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Predigtdienst-Erfahrungen

Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 06. Juli 2004 04:21:49:

Der Predigtdienst der beiden jungen Frauen hatte an diesem Morgen wenig erfolgversprechend begonnen. So kam es zumindest der jüngeren vor, einer schlanken Blonden mit sehr weißer Haut und stahlblauen Augen. Sie war zum erstenmal dabei. Ihre Kollegin, schwarzhaarig und braunäugig, drei Jahre älter und zehn Kilo schwerer, kannte die Verhältnisse schon, wenn auch nicht in diesem Gebiet. Sie hatten es sich zuteilen lassen, weil sie beide kein Auto besaßen.

Aber hier an der Peripherie von Bregenz war es wie wahrscheinlich überall in Vorarlberg: Wenn sich auf ihr Klingeln die Türen öffneten, blickten ihnen mißtrauische Gesichter entgegen. Die Hausbewohner vermuteten in den beiden Frauen Fremde, die ihnen etwas verkaufen wollten, und sobald sie begriffen, daß sie es mit Zeuginnen Jehovas zu tun hatten, wurden sie noch abweisender.

Martha Steinwender überließ die Einleitungen Marijana Krajnc, obwohl deren unüberhörbarer Akzent wahrscheinlich zusätzliche negative Gefühle bei manchen der Besuchten auslöste. Aber die Slowenin hatte Erfahrung damit, wie man mit den Leuten an den Türen umging, während Martha lediglich ein Büchlein mit dem Titel »Unterredungen anhand der Schriften« durchstudiert hatte und erst einige persönliche Eindrücke sammeln wollte.

Sie waren trotz der verschlossenen Haustür in den Gang des Siedlungsblocks gelangt, indem Marijana bei irgendeiner Partei läutete. Jemand, der hohen Stimme nach ein Kind, meldete sich, und Marijana sagte: »Ach, könnten Sie uns bitte die Haustür aufmachen?« Tagsüber taten die meisten Leute das, ohne lang nachzufragen, wer denn hereinwolle und warum.

Das Gebiet war auch für die Slowenin neu. Sie hatte vor kurzem ihr Auto verkauft, weil es ihr zu teuer geworden war und sie den Arbeitsplatz gewechselt hatte. Den neuen konnte sie zu Fuß erreichen. Als sie noch Autobesitzerin war, hatte sie überall missioniert, wo der Gebietsdiener sie einsetzen wollte, aber jetzt kam nur noch etwas in der Nähe Gelegenes in Frage. Der Nachteil war, daß sie in ihren alten Revieren die Leute schon gekannt hatte, während es hier vielleicht noch Überraschungen gab.

Von den vier Wohnungen im Erdgeschoß hatte bei zweien niemand geöffnet, bei den anderen war in der einen nur ein Kind daheimgewesen, dem sie ein Erwachet-Heft dagelassen hatten, bei der zweiten hatte eine ältere Frau kategorisch ihr Desinteresse an religiösen Fragen erklärt und die Tür geschlossen, während Marijana noch eine der für diesen Fall im Buch vorgesehenen Antworten anzubringen versuchte.

Jetzt waren sie in den ersten Stock hinaufgestiegen. Marijana läutete an der Tür neben dem Lift.

Martha dachte über die Einleitungen nach, die zu verwenden sie sich abgesprochen hatten. Wenn eine Frau öffnete, war vorgesehen, sie zu fragen, ob sie sich schon einmal überlegt habe, warum man eigentlich alt werden und sterben müsse? Die vom Buch vorgeschlagene Überleitung bezüglich Meeresschildkröten, die angeblich Hunderte von Jahren lebten, und noch älterer Bäume wollten sie überspringen und gleich zu Römer 5:12 und Offenbarung 21:3 übergehen, solange die Hausfrau noch glauben konnte, sie seien vielleicht Avon-Beraterinnen, die ihr etwas gegen Falten und Krähenfüße andrehen wollten.

Für Männer zogen die beiden Frauen eine andere Einleitung in Betracht. Da sich in den letzten Wochen Gewaltverbrechen in Vorarlberg in einem Ausmaß gehäuft hatten, daß man an Stammtischen und in Zeitungen von einer Verbrechenswelle redete und schrieb, kam die Standardeinleitung in Frage, die im Buch so lautete:
»Mein Name ist… Ich wohne in Ihrer Nachbarschaft. Auf dem Wege zu Ihnen habe ich heute morgen festgestellt, daß die Leute alle davon sprechen, daß… (führe ein Verbrechen an, das kurz zuvor in der Nachbarschaft begangen wurde, oder eine andere Angelegenheit von lokalem Interesse). Was halten Sie davon? … Könnte man nach Ihrer Meinung irgend etwas tun, was unser Leben sicherer macht?« Dann ging die Predigt mit Sprüche 1:32 weiter, wenn die Befragten nicht allzu beharrlich der Meinung der Polizei zuneigten, die Häufung von Gewaltverbrechen sei zufällig, oder jener der Rechtsparteien, sie sei ausschließlich auf die Ausländerzuwanderung zurückzuführen.

»Scheint niemand daheim zu sein«, sagte Marijana und drückte nochmals auf den Klingelknopf. Man hörte in der Wohnung einen Dreiklang, aber keine weiteren Geräusche.

Martha betrachtete die nächste Wohnungstür, die im rechten Winkel zu der lag, an der Marijana soeben zum zweitenmal geläutet hatte, und verspürte ganz plötzlich und intensiv das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Nach einem Augenblick der Verwirrung wußte sie, woher das Gefühl kam: Der Spion vermittelte den Eindruck, daß jemand hindurchblickte, obwohl man das nicht eindeutig erkennen konnte. Seine Dunkelheit hatte etwas an sich, das nicht an einer vorgeschobenen Klappe lag, sondern an der spürbaren Präsenz eines unsichtbaren menschlichen Auges.

Stand jemand regungslos hinter der Tür und starrte sie an? Ein unheimliches Gefühl überkam Martha.

Sie las das Namensschild, auf dem G. Binder stand. Marijana hatte sich achselzuckend von der anderen Tür abgewandt und läutete bei G. Binder. Hier schrillte die Glocke.

Es dauerte ein paar Sekunden, dann hörte man, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte, und die Tür ging auf. Martha starrte den Mann an, den man nicht an die Tür hatte kommen hören.

Er lächelte breit, wobei er seine regelmäßigen weißen Zähne zeigte. Seine Gesichtshaut war für die Jahreszeit sehr gebräunt.

Marijana sagte: »Guten Tag. Vielleicht haben Sie Interesse an einem Gespräch über persönliche Sicherheit?
Die Verbrechen nehmen überhand und können bald unser aller Leben beeinträchtigen. Eine Frau muß sich jetzt schon fürchten, abends auf die Straße zu gehen, aber ist es nicht auch für Männer bald so weit?«

Martha war entschlossen, die Wohnung nicht zu betreten. Sie hatte mit Marijana vorher darüber gesprochen, in welchen Fällen sie es nicht tun würden:
wenn alkoholisierte oder sonstwie verdächtige Männer offensichtlich allein zu Hause waren oder schon an der Tür lästig wurden. Der Mann wirkte zwar nicht betrunken, aber es war etwas Merkwürdiges an seinem Blick und seiner Miene, das Marthas Mißtrauen nicht abklingen ließ.

»Ein Gespräch über persönliche Sicherheit?« sagte der Mann. Auch er sprach mit einem Akzent, aber einem, den Martha nicht kannte. Der Mann musterte die beiden Frauen, ohne die Tür ganz zu öffnen. Er lächelte immer noch mit seinem makellosen Gebiß, aber nicht bis zu den Augen.

»Wir lassen Ihnen eine Schrift darüber da - «, sagte Marijana, aber der Mann unterbrach sie: »Jetzt kommt wahrscheinlich Psalm 37:10.«

»Oh«, sagte sie, »sind Sie ein Bruder?«
»Nein, nur ein Kenner der Heiligen Schrift. Wollen Sie nicht hereinkommen? Ich habe gerade Teewasser aufgestellt.«

Es war die überraschende Kenntnis des Bibelzitats, die Marijana Krajnc diesem zweifelhaften Mann so weit vertrauen ließ, daß sie der Einladung folgte, woraufhin Martha nichts anderes übrigblieb, als mitzukommen.

Andererseits waren sie ja doch zu zweit, und ein Mann, der die Bibel kannte, würde von ihr auch im Zaum zu halten sein, glaubten sie.

Beim Hineingehen warf Martha einen schnellen Blick auf die Innenseite der Tür. Der Spion hatte keine Klappe. Der Mann mußte also tatsächlich hinter der Tür gestanden sein und sie beobachtet haben.

Der Gang war leer bis auf einen von einem Vorhang verdeckten Schuhkasten, auf dem eine ungefähr halbmeterhohe schlanke Metallplastik stand. Asymmetrisch geformte, eckige Metallstücke waren um eine zentrale Säule unregelmäßig angeordnet. Man konnte nicht erkennen, was das darstellen sollte. Modernes Zeug, möchte ich nicht geschenkt haben, dachte Marijana, aber immer noch weniger ärgerlich als christliche Götzenbilder (ihre Bezeichnung für Kruzifixe).

Die in den Gang führenden Türen waren bis auf eine alle geschlossen, und durch diese kam man in die Küche, wo der Mann mit einer Geste zu der Eckbank und den beiden Stühlen am Küchentisch wies. »Geben Sie mir Ihre Mäntel«, sagte er, »ich hänge sie an die Garderobe.«
Nachdem er das getan hatte, goß er Wasser in einen Topf am Herd nach und füllte Teeblätter in eine große weiße Kanne auf der Anrichte.

»Es ist allerdings grüner Tee - ich weiß nicht, ob das Ihr Geschmack ist.«

»Wir sind nicht heikel«, sagte Marijana. Sie hatte sich auf die Eckbank gesetzt, während Martha direkt neben der Türe saß, als wolle sie sich einen schnellen Fluchtweg offenhalten. Allerdings wandte sie ihr den Rücken zu. »Ich kenne zwar grünen Tee nicht, aber mit Zucker
wird er schon zu trinken sein.«

»Man kann keinen Zucker in grünen Tee tun«, sagte der Mann. »Das paßt vom Geschmack her überhaupt nicht. Man kann ihn mit Pfefferminze aromatisieren, wie es die Araber tun, aber Pfefferminze habe ich keine.

»Na, dann werden wir ja sehen«, sagte Martha, nur, um endlich auch einmal etwas zum Gespräch beizusteuern. Sie dachte, daß der Mann angezogen war, als sei er zum Ausgehen bereit. Er trug Straßenschuhe und Kleider, die nicht aussahen, als ob er einen gemütlichen Vormittag zu Hause verbringen wollte.

»Zitieren Sie ruhig Sprüche 1 :32, ich höre das gerne«, sagte der Mann. Marijana zog ihre Taschenausgabe der Bibel heraus, und es gelang ihr, fast auf Anhieb die richtige Stelle aufzuschlagen. Sie las vor:

Denn die Abtrünnigkeit der Unerfahrenen ist das, was sie töten wird, und die Sorglosigkeit der Unvernünftigen ist das, was sie vernichten wird. Was den betrifft, der auf mich hört, er wird in Sicherheit weilen und nicht beunruhigt sein wegen des Unglücks Schrecken.

»Klingt merkwürdig. Warten Sie mal, ich zitiere Ihnen meine Übersetzung.«

Er drehte die Pupillen nach links oben und sagte so fließend, als läse er von einem Blatt im Inneren seines Kopfes ab:

Denn den Unverständigen bringt ihre Abkehr den Tod, und die Toren bringt ihre Sorglosigkeit um, wer aber mir gehorcht, wird sicher wohnen und ohne Sorge sein und kein Unglück fürchten.

»Wahnsinnig toll!« rief Marijana in kindlicher Begeisterung. »Können Sie wirklich die Heiligen Schriften auswendig?«

»Nur zum kleinsten Teil natürlich. Ich war lange an einem Ort, wo ich als einzige Lektüre die Bibel zur Verfügung hatte und eine Betätigung für meinen Geist brauchte."

Keine der beiden Frauen fragte ihn, was das für ein Ort gewesen sei. Sie wußten zwar, daß es Hotelketten gab, in denen das Neue Testament neben dem Bett lag, aber der Mann meinte wahrscheinlich etwas anderes.

»Jedenfalls kann man sagen: Die Bibel hat doch recht«, setzte er mit einem maliziösen Lächeln hinzu. »Obwohl mir scheint, daß die "Unerfahrenen" und die "Unverständigen" nicht ganz dasselbe sind, und folglich eine der beiden Übersetzungen irren muß.«

»Sie kennen also die Heiligen Schriften sehr gut, vielleicht sogar besser als wir beide«, sagte Marijana, die Bemerkung über das Übersetzungsproblem absichtlich mißachtend. »Dann wundert es mich eigentlich, daß Sie nicht Zeuge sind, denn wer die Bibel wirklich kennt, weiß, daß wir recht haben. Die Prophezeiungen bestätigen es.«

»Sie glauben, daß wir nach Harmagedon hier auf der Erde weiterleben werden, mit unseren Körpern und mit unserer alten Persönlichkeit, im Alter von ungefähr 35 Jahren, nicht wahr? Die Familien bleiben zusammen, und die schier endlose Freizeit wird zum Studieren und Reisen verwendet. Es ist lange her, daß man mir das alles erzählt hat, und vielleicht haben Sie Ihre Meinungen inzwischen doch geändert?«

»Wir ändern unsere Meinungen nicht, sondern wir lernen ständig, die Wahrheit besser zu verstehen. Die Lehre bleibt immer dieselbe, nur unser Verständnis bessert sich.«

»Haben Sie nicht 1975 ganz sicher das Ende erwartet?«

»Da hat sich ein amerikanischer Bruder geirrt. Es war ein folgenschwerer Irrtum, auf ihn zu hören, wir haben damals an die 40.000 Brüder und Schwestern verloren, aber es war eine heilsame Reinigung unserer Kirche, es waren ohnehin nur die Kleingläubigen, die sich abgewandt haben.«

»Na schön. Stimmt das, was ich vorhin gesagt habe?«

»So ungefähr.«

»Gefällt mir sehr gut, diese Vorstellung. Mit der lieben Familie in einem neuen Paradies leben, das klingt sehr gut. Werden wir das noch erleben, ich meine, so, wie wir da sitzen?«

»Wir glauben das schon.«

»Und was ist mit denen, die vorher sterben?«

»Wir sind Seelen, heißt es in der Heiligen Schrift; die Katholiken meinen, wir "hätten" welche. Wir sterben vollständig, aber Gott wird uns ebenso vollständig wiederbeleben. Wir hoffen aber, daß wir das Ende erfahren werden, ohne vorher sterben zu müssen.«

»Ja, ich glaube auch, daß das Ende nahe ist. Sehr nahe sogar. Es deutet alles daraufhin. Ich sagte schon, daß ich mich eine Zeitlang sehr intensiv mit Ihrer Religion auseinandergesetzt habe, wie übrigens mit anderen Religionen auch, aber ich habe niemals Antwort auf eine Frage gefunden, die für mich ganz wesentlich ist.«

»Und was für eine Frage ist das?« erkundigte sich
Martha. Sie hatte ihren Blick über die Küche schweifen lassen. Wenn der Mann hier allein wohnte, war er offenbar ordentlich und sauber. Kein dreckiges Geschirr (es gab allerdings eine Spülmaschine), keine Krümel auf dem Tisch, kein Schmutz auf dem Boden. Martha entschied, daß sie dem Mann mit ihrem anfänglichen Mißtrauen unrecht getan hatte. Seine Hände mit schlanken und doch kräftig wirkenden Fingern sahen gepflegt und nicht nach körperlicher Arbeit aus. Martha hätte sich nicht zu raten getraut, was er von Beruf sein könnte. Auch sein Akzent war ihr immer noch nicht klarer geworden - es war jedenfalls etwas Südliches an ihm; vielleicht war es Spanisch oder Portugiesisch?

»Ich habe mir nie erklären können, warum Gott das Böse und das aus ihm resultierende Leiden zuläßt«, sagte der Mann.

»Das ist ein altes Problem«, erwiderte Marijana, »das fragt der Mensch schon seit Jahrtausenden. Einfältige Menschen glauben sogar, deshalb die Existenz Gottes leugnen zu können. Aber die Bibel gibt auch darauf Antworten…«

»Ja, aber diese Antworten befriedigen mich nicht.
Entschuldigen Sie mich für einen Moment, das Teewasser darf nicht so stark kochen.« Er goß den Tee auf. »Zwei Minuten«, sagte er dann. »Es ist nicht ganz korrekt, den Tee so zu machen, weil das Wasser eigentlich nicht so heiß sein sollte. Es ist natürlich auch viel zu kalkhaltig, was den Geschmack sehr beeinträchtigt, aber man muß eben improvisieren.«

»Den Großteil der Schuld an ihren Leiden tragen die Menschen selbst«, sagte Marijana, »und Satan und die Dämonen sind mitverantwortlich.«

»Ich kann mir schwer vorstellen, daß das eine sinnvolle Antwort auf die Frage ist, warum die Tiere leiden müssen oder warum beispielsweise ein Neugeborenes, das mit einer Erbkrankheit zur Welt kommt, die ihm die Haut in Fetzen ablöst, Schmerzen ertragen muß«, sagte der Mann und zog das Textilteesieb aus der Kanne. »Das ist vielleicht eine Strafe für die Eltern, aber für das Kind scheint es mir eine ganz sinnlose Angelegenheit zu sein.«

»Das ist natürlich ein Beispiel, auf das man schwer etwas antworten kann, aber Gott wird ja allen Leiden einmal ein Ende machen.«

»Und was hat das Kind davon?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine, es gibt doch nichts, was dieses Leiden ungeschehen machen kann. Selbst wenn es einmal beendet wird und der Leidende irgendwie dafür entschädigt werden würde, könnte nicht einmal Gott es ungeschehen machen, oder irre ich mich da?«

»Das ist ein seltsamer Gedanke«, sagte Marijana. Martha fand das auch. Es war jedenfalls nicht gerade das, was man im Predigtdienst normalerweise an Argumenten zu hören bekam. Menschen, die solche Gedanken hegten, wimmelten einen gewöhnlich gleich an der Tür ab.

Martha probierte den Tee, der heiß war und ungefähr so schmeckte, wie sie sich einen Heuaufguß vorstellte.

»Schmeckt sehr interessant«, sagte sie.

»Ja?« erwiderte der Mann lächelnd. »Freut mich, daß er Ihnen zusagt. Ich selbst ziehe eigentlich arabischen Tee mit Minze vor, aber wie gesagt, es ist leider keine da.« Man sah ihm an, daß er verstanden hatte, was sie von dem Tee hielt, deshalb fand Martha seine Bemerkung ausgesprochen unnötig.

»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?« sagte der Mann. Die beiden Frauen versteiften sich, weil das sicher die Einleitung zu irgendeiner sexuellen Anspielung war, aber Marijana antwortete: »Ja, kommt darauf an.«

»Sie sind Jugoslawin?«

»Aus Slowenien. Ich bin aber schon einige Jahre im Ländle.

»Gibt es viele Zeugen in Jugoslawien?«

»Jugoslawien gibt es nicht mehr.«

»Sie wissen schon, was ich meine.«

»Prozentuell etwa so wie hier.«

Der Mann wandte sich Martha zu. »Aber Sie sind von hier?«

Martha nickte.

»Dann sind Sie also keine Schwestern?«

Marijana mußte lachen.

»Schwestern sind wir schon, weil wir Zeugen einander ja als Schwestern und Brüder bezeichnen. Aber Sie meinen wohl leibliche Schwestern. Sehen wir denn so aus?«

»Es gibt ja auch Schwestern, die sich nicht ähnlich sehen«, verteidigte er sich. Das Lachen schien ihn zu irritieren.

Die beiden Frauen warteten nun, was der Mann eigentlich wollte, aber er schien schon am Ende seiner persönlichen Fragen angelangt zu sein. Jedenfalls nahm er einen Schluck aus seiner Tasse.

»War es das, was Sie wissen wollten?« fragte Marijana direkt.

Er überlegte einen Augenblick. »Wissen Sie«, sagte er, »es kommt mir seltsam vor, daß zwei junge, schöne Frauen wie Sie - ich darf das doch sagen - nach doch recht strengen, um nicht zu sagen, menschenfeindlichen Regeln leben wollen. Es ist kein Honiglecken, bei den Zeugen Jehovas zu sein, oder?«

»Es ist der Weg, den Gott uns vorschreibt«, sagte Martha. »Wenn wir ihn gehen, sind wir glücklich. Wie könnten wir denn anders leben?«

»Hat die Sünde nicht etwas Verlockendes?« »Natürlich, sonst würde ja niemand sündigen. Aber wir wissen genau, was Gott uns vorschreibt und daß es für uns das Beste ist, und daher bemühen wir uns, es zu tun. Seit ich bei den Zeugen bin, fühle ich mich auch ganz zufrieden, während ich das vorher nie war.«

Die beiden Frauen warteten jetzt wieder darauf, daß der Mann eine sexuelle Anspielung machen würde, denn das Stichwort Sünde stand für die meisten Leute immer noch synonym für Sexualität und kaum für die vielen anderen menschenmöglichen Verfehlungen, aber der Mann machte gar keine Anspielung. Er sagte nach einer Pause:

»Gott hätte das Böse nicht erschaffen dürfen.«

»Gott hat der Menschheit einen vollkommenen Anfang gegeben, die Menschen haben sich freiwillig für das Böse entschieden«, begann Marijana mit der Standardantwort, aber der Mann sagte unerwartet schroff:

»Gott hat das Böse geschaffen, also ist er dafür verantwortlich. Alles andere ist Manichäismus.«

Dann fügte er hinzu, während er seine Tasse in der Hand drehte und Martha ansah: »Und ich verzeihe ihm das nicht.«

»Wie meinen Sie das?« sagte Martha überrascht.

»Ich verzeihe es Gott nicht, daß er das Böse geschaffen hat.«

»Aber Gott muß doch uns verzeihen«, rief Martha aus. »Nicht wir ihm!«

»Glauben Sie?« sagte der Mann und sah sie gerade an. In seinem Blick lag keine sexuelle Aggression, wie Martha jetzt endgültig erkannte, sondern etwas, das sie… nun ja, vielleicht diabolischen Hochmut genannt hätte. Das war natürlich eine Kategorie aus der Schulung, aber es fehlte ihr ein Alltagsbegriff dafür. Der Mann war untersetzt, aber sehr muskulös. Warum fiel ihr das gerade jetzt auf?

Es gab eine kleine unangenehme Pause. Dann sagte Marijana: »Entschuldigen Sie, ich sollte mal die Toilette aufsuchen.«

»Die zweite, nein, die dritte Tür rechts… warten Sie, ich zeige sie Ihnen.« Der Mann stand auf und öffnete die Küchentür. Er ließ höflich Marijana zuerst hinausgehen und trat hinter ihr in den Gang. Die Küchentür drehte sich langsam in den Angeln, ohne sich völlig zu schließen. Martha, die mit dem Rücken zu ihr saß, bemerkte das zwar, überlegte aber immer noch, was die seltsamen Ideen des Mannes bedeuten mochten, und achtete nicht weiter darauf. Sie dachte zu sehr über die Bemerkung des Mannes über Gott nach, als sich Gedanken darüber zu machen, daß sie soeben allein zurückgeblieben war. Das war eine Situation, die sie auf jeden Fall hatte vermeiden wollen.

Sie hörte etwas im Gang, ohne sagen zu können, was es gewesen war, ein seltsames Geräusch, das eigentlich nicht hergehörte. Im nächsten Moment kam der Mann zurück. Martha drehte sich halb nach ihm um, als er die Tür wieder ganz aufstieß.

Er blickte mit seinen schwarzen, glänzenden Augen in dem braunen Gesicht aufmerksam auf sie herunter, lächelte jetzt überhaupt nicht mehr und hielt die Metallskulptur wie eine Keule am unteren Ende.

»Da bin ich wieder«, sagte er schwer atmend.

Mit dieser, einige Fragen offen lassenden Einleitung, beginnt ein Kriminalroman unter dem Titel "Die grüne Stunde" von Kurt Bracharz.
In seinem weiteren Verlauf erfährt man, dass die beiden Zeuginnen Jehovas ermordet in der beschriebenen Wohnung aufgefunden wurden und der mutmaßliche Mörder sich auf der Flucht befindet.

Der die Untersuchung leitende Kriminalkommissar kommt aus dem Rätseln, was die eigentliche Motivation der Tat gewesen sei, nicht heraus.

Im weiteren Verlauf "driftet" der Roman immer mehr auf die Person des Kriminalkommissars ab, seiner Biographie, seinen Erinnerungen. Der einleitend genannte Mordfall bleibt weiterhin unaufgelöst, und mutiert zum "Nebenthema".

Somit wird man doch fragen müssen, warum der Autor eine so detaillierte Einleitung mit Zeugen Jehovas-Bezug wählte, die doch offenbart, dass er mit einigen Internas der Zeugen Jehovas vertraut ist?! 

www.bg-gallus.ac.at/vkv/autoren/Bracharz/bracharz.htm


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