Wie man zum "Auserwählten" wird


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 18. Oktober 2003 07:50:40:

Am Sonnabend, den 4. November 1989, konnte der aufmerksame Beobachter eine durchaus ungewöhnliche Notiz in der Ostberliner „Berliner Zeitung" lesen. Sie hatte die Überschrift: „Religionsgemeinschaft nach 38 Jahren wieder anerkannt". In der Substanz dreht es sich um die von Mary Baker Eddy gegründete sogenannte „Christliche Wissenschaft". Die war in der DDR im Jahre 1951 auch verboten worden.

Jener 4. 11. 89 war auch noch in anderer Hinsicht geschichtsträchtig. Auf dem Berliner Alexanderplatz fand eine Großkundgebung mit durchaus heterogen zu nennender Rednerliste statt. Das SED-Regime bereits angeschlagen, musste auch diese Demontage hinnehmen. Immerhin sollte es noch einige Tage dauern, bis zum 9. November, als die Ereignisse sich weiter überschlugen, mit der so nicht geplanten Maueröffnung. Aber die „Planungshoheit" hatte das SED-Regime ohnehin schon vorher verloren.

Nun mag man das eingangs genannte Beispiel den DDR-Wendewirren zuordnen. Meines Erachtens greift eine solche Interpretation zu kurz. Vergleicht man die harte DDR-Kirchenpolitik der 1950er Jahre, mit jener wie sie in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre praktiziert wurde, kann man den deutlichen Unterschied nicht verleugnen. Etwa die 1985 erfolgte Eröffnung eines Mormonentempels im sächsischen Freiberg. Etwa die Hofierung internationaler jüdischer Funktionäre durch die DDR (dabei schielend auf die Erreichung der wirtschaftlichen „Meistbegünstigungsklausel" durch die USA) und anderes mehr. Dies alles macht den grundsätzlichen „Regimewechsel" deutlich und zwar schon vor 1989. Auch die Zeugen Jehovas profitierten indirekt davon; indem der DDR-Staat es nunmehr unterließ, sie in Sachen Wehrdienstverweigerung einzusperren. Aber das war dann schon das „Ende der Fahnenstange" in Sachen Zeugen Jehovas. Weiteres sollte erst wirksam werden, als die SED unseligen Gedenkens, sich schon in „PdS" umbenannt hatte.

Noch eins. Vor Beginn der eben skizzierten Entwicklung, war die „westliche Sektenszene" kein „Thema" für die DDR-Publizistik; von wenigen Einzelfällen abgesehen. Etwa tagesaktuell begründete Zeitungsartikel; oder etwa die Publizistik des Helmut Obst.
Auch da gab es, so gesehen, im Jahre 1987 eine Neuerung. Abgesehen von dem schon genannten H. Obst, erschien in jenem Jahre auch erstmals ein Büchlein, dass zusammenfassend die Entwicklung darzustellen suchte, wie sie in der westlichen Publizistik seit Beginn der sogenannten „Jugendsekten"-Berichterstattung schon vielfach aufgegriffen worden war. Das Büchlein erschien im Verlag „Neues Leben"; ein Verlag der besonders die Jugend als Zielgruppe im Blickfeld hatte. Es handelte sich dabei um eine Übersetzung aus dem Russischen. Seinem Autor, Josef Lawrezki, war die westliche Publizistik zum Thema durchaus bekannt, die er dann inhaltlich auch vielfach mit aufnahm; allerdings auch eigene Akzente setzte.

Seiner Schrift gab er den Titel „Seelenfänger ohne Gnade"; was man ja im Hinblick auf die mit behandelten Moonies und Scientology und andere, nur bestätigen kann. Die Zeugen Jehovas waren dabei für ihn kein besonderes Thema. Es ging ihm primär um jene Gruppen, die nach ihnen noch gegründet wurden. Vielleicht mal zur Veranschaulichung ein paar Sätze daraus, mehr der grundsätzlicheren Art. (Nicht die Detailausführungen zu den einzelnen Gruppen) sondern seine grundsätzliche Wertung:

Waren im Mittelalter Sekten die einzig mögliche bewußte Form des Widerstandes - zuweilen trugen sie sogar, wie bei den Hussiten, revolutionären Charakter -, so sind die Sekten der spätkapitalistischen Zeit zwar noch Ausdruck des Protestes gegen Verfallserscheinungen der kapitalistischen Gesellschaft, entwickeln aber keine Widerstandskräfte mehr gegen diese Gesellschaft, von revolutionären ganz zu schweigen. Im Gegenteil, sie tragen zur Konsolidierung der bestehenden Gesellschaftsordnung bei, indem sie die Widerstandskräfte schwächen, vom Kampf ablenken, in die Illusion flüchten. Zwischen alten und neuen Sekten gibt es jedoch auch gewisse Gemeinsamkeiten.

Warum aber folgen Menschen unserer Tage solchen neu aufgetauchten Propheten und glauben aufrichtig an die von ihnen verkündeten „Wahrheiten"? Deshalb, antwortet „Stern", weil ihnen der Glaube die Bürde der rauhen und grauen Wirklichkeit erleichtert oder sogar abnimmt, weil er ihnen diese Wirklichkeit leichter erscheinen läßt. Weil er dem Leben einen tieferen Sinn gibt. Kurz mit den Worten von Siegmund Freud gesagt, weil der Glaube den Gläubigen mit angenehmen Illusionen erfüllt.

Nur der Glaube kann aus einem unscheinbaren, einsamen und mittelmäßigen Menschen einen von Gott Auserwählten, zum Beispiel einen „Zeugen Jehovas" machen, der mit seiner Zeitschrift „Der Wachtturm" an der Straßenecke stet und mit dem unerschütterlichen Glauben auf die vorbeieilenden Menschen blickt, daß er zu den wenigen gehört, die den herannahenden Weltuntergang ohne jeden Schaden überleben werden.

Wie die Geschichte beweist, entstehen neue Sekten immer dann, wenn das Land sozialökonomische und politische Erschütterungen erlebt, wenn der Boden, der alte Überzeugungen genährt hat, zerstört wird. So war es zum Beispiel in der Zeit von 1837 bis 1843, als die USA von einer ihrer ersten anhaltenden Industrie- und Finanzkrisen heimgesucht wurden. …




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