Re: Im Zeitspiegel


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 03. November 2007 13:43:39:

Als Antwort auf: Re: Im Zeitspiegel geschrieben von Drahbeck am 24. Oktober 2007 06:22:59:

In der Tageszeitung „Die Welt" konnte man am in der Ausgabe vom 3. 11. 1967 den nachfolgenden (relativ umfänglichen) Bericht lesen:

"Ins Gefängnis auf Raten" betitelte der redaktionelle Mitarbeiter dieser Zeitung (Hans Schueler) seinen exemplarischen Bericht.

Er meint kommentierend:

Das Maß der Toleranz, dass ein Staat gewährt, zeigt sich am deutlichsten in der Behandlung seiner Minderheiten. Die Bundesrepublik wird seit Jahren von einer Sekte, den „Zeugen Jehovas" auf die Probe ihrer Duldsamkeit gestellt. Die „Zeugen" verweigern sowohl den Wehrdienst wie den für Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebenen Ersatzdienst. Sie nehmen für ihre Gehorsam jede Strafe auf sich, weil sie glauben, von ihrem Gewissen dazu verpflichtet zu sein. Soll, darf die Justiz dieses Gewissen gleichsam auf Raten brechen? indem sie die Sektenanhänger fortwährend ins Gefängnis schickt?
 

Über sein Fallbeispiel, dass er mit dem veränderten Namen "Ulrich Selbach" nennt, berichtet er:

26 Jahre alt, Handelsvertreter in W., ist ein ordentlicher und strebsamer junger Mann.

Er sei bis April 1964 als Verwaltungsangestellter beim Arbeitsamt seiner Heimatstadt tätig gewesen.

Er gab die Stelle nicht ganz freiwillig auf. Denn damals im April begann für ihn der Konflikt mit der Ordnung des Staates, in dessen Diensten er stand Ulrich Selbach wurde straffällig.

Inzwischen verunzieren die Eintragungen diverser Gefängnisstrafe, drei Monate, sechs Monate, ein Monat = seinen Strafregisterauszug. Und es lässt sich jetzt schon absehen, dass die Strecke der Delikte mit den Jahren immerfort wachsen wird. Denn Ulrich ist ein notorischer Rückfalltäter.
Sein Vergehen heiß in der Sprache des Gesetzes „Dienstflucht". Die Bezeichnung ist jedoch unkorrekt Ulrich Selbach ist niemals geflohen. Er hat sich nur geweigert den für anerkannte Wehrdienstverweigerer gesetzlich vorgeschriebenen „Ersatzdienst" zu leisten - einmal, zweimal, dreimal.

Er ist ein „Ersatzdienstverweiger" und zwar einer von knapp dreihundert in der Bundesrepublik. Mit sämtlichen seiner Mittäter teilt er ein Merkmal: Die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der „Zeugen Jehovas" ...

Sein Kommentar zu dem von ihm recherchierten Fall, besteht weiter in der Aussage:

Im Hinblick auf die staatliche Inpflichtnahme wohnt den „Zeugen Jehovas" darüber hinaus etwas Tätertypisches an. Sie alle verweigern sowohl den Dienst mit der Waffe, als auch jede karitatives Surregut als zivile Krankenpfleger oder Heilgehilfen in psychiatrischen Anstalten. Denn der Staat, welcher Art auch immer, ist für sie ein Werkzeug des Bösen. Ihm Wehrdienst „im weitesten Sinne" also auch Zivildienst zu leisten würde einem „Zeugen Jehovas" nach seiner festen Glaubensüberzeugung um die Gewissheit des ewigen Lebens bringen.

Dann kommt er auf das System der Prüfungsausschüsse der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen, dass in selbiger für erklärte Wehrdienstverweigerer besteht:

Die „Zeugen Jehovas" bestehen ihre Prüfung vor den Ausschüssen ausnahmslos und überzeugend. Sie sind dogmatische Pazifisten, sie geben es nicht nur vor.

(meint zumindest Herr Schueler). Er verweist dann auch auf die Nazizeit, diesbezüglich.

Er rekapituliert weiter
Von diesem Ersatzdienst gibt es
(in der BRD) keine Befreiung aus Gewissensgründen. Er ist nach dem Gesetz und in der Wirklichkeit so zivil gestaltet, dass auch der couragierte Pazifist daran keine paramilitärische Beschäftigung zu fürchten braucht.

Seit 1956 in der Bundesrepublik die allgemeine Wehrpflicht wiedereingeführt wurde, hat denn auch kein wegen anerkannter Wehrdienstverweigerung zum Ersatzdienst einberufener Bundesbürger die Dienstleistung verweigert. Ausnahme: alle ersatzdienstpflichtigen „Zeugen Jehovas" bis auf zwei, die sich damit selbst aus der Gemeinschaft ihrer Glaubensbrüder ausschlossen. [Hervorhebung, nicht im Original]

Die Verweigerung des Ersatzdienstes wird nach Paragraph 53 das Ersatzdienst-Gesetzes „mit Gefängnis nicht unter einem Monat" bestraft. Dementsprechend wurde aller Ersatzdienstpflichtigen „Zeugen Jehovas", auch die beiden Dissidenten je einmal, bestraft.

Die Gerichte versagten in ihren Urteilen regelmäßig die bei Gefängnisstrafen bis zu neun Monaten mögliche Strafaussetzung zur Bewährung, weil die Täter ebenso regelmäßig zu erkennen gegeben hatten, das sie überhaupt nicht daran dachten, sich zu bewähren, und das heißt in unserem Fall: sich der Ersatzdienstpflicht geneigter zu erweisen. Denn diese Pflicht war durch die Strafe - im allgemeinen zwischen drei und sechs Monaten - und ihrer Verbüßung keineswegs abgegolten, wie etwa ein Diebstahl vor der irdischen Gerechtigkeit durch Verbüßung der dafür verhängten Gefängnisstrafe gesühnt zu werden pflegt.

Häufiger erhielten die „Zeugen Jehovas" den zweiten Einberufungsbefehl zum Ersatzdienst im Gefängnis, während sie noch die Restzeit wegen ihres Ungehorsams gegenüber dem ersten absitzen.

Sein Fallbeispiel erhielt im Mai 1964 die Einberufung zum Ersatzdienst in einem evangelischen Krankenhaus. Er folgte ihr nicht. Im gleichen Monat noch wurde er vom Schöffengericht in W. wegen Dienstflucht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Er verbüßte die Strafe vom 31.8. bis zum 29. 11. 1964. Am 5.11. 1964, kurz vor der Haftentlassung, erhielt er eine neue Einberufung zum Ersatzdienst, diesmal nach Bethel. Er folgte ihr wiederum nicht.

Das zweite Verfahren dauert etwas länger.

Er wurde zu sechs Monate Haft verurteilt. Noch während seiner Strafverbüssung erhielt er den dritten Einberufungsbefehl.

Dienstantritt Anfangs 1966 bei demselben evangelischen Krankenhaus, das in der ersten Einberufung angegeben war.
Diesmal dauerte das Verfahren noch etwas länger. Aber im April 1967 wurde Ulrich Selbach schließlich zum drittenmal verurteilt: ein Monat Gefängnis.

Dies sei der erste Fall einer Drittverurteilung in gleicher Sache, in der BRD gewesen. Inzwischen soll es einen zweiten solchen Fall geben und 153 Fälle von Doppelverurteilungen.

137 weitere Zweit und Drittverfahren sind bei den Amtsgerichten zwischen Flensburg und Rosenheim anhängig.

In der gerichtlichen Urteilsbegründung in diesem Fall gab es dann auch den lapidaren Satz zu lesen:
„Die Tatsache, dass der Angeklagte bereits zweimal wegen Dienstflucht bestraft, berührt seine Pflicht zur Ableistung des zivilen Ersatzdienstes nicht, so dass er sich erneut strafbar macht, wenn er einer neuen Einberufung zum Ersatzdienst keine Folge leistet...."

Der Journalist kommentiert dazu:

Denkfehler im Urteil
Zugleich gibt es freilich noch immer mehr Gerichte, die auf die Strafanzeigen Einberufungsbehörde von Mal zu Mal mit härteren Sanktionen reagieren. ... Nicht selten aber kosten bereits die Erst und die Zweitverurteilung den Angeklagten
(bereits) volle drei Jahre seiner bürgerlichen Freiheit. Die Begründung sind, in solchen Fällen lapidar ...

„Bei der Strafzumessung (achtzehn Monate im Zweitfall) war zu berücksichtigen, daß der Angeklagte wohl sonst ein anständiges geordnetes Leben führt, jedoch andererseits mit einer besonderen Hartnäckigkeit die Leistung Ersatzdienstes verweigert. Die (erste) Strafe von einem Jahr Gefängnis hat bisher bei dem Angeklagten keine Einsicht gezeitigt, dass die Ableistung des Ersatzdienstes ... bei vernünftiger Abwägung der Argumente auch zu keinem Gewissenskonflikt führen kann. Des weiteren war strafverschärfend im Betracht zu ziehen, dass sich die Fälle der Ersatzdienstverweigerung häufen, und damit eine erhebliche Gefahr für das öffentliche Leben gegeben ist."

Der Kommentar des journalistischen Berichterstatters zur gerichtlichen Urteilspraxis besteht dann in der Aussage, die gehen offenbar von der Prämisse aus
„Was Gewissen ist bestimmen wir".

Für Ulrich Selbach und seine Glaubensgenossen eröffnen sich derweil traurige Perspektiven: Sie bleiben bis zum fünfundzwanzigsten Lebensjahr ersatzdienstpflichtig. Bis dahin ist Zeit genug für weitere zwanzig Gefängnisstrafen, die je nach der Gesinnung ihrer Richter zusammen weitere zwanzig Jahre, zehn Jahre oder - bei fortlaufender Verhängung der Mindeststrafe - 20 Monate Freiheitsentzug ausmachen.

Hoffnung dürfen die Erst- Zweit- und Drittbestraften samt ihren Richtern neuerdings in das Bundesverfassungsgericht setzen. Es hat auf die Verfassungsbeschwerde dreier „Zeugen" gegen ihre Zweitbestrafung unlängst - die Strafvollstreckung einstweilen bis zur Sachentscheidung über die Beschwerde - ausgesetzt. Die Frage der Zulässigkeit einer Mehrfachbestrafung erklären die Verwaltungsrichter, müsse eingehend geprüft werden.

Bis zu einer Antwort darauf aber sei die Aussetzung der Strafvollstreckung „zum gemeinen Wohl dringend geboten". Der Bundesjustizminister versucht derweil, einem Verdikt aus Karlsruhe durch Gesetzesänderung zuvorzukommen. Ob er mit seinem Vorhaben im Kabinett Erfolg haben wird, ist jedoch zweifelhaft."

Zum weiterlesen (unter anderem)
Parsimony.2597

Das Thema Zivildienst

Ein neueres Zitat noch. Entnommen dem Aufsatz von Stanislav Pribyl „Tschechisches Staatskirchenrecht und die Zeugen Jehovas"; in:
„Religion - Staat - Gesellschaft" 8. Jg. 2007 H. 1 S. 98f.

„Das nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in der Tschechoslowakei installierte Regime kennzeichnete sich nicht mehr sosehr wie in den 50er Jahren durch eine direkte und brutale Unterdrückung, sondern versuchte vielmehr diejenigen, die die „Spielregeln" des Regimes akzeptierten, zu korrumpieren. Bereits Ende der 50er Jahre wurde für die Kriegsdienstverweigerer unter den Zeugen Jehovas die Möglichkeit geschaffen, anstelle des Militärdienstes einige Jahre in den Bergwerken zu arbeiten.

Noch typischer für die Verhältnisse nach 1968 ist die Tatsache, dass die Zeugen Jehovas die gesetzliche Wehrpflicht umgingen, indem sie in den Besitz des sogenannten „blauen Büchleins" (modrä knizka) gelangten, welches die Wehrpflichtigen aus gesundheitlichen Gründen von der Ausübung des Wehrdienstes befreite. Dem Archiv des Innenministeriums zufolge waren in den 80er Jahren 83,3 % der jungen Männer im Besitz dieses Beleges, offensichtlich aufgrund verfälschter medizinischer Diagnosen - Ausdruck der allgegenwärtigen Korruption."

Das ist dann wohl ein ähnliches Beispiel, wie die bereits von Raymond Franz geschilderte Bestechungspraxis in Mexiko.

Oder auch dass ebenfalls von Franz geschilderte Beispiel, dass eine Liberalisierung in der Wehrersatzdienstfrage, zu seiner Zeit in der „Leitenden Korperschaft" daran scheiterte, dass nicht genügend Stimmen des Stimmberechtigten „Alt-Herren-Klubs" zusammen kamen.

Später jedoch, wo die Fleischtöpfe Babylons zu locken begannen (etwa als KdöR in der BRD), früher unmögliches, möglich wurde.

Wie in solchem Kontext Beispiele, wie die Schweizer Wehrdienst-Erklärung von 1943, einzuordnen sind, mag denn jeder für sich noch selbst beantworten.




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