Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Hermine Schmidt

Ziehen Gegensätze sich an? Vergegenwärtigt man sich die auch auf diverses Videos dokumentierten Auftritte von Hermine Schmidt mit ihrem Ehemann Horst Schmidt, so ist man wohl als Außenstehender Beobachter geneigt, in diesem Fall dies zu bejahen. Zumindest habe ich persönlich den Eindruck, dass die Mentalität der Schmidt's doch sehr unterschiedlich gestaltet ist.

In diesen Videoauftritten erweckte namentlich Hermine Schmidt, vielfach den Eindruck eines freudenstrahlenden Menschen. Nimmt man zur Kenntnis das diese Auftritte im Kontext der "Standhaft"-Veranstaltungen der Zeugen Jehovas stattfinden, so ist dies schon an sich ein registrierenswerter Fakt. Also rachelüsterne Verbitterung, wird man Hermine Schmidt mit Sicherheit nicht unterstellen können. Obwohl auch sie in ihrem Leben einige, nicht zuletzt zeitgeschichtlich bedingte, Bitterkeiten einstecken musste.

Ehrlich gesagt, ich bin überrascht. Da war zu vernehmen, dass sie ein autobiographisches Buch geschrieben hat mit dem Titel: "Die gerettete Freude" und dessen Untertitel lautet: "Eines jungen Menschen Zeit 1925 - 1945". Wie ich dieses Buch noch nicht selbst gelesen hatte, da war so mein Eindruck (das Bild ihrer Videoauftritte im Hinterkopf) Na ja: Da wird wohl die Schmidt auch das Loblied der Zeugen Jehovas singen, von ihrer behüteten Kindheit schwärmen und dergleichen mehr. Nach der Lektüre dieses Buches indes, muss ich dieses Vorurteil korrigieren.

Sicherlich ist dies kein Buch, wie es eine Ex-Zeugin Jehovas geschrieben hätte. Josy Doyon wird von ihr keinesfalls kopiert. Dennoch, wer auch auf die "Zwischentöne" achtet, der findet da schon einiges bemerkenswertes.

Ihre Eltern heirateten im Jahre 1920 und ließen sich im gleichen Jahr auch bei den Bibelforschern taufen. Hermine selbst erblickte 1925 das Licht der Welt. Ihre Mutter charakterisiert sie als eine besonders aktive Bibelforscherin. Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und für die Mutter die Vokabel: Fanatisch verwenden. Da ereilt die Mutter (noch vor Hermines Geburt) ein sehr schwerer Schicksalsschlag. Sie erblindet. Dazu ein charakteristischer Satz aus ihrer Schilderung:

"Während der frühen zwanziger Jahre, wo in den Wintermonaten die Tränen meiner Mutter im Beiwagen des Motorrades zu kleinen Eiskugeln erfroren, brachten meine Eltern jedes noch so große Opfer für ihren Glauben voller Freude und Begeisterung. Das war auch die Zeit ihrer ersten Ehejahre."

Jetzt noch eine weitere bemerkenswerte Feststellung. Nachdem die Erblindung eingetreten war, kommentiert die Tochter Hermine die nachfolgende Entwicklung mit den Worten:
"Damals sah man so eine Krankheit gewissermaßen als eine Strafe Gottes an. Ja vielleicht geschah diese Heimsuchung sogar wegen geistigen Hochmutes? Denn sie als Frau hatte unter Anderem diese schwierigen, biblischen 'V.D.-M.-Fragen', deren Beantwortung nach Magdeburg ins 'Bethel' geschickt wurde, als Einzige hundertprozentig richtig beantwortet. Und da lag doch der Verdacht nahe, dass sie von Gott gestraft sein könnte. Da vergossen diese armen blinden Augen grundslos noch viele Tränen."

Es gelang über längere Zeit nicht, die Erblindung rückgängig zu machen; bis sie eines Tages einen homöopathisch orientierten Arzt zu Rate zogen. Letzterer sah seinerseits durchaus klar, dass eine wesentliche Ursache in diesem Falle auch in der Überlastung zu Gunsten der Bibelforscher zu sehen ist.

In den Worten der Autorin: "Der erkannte den Grund dieser Art von Hornhautentzündung, die mit völliger Erschöpfung einherging. Was bei Mutter voll zutraf. Vor allem war es diese Anstrengung in Wind und Wetter und oft auch eisiger Kälte im Beiwagen des Motorrades mit Vater unterwegs zu sein. Dieser Arzt sagte mit Bestimmtheit, Mutters ganzer Körper müsse wieder aufgebaut und gekräftigt werden."
So gelang es doch noch ein relatives gesundheitliches Happy-Ende zustande zu bringen. Die Erblindung konnte rückgängig gemacht werden.

Auch ansonsten äußert Frau Schmidt durchaus einige bemerkenswerte Sätze. Etwa wenn sie schreibt: "In dieser Zeit aber, wo das Jahr 1925 immer näher rückte, verkauften viele Brüder und Schwestern alles, auch meine Eltern so manches. Nur damit so viele Menschen wie nur irgend möglich mit der Botschaft erreicht wurde."
Sie sagt zwar nicht expressis verbi, was es denn nun mit 1925 auf sich hätte. Aber auch ohne diese bei ihr fehlende Auskunft, ist diese Aussage auch so deutlich genug.

Ihr Geburtsdatum macht deutlich, dass ihre prägenden Jahre der Kinder und Jugendzeit, in die Ära des Naziregimes hineinfielen. Bemerkenswert finde ich schon diesbezüglich auch ihre Aussage: "Ich hatte es da ziemlich schwer, wenn in der Verbotszeit so in Eile der schwere Stoff des 'Wachtturms' über die Prophezeiungen des Bibelbuches Daniel oder das Buch 'Kinder' vorgelesen wurde, den Inhalt zu begreifen. Rückblickend wundere ich mich immer wieder, wie es mir und anderen jungen Christen mit relativ geringer Erkenntnis möglich gewesen ist, diese Glaubensprüfungen durchzustehen."

Ich würde ihr darauf antworten wollen. Gerade diese von ihr selbst geschilderte Oberflächlichkeit ist es gewesen, die ihren Weg bei den Zeugen Jehovas beließ. Vielleicht hat sie deshalb auch gar nicht die damals "sensationelle" Aussage des Buches "Kinder" so mitbekommen: Mit dem Heiraten bis "nach" Harmagedon zu warten.

Da gerade das Stichwort Heirat fiel. Bekanntlich werden aus Kinder eines Tages Jugendliche. Das war schon zu Hermines Zeiten so. Und da kommt auch das Bewusstsein der Sexualität auf, mit den damit implizierten Fragen. Über die "Aufklärung", die sie diesbezüglich von ihrer Mutter erhalten hatte, fällt sie ein vernichtendes Urteil: "Aufklärung gleich Null, und bei mir noch etwas darunter."

Sie belegt diese Aussage auch noch mit der Bemerkung: "Die blamable Aufklärung meiner lieben Mutter ('Geht weg, ihr verderbt mich') kam auch hier wieder zum Tragen. Tatsächlich war ich in diesem Punkt immer noch ein richtiges Kind. Nein, jedes Kind heute ist klüger. Zuerst hielt ich wirklich eine Frau mit dickem Busen für schwanger, es heißt doch, sie trägt das Kind unter ihrem Herzen und nicht in ihrem Bauch. Dann aber war für mich die Sache klar, dass der einzige mögliche Geburtsweg durch den Bauchnabel sein müsste. Die Wahrheit darüber hauten mir eines Tages meine Schwestern und unsere Hausschneiderin lieblos um die Ohren, und sie wollten sich dann vor Lachen ausschütten über meine Naivität."

Eine weitere diesbezügliche Episode ist ihr Bericht, indem sie über die letzte Ohrfeige erzählt, die sie von ihrer Mutter erhalten hatte: Dies war, "als ich einen Schlager sang, der in aller Munde war. Ich merkte nicht, dass meine Mutter aufhorchte und genau auf den Text achtete. Ich wusste auch nicht, wie mir geschah, als es plötzlich 'Patsch' machte. Aber wie! Die Ohrfeige saß. Meine Mutter fragte ganz ruhig, ob ich wisse, was ich da singe. Ich sang mit Begeisterung: 'Für eine Nacht voller Seligkeit, da geb' ich alles her'". Und sie fragt kommentierend im Anschluss daran: "Ob heute eine Sechzehnjährige diese Lektion so wegstecken kann?"

Meines Erachtens macht man es sich zu einfach, wenn man im geschilderten Fall den Buhmann lediglich auf die Mutter absorbiert. Letztendlich offenbart sich hier die Erziehung zur Lebensuntüchtigkeit auch als ein Versagen, namentlich zu Lasten der Religionsgemeinschaft. In diesem Falle der Zeugen Jehovas. Ihre prüde Theologie, hat auch auf diesem nicht unwesentlichen Sektor menschlichen Lebens, ihre nicht positiv zu bewertenden Auswirkungen.

Im Jahre 1942 ließ die Hermine sich taufen. In jenem Jahre tauchte auch erstmals ein Kurier aus Berlin bei ihrer Familie auf. Die Sachlage ist hinreichend bekannt. Dieser "Bubi" alias Horst-Günther wurde in den Nachkriegsjahren ihr Ehemann. Horst Schmidt, hatte ohne Zweifel auch eine bewegte Biographie, über die er in einem eigenen Buch auch noch berichtete.  Im Kreise der Familie seiner späteren Ehefrau berichtete er auch einiges über seine Biographie. In diesem Kontext fällt auch die Bemerkung, dass sein Pflegevater Richard Zehden, als leiblicher Jude, im KZ Auschwitz umgekommen ist. Das persönliche Umfeld von Horst Schmidt lichtete sich in jenen Jahren immer mehr.

In diesem Zusammenhang macht unsere Autorin, in ihren Erinnerungen kramend die Anmerkung: "Auch Walter Sonnenschein gab es nicht mehr, seinen guten väterlichen Freund. Ein einfacher Tischler, mit einem derart umfangreichen Wissen auf vielen Gebieten, dass Bubi immer wider begeistert von ihm lernen konnte."

Frau Schmidt will es nun so darstellen, als sei besagter Walter Sonnenschein primär auch ein Gestapo-Opfer. Möglicherweise hat auch er mit der Gestapo unliebsame Erfahrungen gemacht. Das sei nicht in Abrede gestellt. Die tatsächliche Sachlage indes liegt etwas anders.

Dazu muss ich etwas ausschweifen. Der Ex-Zeuge Jehovas William Schnell berichtet in seinem Buch auch über den Bibelforscherkongress Magdeburg 1924, der sich den damaligen deutschen Bibelforschern dauerhaft ins Gedächtnis eingebrannt hatte. Das waren noch die Jahre der Inflation in Deutschland und materielle Armut war bei der Klientel der deutschen Bibelforscher auf der Tagesordnung. Jener 1924-er Kongress hatte einen ganz besonderen Höhepunkt. Rutherford höchstpersönlich war anwesend und als joviale Geste ließ er sämtliche Kongressbesucher mit ein paar Würstchen speisen. Dieser von Schnell berichtete Fakt, findet sich auch im Buch von Hermine Schmidt wieder, dieweil auch ihre Eltern noch Jahre danach von dieser Geste schwärmten.

Mit anderen Worten: Es gibt manchmal im Leben Vorgänge, die noch Jahre danach Gesprächsstoff sind, weil sie sich den Zeitzeugen unauslöschlich eingeprägt haben.

Nunmehr komme ich auf besagtem Walter Sonnenschein zu sprechen. In meiner persönlichen Zeugenzeit hatte ich auch engen Kontakt zu einem, der jenen Walter Sonnenschein persönlich kannte und dessen tragisches Ende für ihn noch Jahrzehnte danach dauerhaftes Gesprächsthema war. Und zwar dergestalt dass Sonnenschein Selbstmord beging. Laut Burkhard Wegner, so heißt der ZJ den ich hier als Zeuge benenne, hat Sonnenschein im Kreise seiner Glaubensgeschwister lauthals verkündet, wenn er sich vor einem fahrenden Zug werfe, werde er "dank Jehovas Hilfe" dennoch nicht überfahren. Das "Experiment" misslang und für B. Wegner war das noch Jahrzehnte danach Gesprächsstoff. Dies als Ergänzung zur Darstellung der Hermine Schmidt.

Danziger Fischmarkt

Wenn man so will, lässt sich die durchaus charakteristisch zu nennende Erziehung zum Außenseitertum seitens der Zeugen Jehovas, schon im Naziregime nachweisen. Der dortige Kontrast bestand insbesondere in den Staatsvergötzungstendenzen des Naziregimes kontra den Ansprüchen der Zeugen Jehovas, allein nur Vergötzung der eigenen Art, durchzuführen. Auch da wurde dieser Konflikt schon auf dem Rücken der Kinder ausgetragen.

Ein Beispiel dafür liefert Hermine Schmidt in ihrem Erinnerungsband „Die gerettete Freude" wenn sie da etwa schreibt:

„Diese Stunden und diese Erlebnisse aus frühester Kindheit, die kann ich nicht vergessen. Die Narben sitzen zu tief in meiner Seele. Auch wenn sie an der Oberfläche sicherlich geheilt erscheinen. Ich denke da an eine Begebenheit von vielen. Es war der jährliche große Elternabend in der großen Festhalle unserer Schule. Mein Vater, meine Schwester und ich waren inmitten der großen Menge. Wir hätten es wissen müssen! Das 'Deutschlandlied' und das 'Horst Wessel-Lied' wurden gesungen. Und damit befanden wir uns in einem nicht enden wollenden Spießrutenlauf. Wir drei nun in der Menge, ohne die Hand zu heben, ohne mitzumachen, ohne mitzusingen. Einer allein, der kann dann eher unbemerkt bleiben. Aber drei beieinander, das musste auffallen. Und die beiden Lieder nahmen und nahmen kein Ende. Ich hatte Beine wie Gummi und kämpfte mühsam gegen das Umfallen.

Mein Vater wollte mich doch so gerne in der Hauptrolle einer Theateraufführung erleben, die zu diesem Anlass gezeigt werden sollte. Aber diese Freude war ihm nun gründlich verdorben. Er kam nie mehr zu diesen Festen, diesen immer sehr groß aufgezogenen Elternabenden, wo dann einige hundert Eltern die Halle füllten. Meine Mutter kam ohnehin nicht mit.

Dieses Mal stellten wir das Leben auf dem Danziger Fischmarkt dar. Mit echten Fischkiepen auf dem Rücken, dazu tolle Kostüme. Mit großer Sorgfalt ausgewählt. Monatelang wurde geprobt, bis die Tänze und jedes Wort perfekt saßen. Die dabei mitmachen durften, wurden viele Wochen lang für diese Proben stundenweise vom Unterricht befreit. Später hatte mich Fräulein Wölk, unsere Turnlehrerin, am Danziger Staatstheater angemeldet. Sie wollte mich unbedingt dort unterbringen. Am liebsten im Ballett.

Aber da hatte sie nicht mit meiner Mutter gerechnet, die mir das liebevoll ausredete. Papa merkte wenigstens, wie schwer mir dieser Verzicht fiel. .... Es hieß auch verzichten, als mir beim Abschluss der vierten Grundschulklasse zum ersten Mal 'Freischule' angeboten wurde. Nur zwei Schülerinnen von insgesamt vierzig wurden für die höhere Schule vorgeschlagen, ohne das Schulgeld zahlen zu müssen. Damals war der Besuch einer höheren Schule mit allerlei Kosten für die Eltern verbunden. Aber das war ja nicht der Grund bei uns, daran lag es nicht. Diese schulischen Möglichkeiten erhielt ich später noch dreimal und das wurde zum Teil recht unangenehm. Da ich keine Kompromisse einging, war das immer eher ein Verhängnis und keine Freude. Es verbot sich von selbst, diese Angebote anzunehmen.

Trotzdem war ich verständlicherweise sehr traurig darüber. Turnen, also Körperübungen konnten mich wirklich begeistern. Da war zum Beispiel dieses sehr groß aufgezogene Sportfest, an dem alle Schulen Danzigs teilnahmen. Dafür wurde natürlich besonders geübt. Einmal gab es auf dem großen Schulhof so eine Art Generalprobe. Es waren alle Klassen vertreten. Da nahmen sie ausgerechnet mich als Vorturnerin. Im ersten Augenblick machte mich das natürlich richtig stolz und ich gab auch mein Bestes. Denn Übung hatte ich ja vom Strand in Zoppot, da waren wir alle fast zirkusreif. Mein Kreuz war tatsächlich wie Gummi und mein Vater hätte mir besser den Hintern versohlen sollen, als noch ganz stolz Aufnahmen zu machen, vom Spagat, ganz verrückten Brücken oder wenn ich im Stehen oder im Liegen die Fußspitze mit Leichtigkeit zum Hinterkopf brachte. Das alles machte mir einen riesigen Spaß, dort in Sonne und Wind, ganz frei in Zoppot.

Aber schon als ich hier auf dem Schulhof von diesem Tisch wieder hinuntersprang, da wusste ich, dass ich dieses Schulfest auf keinen Fall mitmachen würde. Da war ich krank, da war ich verreist, oder irgendetwas musste auf dieser schriftlichen Entschuldigung stehen und erfunden werden. Der wahre Grund konnte und durfte nicht darauf stehen. Schon um den Lehrer nicht herauszufordern, der den Grund kannte."

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