Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Luise Rinser

Die 1911 geborene Luise Rinser hatte Psychologie und Pädagogik studiert. Von 1935 bis 1939 war sie als Lehrerin tätig. Es gehörte eigentlich nicht viel dazu, um im Naziregime "anzuecken". Das sollte sich auch im Fall Rinser bestätigen. 1944 fand sie sich im Gefängnis wieder unter dem Vorwurf der "Wehrkraftzersetzung". Nicht aus religiöser Motivation heraus, wie etwa bei den Zeugen Jehovas. Auch dem Nicht-religiösen konnte im Naziregime ein solcher Vorwurf ereilen. Dem relativ späten Zeitpunkt ihrer Verhaftung (1944) verdankt sie es aber auch, dass durch Verkettung gewisser Umstände, sie dennoch das Hitlerregime überlebte, denn dessen Tage waren zu diesem Zeitpunkt schon gezählt. Datiert ab 22. 10. 1944 hatte sie im Untersuchungsgefängnis heimlich eine Art Tagebuch geführt und konnte dieses dann 1946 erstmals unter dem Titel "Gefängnistagebuch" veröffentlichen. Darin berichtet sie auch über ihre Erfahrungen, die sie bei der Begegnung mit Zeuginnen Jehovas unter den vorgenannten Umständen machte. Sie nennt dabei Dinge die sowohl für die Zeuginnen Jehovas, als auch gegen sie sprechen. Es ist also keine Tendenzschrift wie man sie heute aus gewissen Kreisen nicht selten begegnet.

Das Buch von Frau Rinser erlebte dann in Westdeutschland noch eine Neuauflage. Und bemerkenswert. Auch der ostdeutsche Union-Verlag bemühte sich um die Lizenzrechte dafür und veranstaltete auch eine eigene Ausgabe davon (im Jahre 1967).

Da aber schon auf den allerersten Seiten des Rinsertextes man auch den Zeugen Jehovas begegnet, war das dem Union-Verlag angesichts der bekannten Situation der Zeugen Jehovas in der DDR, doch wohl etwas unheimlich. Andere Bücher die auch im Union-Verlag erschienen, etwa das des Ernst Wiechert "Der Totenwald" und worin die Zeugen Jehovas auch eine beachtete Rolle spielen, wurden diesbezüglich vom Verlag nicht speziell kommentiert. Im vorgenannten Fall indes glaubte man wohl nicht um einen solchen Kommentar herumzukommen. Als eine Anmerkung im Anhang mit angefügt. Der diesbezügliche Text des Verlages sei nachstehend erst einmal zitiert:

Anmerkung: Die "Zeugen Jehovas", früher "Ernste Bibelforscher" (International Bible Students Association), sind eine religiöse Bewegung, die 1870 in den Vereinigten Staaten von dem Kaufmann C. T. Russell gegründet wurde und seit 1903 auch in Deutschland Anhänger zu werben begann. Nach dem ersten Weltkrieg wuchs die Zahl dieser Anhänger rasch. Mit der Nazi-Herrschaft gerieten viele diese Anhänger in Konflikt; einige Beispiele dafür werden in Luise Rinsers "Gefängnistagebuch" erwähnt. Die SMAD nahm 1945 die "Zeugen Jehovas" in die "Liste der zugelassenen Religionsgemeinschaften" auf, nicht wenige Mitglieder dieser Gemeinschaft wurden als "Opfer des Faschismus" anerkannt. Es erwies sich aber als verhängnisvoll, daß die deutsche Gruppe der "Zeugen Jehovas" direkt der Zentrale in Brooklyn (USA) unterstellt war. Unter dem Einfluß dieser Zentrale wurden die "Zeugen Jehovas" nach dem zweiten Weltkrieg mehr und mehr zu einer Hilfstruppe des Antikommunismus. Sie mißbrauchten ihre Tätigkeit zu verfassungswidrigen Zwecken, bezeichneten insbesondere jede gesellschaftliche Arbeit, auch die Teilnahme an Wahlen, als Götzendienst, verbreiteten illegales, gegen die DDR gerichtetes Schrifttum. Aus diesem Gründen sah sich Innenminister Dr. Steinhoff schließlich am 31. August 1950 gezwungen, die "Zeugen Jehovas" von der "Liste der in der DDR zugelassenen Religionsgemeinschaften" zu streichen und ihre weitere Tätigkeit zu verbieten.

Union Verlag Berlin

Wie schon gesagt, lernte Frau Rinser dann die Zeugen Jehovas erstmals in ihrem Leben, im Gefängnis kennen. Noch eine beiläufige Anmerkung. Weder im Text noch in seinem Literaturverzeichnis findet man in der Studie des auch so un"gründlichen" Detlef G, einen Hinweis auf den Rinser-Bericht. Ihre diesbezüglich relevanten Tagebuchaufzeichnungen der Luise Rinser, seien nachstehend dokumentiert:

Seit zehn Tagen im Gefängnis …

Von sieben Uhr früh bis fünf Uhr abends arbeite ich in der Nähzelle mit zwei älteren Frauen zusammen, die mich sehr mißtrauisch und schweigsam empfingen, jetzt aber schon viel gesprächiger werden. Es sind zwei Bibelforscherinnen, die eine, Frau M., sitzt schon zum zweitenmal, diesmal bereits dreizehn Monate, die andere seit elf Monaten. Die Tatsache, daß sie Bibelforscherinnen sind, genügt für die Anklage des Hochverrats. Die Bibelforscher sind grundsätzlich pazifistisch; ihre Männer und Söhne verweigern den Kriegsdienst. Der Sohn einer Bibelforscherin, Frau W., wurde deshalb hingerichtet. Die Mutter, die hier im Gefängnis sitzt, erträgt es ohne Klage.

Hier sind insgesamt fünfzehn Bibelforscherinnen, die Älteste davon ist bereits 85 Jahre alt. Sie sind alle sehr sonderbar, von einer wundervollen Ruhe, Tapferkeit und Glaubensstärke und äußerst pflichtbewußt. Sie stopfen, flicken und nähen Gefängniswäsche, und zwar so, als würden sie dafür bezahlt. Außerdem sind sie gegen die Härten der Haft fast unempfindlich, denn es ist für sie alle Gewißheit, daß eines Tages der "ewige Frieden" anbrechen wird, nicht jener im "Himmel", sondern der auf Erden. Dann wird das Reich der Gerechtigkeit anbrechen. Vorher aber wird eine fürchterliche Schlacht sein in "Hamar Gedon",

(Einfügung: Von der Verfasserin gewählte Schreibform; was ihre vorherige Nichtvertrautheit mit der Zeugen Jehovas-Theologie aufzeigt. Zugleich aber deutlich macht; dass hier keine "Zweckinterpretation" vorliegt, sondern der natürliche Eindruck den die Zeugen Jehovas auf Außenstehende machen, sachgerecht wiedergegeben wird).

da werden die ungerechten Machthaber der Erde vernichtet. Sie sagen, die Nazis wüßten das alle, deshalb seien die Gestapo-Richter so wütend, wenn man ihnen beim Verhör die Erinnerung an "Harmar Gedon" entgegenschleudere.

Ich halte ihnen vor, daß man das politische Heil nicht von etwas Außermenschlichem erwarten dürfe, das sei zu bequem, wir müßten uns schon selbst darum bemühen, dafür gebe es den Sozialismus. Ich versuche ihnen die Grundsätze des Sozialismus klarzulegen. Sie schütteln überlegen ihre Köpfe: das sei alles Unsinn, nur der "Herr" allein würde uns retten. Sie sind in einem undurchdringlichen Fantatismus befangen.

Es gelingt mir nicht, aus ihren Glaubenslehren klar zu werden. Es scheint, als hätten sie außer dem Haß gegen die Macht und der Hoffnung auf Christus keine Ideen. Ich bin mißtrauisch gegen diese Lehre, wenn ich sehe, wie lieblos ihre Anhänger sind. Ich beobachte beispielsweise, daß Frau W. ein Päckchen von ihren Angehörigen bekommen hat. Sie verbirgt es ängstlich in einer Ecke und ißt ab und zu einen Bissen, ohne auch nur einen Happen uns zu geben. Oder Mittags. Aus Versehen ist ein Essentopf zuviel in unsere Zelle gekommen. Frau P. als die Älteste teilt. Es ist etwas zusammengekochtes aus Kartoffeln und Möhren. Sie sucht sich Möhren heraus, ebenso die Sauce und überläßt uns anderen die Kartoffeln.

Heute erzählten Frau M. und Frau P. von ihrer Verhaftung. Die Bibelforscher wurden schon während des ganzen Dritten Reichs verfolgt. Aber vor einem Jahr ging eine große Verhaftungswelle durch ganz Deutschland. Man fing sämtliche Bibelforscher Deutschlands. Sie wurden in ihren Heimatorten verhört und da keiner von ihnen die Gesinnung leugnete, wurden sie auf langen qualvollen Fahrten zur Gestapo nach München gebracht. Frau P. erzählte, als sie mit dem Transportzug dort eintraf, war es Nacht. Man brachte sie und ihre Genossen in einen völlig finsteren Raum, stieß sie hinein und schloß zu.

Sie stolperten in der Dunkelheit über etwas, das sie für Säcke hielten, bis sie bemerkten, daß es Menschen waren, die dort auf dem nackten Boden legen.

Es waren Hunderte, ohne Essen, ohne Decken, ohne Wasser waren sie hier zusammengepfercht, Männer und Frauen. In der Nacht starb eine alte Frau aus Erschöpfung. Die Leiche blieb liegen bis zum Morgen. Mehrere Tage verbrachten die Leute in diesem Raum. Brot und Wassersuppe war ihre ganze Nahrung. Für Hunderte von Menschen gab es nur vier oder fünf Eimer. Frauen und Männer mußten ihre Notdurft offen voreinander verrichten; aber nicht einer war darunter der klagte.

Nach einigen Tagen wurden sie einzeln verhört. Frau P. sagte, als der Gestapo-Richter sie fragte: "Sie sind eine Gegnerin Adolf Hitlers, nicht wahr?" "Ja, das bin ich! Hitler ist ein Tyrann, er ist der Antichrist, er ist ein böser Dämon. Aber seine Zeit wird bald um sein. Gott selbst wird ihn stürzen. Hamar Gedon ist nahe." Da sei der Richter aufgesprungen habe ihr seinen Stiefel in den Leib gestoßen und die wildesten Flüche geschrien. Sie sagte jedoch ruhig, indem sie auf sein Hakenkreuz deutete:

"Sie tragen das Zeichen des Antichrist. Sie werden mit ihm zugrunde gehen, wir aber werden mit Christus leben und das Reich der Gerechtigkeit aufrichten helfen." Daraufhin wurde sie von einem SS-Mann abgeführt, der sie mit Fäusten und dem Gewehrkolben stieß.

Frau W. erzählte, ihr einziger Sohn habe den Kriegsdienst verweigert und sei ein Jahr im Gefängnis gesessen, dann aber habe man ihn entlassen und ihn in das Heer gesteckt. Da seine Religion ihm den Selbstnord verbietet, blieb ihm keine andere Möglichkeit als die, in den Krieg zu gehen. Aber, so sagte Frau W. voller Stolz, er werde keinen einzigen Menschen töten.

Von der Gestapo wurden die Bibelforscher auf offenen Lastwagen provokatorisch durch die ganze Stadt gefahren und schließlich in das Gefängnis Stadelheim gebracht. Sie berichteten das alles ohne Klage. Es scheint ihnen selbstverständlich für ihre Lehre zu leiden. "Es steht in der Bibel", so beginnt fast jeder ihrer Sätze. "Es steht in der Bibel, daß der Gerechte leiden muß." Auch ohne daß ich mich auf die Bibel berufe, muß ich ihnen recht geben.

Am Nachmittag nahm ich Abschied von Frau M. und Frau P., die mir über viele schwere Stunden hinweggeholfen hatten, mehr durch ihren Gleichmut als durch ihre Bibelsprüche. Als ich in die Zelle zurückkam, fand ich mich mit sechs anderen zusammen. Verglichen mit diesem Volk hier, war ich bei meinen vier Verrückten von Zelle 65 in recht guter Gesellschaft gewesen.

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