Geschrieben von D. am 07. März 2003 15:55:44:
Der Berner Verlag Edition Soziothek legte im Jahre 2002 auch eine über den Buchhandel
(mit Einschränkungen) beziehbare Dissertation vor. Optisch nach wie vor im DIN A 4
Format.
Verfasserinnen sind Stefanie Rauchfleisch und Franziska Weibel Rüf. Gemäß der in
Psychologiestudentenkreisen besonders beliebten Methode der Befragung, befassen sie sich
darin mit "Kindheit in religiösen Gruppierungen - zwischen Abgrenzung und
Ausgrenzung". So der Titel der Arbeit. 13 Probanden aus unterschiedlichen
Gruppierungen standen da Rede und Antwort. Unter ihnen auch zwei (ehemalige) Zeugen
Jehovas. Das Projekt dazu startete wohl schon im Jahre 1997. Abgesehen vom Adressenanhang
ist aber zu konstatieren. Erkenntnisse die etwa via Internet ermittelbar, kommen in dieser
Arbeit nicht vor. Jedenfalls scheinen die Autorinnen zum Zeitpunkt der Abfassung ihrer
Arbeit, keine Internetnutzer gewesen zu sein.
Dem spezifischen Charakter dieser Webseite entsprechend, soll hier nur das die Zeugen
Jehovas bezügliche interessieren. Schon bemerkenswert wie es mit deren Werdegang nach
ihrem Ausstieg so weiter ging. In einem Fall brachte eine anstehende Ehescheidung (die
Frau war ebenfalls Zeugin) den einen Befragten dazu, lang aufgestautes zu verarbeiten. In
dem anderen Fall bewirkte wohl die Wiederaufnahme (eines unter Zeugeneinfluss
abgebrochenen) Studiums eine ähnliche Katalysatorfunktion. Versteht man die Texte
richtig, versuchte sich der eine Aussteiger gar in der Nach-Zeugenzeit, eine Zeitlang als
buddhistischer Mönch; während der andere sich heute als Agnostiker bezeichnet. So
unterschiedlich können sich die Wege gestalten.
Die Rede ist auch davon, dass beide Probanden (wohl in der Schweiz wohnhaft), sich im
nachhinein auch noch intensiv, dem vernehmen nach auch "wissenschaftlich" damit
befasst haben sollen. Es ist aber auch davon die Rede, dass dies wohl auch zeitlich
begrenzt war und die Kontakte und Hilfestellungen ihnen wieder "zu viel" wurden.
Das sei jetzt nicht im Sinne des "erhobenen Zeigefingers" zitiert; sondern
lediglich im Sinne der Sachdarstellung.
Rauchfleisch-Rüf interviewten ausführlich. Als ihre Grundthese kann man vielleicht
die nachfolgende ansehen (S. 38):
Meistens ist es für Familien, in welchen ein streng religiöses Klima herrscht,
schwierig, mit Konflikten umzugehen, denn die Familienmitglieder haben oft nur wenig
Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner außerhalb der Familie. Damit ein unbeschädigtes
Familienbild gewahrt werden kann, dürfen Probleme nicht an die Öffentlichkeit gelangen,
da nicht nur die Familie, sondern auch die Kirchgemeinde geschont werden muss. Dies hat
zur Folge, dass alltägliche Konflikte nicht offen ausgetragen werden können, da sie
immer in diesem Rahmen eingepasst werden. "Religion und Gott stehen auf der Seite der
Eltern gegen die Kinder, deren Bedürfnisse und Wünsche." Diese Kinder haben oft
auch eine abweisende Haltung gegenüber der Sexualität, denn sämtliche Triebe müssen
unterdrückt werden, sind böse und werden verurteilt.
Einige bemerkenswerte Passagen aus den Interviews noch nachstehend:
"Das ganze Zeugen Jehovas-Leben war eine Regel", meinte einer der beiden
ehemaligen Zeugen Jehovas rückblickend. Er habe "keine Erziehung erlebt, sondern nur
Regeln befolgt. Bei den Zeugen Jehovas wird das natürlich schon grundsätzlich
propagiert". "Die Regeln der Gemeinschaft (sind) klar und an die hast du dich zu
halten, fertig. Das ist auch das, was ich gelebt habe, nach innen, also in der
Versammlung, in der Struktur, aber draußen habe ich meine eigenen Regeln angewandt",
sagte er. "Das alles ist halt ein Wust von Regeln und dort drin sollst du
funktionieren", meinte er zum Leben nach gruppenspezifischen Geboten und Verboten.
Er wies mehrfach darauf hin, dass er sich durch die gruppenspezifischen Vorgaben in
seiner persönlichen Wahl- und Entscheidungsfreiheit eingeschränkt gefühlt habe und die
einzuhaltenden Gebote auch "in das Privateste vom Privaten" hineingereicht
hätten. So wurde ihm als Jugendlicher nahegelegt, dass Selbstbefriedigung "Gott
nicht wohlgefällig " sei. Begründet wurde dies damit, dass bei Mose schon
geschrieben stehe, "du sollst dein Bett nicht beflecken usw., und dann wird das
interpretiert, also, mach das nicht". Ferner berichtete er, dass er immer wieder von
Gruppenmitgliedern gemaßregelt wurde, wenn er sich seine Haare schulterlang wachsen
ließ. Laut Bestimmungen war dies männlichen Mitgliedern untersagt. Sein Bruder hätte
das Gleiche mit seinem Schnurrbart erlebt, den er sich hätte abrasieren sollen.
Der Befragte hatte im Alltag auch eine Vielzahl an Geboten und Verboten einzuhalten,
die mit der starken Abgrenzung vom Umfeld außerhalb der Gemeinschaft verbunden waren.
Außer zu Missionszwecken sollten die Mitglieder keine näheren Kontakte zu
Außenstehenden pflegen und nach Möglichkeit Aktivitäten unterlassen, die eine
Verbindung zu Nichtmitgliedern herstellen könnte. Diese Grundhaltung zeigte sich deutlich
in den Geboten und Verboten zum Freizeitbereich. Zu den Freizeitanlässen, die verboten
waren und den Kontakt zu Nichtmitgliedern fördern könnten, gehörten die Betätigung in
Vereinen, der Besuch diverser Tanzanlässe, aber auch die Teilnahme an Schullagern. Zudem
durften Geburtstage und christliche Feiertage wie z. B. Weihnachten nicht gefeiert werden,
da sie als heidnische Gebräuche abgelehnt wurden. Demzufolge war es dem Befragten auch
nicht erlaubt, in der Schule an Aktivitäten teilzunehmen, die mit diesen Anlässen zu tun
hatten.
Wie der Befragte außerdem schilderte, wurde den Mitgliedern in Erwartung der Endzeit
jeweils nahegelegt, dass sie sich in ihrer Freizeit "vor allem natürlich dem
christlichen Werk widmen sollen. Entsprechend galt beispielsweise das intensive Treiben
von Sport als etwas, das die Mitglieder von dieser Aufgabe abhält. "Gegen Sport kann
man ja nichts haben, auch bei den Zeugen Jehovas nicht. Nur zu viel Leibesübung ist auch
nicht mehr gut, die haben ihre Sprüche für alles, meinte er. Sportliche Betätigung
wurde lediglich toleriert, wenn es sich dabei um den Sportunterricht in der Schule oder
damit verbundene Anlässe handelte.
Trotzdem trieb er auch in seiner Freizeit viel Sport und trat entgegen den Bestimmungen
der Gemeinschaft und ohne das Wissen seiner Alleinerziehenden Mutter einem Sportverein
bei. "Das musste ich alles hintenrum machen oder so wie absegnen lassen und sagen, es
sei von der Schule aus, dabei war es ein Verein, bei dem ich dabei gewesen bin", wie
er berichtete. Zu den Einschränkungen im Freizeitbereich meinte er: "Ich habe nie
Alternativen bekommen, für nichts, und das war ein wenig ein Manko, generell, glaube ich,
bei den Zeugen Jehovas. Verbieten ja, aber etwas bieten dafür, nein. Das, was geboten
wird, ist dermaßen lauwarm".
Einschränkend erlebte er auch die Bestimmungen zur beruflichen Ausbildung, die darin
bestanden, all diejenigen Lehrgänge zu meiden, die eine intensive Auseinandersetzung mit
anderen Lebensentwürfen und Sinnsystemen mit sich bringen.
Noch ein bemerkenswertes Zitat:
Einer der beiden ehemaligen Zeugen Jehovas bekam vermittelt, "liebe deinen Nächsten
und lebe das auch". Wie er berichtete, war dieser Lebensgrundsatz mit der
Erwartungshaltung verknüpft, dass die Mitglieder ungeachtet ihrer persönlichen
Sympathien und Antipathien einen äußerst harmonischen Umgang untereinander pflegen
sollten. Innerhalb der Gemeinschaft wurde ihm dies auch stets vorgelebt. Außerdem
versuchte er selbst im Kindes- und Jugendalter diesen Idealen nachzukommen. Schließlich
habe er aber feststellen müssen, dass es unmöglich gewesen sei, permanent lieb und nett
zueinander zu sein und sich mit allen gleichermaßen verbrüdert zu fühlen. "Dann
ist es halt so, dass man obendurch immer lieb miteinander ist, immer schön lacht, ja,
Bruder und Schwester, und alles ist schön und toll, und untendurch spürt man genau, die
verachten dich", erzählte er. "Wenn das Lebensmotto ist und man sich
gleichzeitig nicht eingestehen kann, dass man den und die nicht so mag, weil es nicht
'menscheln' darf, dann wird es schwierig in jeder Gemeinschaft", meinte er. "Und
bei den Zeugen Jehovas zum Beispiel darf es nicht menscheln, es klingt zwar extrem, aber
es darf nicht sein. Und das führt zu völliger Falschheit im Umgang und das spürt
man".
Außerdem erlebte dieser Befragte, dass das anzustrebende Persönlichkeitsideal stark
von einem "Leistungsprinzip" geprägt war. "Du bist, was du leistest",
bekam er vermittelt. Die zu erbringende Leistung bestand darin, streng nach den Geboten
der Gruppierung zu leben
Und:
Entsprechend schwierig war es, sich dem Konformitätsdruck zu entziehen, der unter den
Mitgliedern herrschte. So meinte er: "Du bist irgendwo in einem Netz eingebunden, du
passt dich irgendwann einmal an, denn du wirst müde und kannst nicht immer kämpfen, du
wirst dann auch nicht akzeptiert". Er habe beispielsweise gemerkt, dass die
Unterstützung von anderen Mitgliedern ausblieb, wenn er innerhalb der Gemeinschaft
Aktivitäten durchführte, die nicht der Gruppennorm entsprachen. "Das hat mir auch
weh getan, weil ich gemerkt habe, da stimmt doch etwas nicht, ich gebe mir solche Mühe
und es wird nicht honoriert", wie er erzählte. Schwierig sei für ihn auch gewesen,
dass ihm die anderen Mitglieder nicht gesagt hätten, warum sie ihn in seinen Aktivitäten
nicht unterstützen würden. Dieser Befragte hob hervor, dass die Einhaltung der
geforderten Gruppenkonformität primär am Verhalten gemessen wurde. Dies förderte seiner
Erfahrung nach bei den Einzelnen einerseits ein Funktionieren nach gruppenspezifischen
Normen und Regeln ohne innere Überzeugung oder entsprechende Übereinstimmung im Denken.
Andererseits mussten durch den hohen Stellenwert, der gruppenkonformen Verhalten
beigemessen wurde, individuelle Bedürfnisse vermehrt unterdrückt werden.
Wichtig ist, dass du nach außen hin funktionierst. Nach außen, das
heißt, nach außen in der Gruppe, dass du richtig funktionierst, linientreu bist, deinen
Einsatz zeigst. Was du im Endeffekt denkst, ist egal. Du könntest von mir aus denken,
Jehova gibt es nicht und Jesus war schwul und was weiß ich. Das interessiert eigentlich
niemanden, du musst einfach funktionieren als Zombie. Zombie sage ich dem heute, weil mit
der Zeit die Seele mit allen Bedürfnissen ausgeschaltet wird.
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