aus oder wird hinausgeworfen.

ZurIndexseite