Re: "GEMEINSCHAFTSENTZUG"


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von X am 09. September 2007 22:09:

Als Antwort auf: Re: "GEMEINSCHAFTSENTZUG" geschrieben von X am 08. September 2007 23:03:

Zitate:
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Matthäus 12:35-37

"Der gute Mensch bringt aus seinem guten Schatz Gutes hervor, während der böse Mensch aus seinem bösen Schatz Böses hervorbringt.
Ich sage euch, daß die Menschen von jedem nutzlosen Ausspruch, den sie machen, am ,Gerichtstag' Rechenschaft geben werden; denn durch deine Worte wirst du gerechtgesprochen werden, und durch deine Worte wirst du verurteilt werden."

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Brücke zum Menschen 1990/I 101/102 S.27-29

Wenn wir nun auf die Frage nach den Gründen kommen, die zu einem Gemeinschaftsauszug führen können, ist grundlegend festzustellen:

Es gibt keinen festgeschriebenen Katalog von Vergehen, sondern alles ist mehr oder minder im Fluß, je nachdem, was die ,leitende Körperschaft' jeweils entscheidet.

Dies bedeutet ein ständiges Moment der Rechtsunsicherheit im Leben des Zeugen Jehovas.

Zum ,unsichtbaren Talmud', wie man dieses System von Ge- und Verboten der WTG zutreffend genannt hat, können immer wieder neue Tatbestände hinzugefügt und andere gestrichen werden.

So kann es geschehen, daß man zu einem bestimmten Zeitpunkt für ein bestimmtes Vergehen ausgeschlossen wird, das vorher noch unbeanstandet blieb und umgekehrt.

Ein Raucher konnte z.B. 1970 Zeuge Jehovas sein, 1974 wurde ihm die Gemeinschaft entzogen.

Wurde man 1973 für oralen Geschlechtsverkehr in der Ehe in ein Komitee-Verfahren verwikelt, war dies 1978 nicht mehr der Fall.

Interessant ist, daß bei Aufzählungen von Verfehlungen, die eine Komitee-Verhandlung erforderlich machen, das bereits angesprochene Element der Unbestimmtheit zu erkennen ist.

So heißt es beispielsweise im WT vom 1.9.1963, S.541:

,Welche Verfehlungen können zu einem Gemeinschaftsentzug führen, wenn man in ihnen verharrt?
Unsittlichkeit, Stehlen, Lügen, Unehrlichkeit im Geschäftsleben, Rebellion gegen Jehovas Organisation, Verleumdung, Trunkenheit, der Übertritt zu einem anderen Glauben, die Verbreitung falscher Lehren usw.'

Dieses ,usw.' gewährt der Führung so manche Gestaltungsmöglichkeit, die sie auch immer wieder nutzt.

Wir wollen auszugsweise zusammenstellen, was die ,leitende Körperschaft' in den letzten zwei Jahrzehnten als Gründe für einen Gemeinschaftsentzug veröffentlichte:

WT vom 1.10.1970, S.596:
Ehebruch, Blutschande, Homosexualität, Sodomie, Mord, Diebstahl, ,und andere verwerfliche Handlungen' [zu beachten ist a) der Unbestimmtheitsfaktor und b) der sexuelle Schwerpunkt].

WT vom 15.2.1973, S.126:
,Perverse Sexualpraktiken' wie oraler und analer Geschlechtsverkehr, Homosexualität (lt. Raymond Franz führte vor allem die Frage des oralen Geschlechtsverkehrs zu einer ,noch nie dagewesenen Flut von Briefen an die leitende Körperschaft' [,Der Gewissenskonflikt', S.49].

WT vom 1.9.1973, S.534:
Drogen- und Tabakgenuß;

WT vom 1.1.1974, S.10:
Jede sexuelle Betätigung vor und außerhalb der Ehe;

WT vom 1.9.1975, S.543:
Gewalt in der Ehe;

WT vom 1.3.1977, S.152:
Verlassen des Ehepartners wegen eines/einer anderen;

WT vom 15.5.1978, S.30 ff.:
,Perverse Sexualpraktiken' in der Ehe sind jetzt kein Grund für einen Ausschluß mehr (vgl. WT vom 15.2.1973);

WT vom 15.6.1978, S.26:
Ehe zwischen Blutsverwandten;

WT vom 1.12.1980, S.30:
Glücksspiele;

WT vom 15.6.1983, S.31:
,Perverse Sexualpraktiken' können nun doch wieder zum Auschluß führen, wenn sie öffentlich beführwortet werden (vgl. WT 15.2.1973 und WT 15.5.1978);

WT vom 1.7.1983, S.24:
,Häresie', Abtrünnigkeit (im Anschluß an die Krise 1980 ein häufig genanntes ,Delikt');

WT vom 1.9.1983, S.25:
Homosexualität und Sodomie (wieder mal);

WT vom 15.4.1985, S.25:
Teilnahme an ,unchristlichen Trauerbräuchen';

WT vom 15.3.1986, S.15:
Abtrünnigkeit;

WT vom 1.4.1986, S.31:
Nichtanerkennung aller Lehren der Organisation
(Dies ist m.E. bisher ein viel zu wenig beachteter Artikel. Er legt alle ZJ auf die bedingungslose Anerkennung aller Lehren und Entscheidungen der ,leitenden Körperschaft' fest und läßt dem einzelnen ZJ kaum Spielraum für eigene Entscheidungen in Fragen, zu denen die Führung sich geäußert hat);

WT vom 1.10.1986, S.31:
Ausschluß für ZJ, die ,in den Ruf eines Gesetzesbrechers gekommen' sind;

WT vom 15.10.1986, S.21:
Anschluß an eine andere Religionsgemeinschaft;

WT vom 15.11.1986, S.14:
Unehrlichkeit;

WT vom 1.12.1986, S.22:
Vorsätzliche Verletzung der Unterhaltspflicht gegnüber dem Ehepartner.

Diese (unvollständige) Liste weist auf gewisse Schwerpunkte bei Ausschlüssen hin.

Nach Angaben der WTG erfolgt die überwiegende Zahl der Gemeinschaftsentzüge wegen sexueller Verfehlungen.

Zusätzlich hat sich seit Beginn der 1980er Jahre ein weiterer Schwerpunkt zum Komplex ,Abtrünnigkeit' entwickelt, wobei in der Mehrzahl dieser Fälle ,die Organisation' freiwillig verlassen wird.

Daneben gibt es immer wieder themenbezogene Ausschlußwellen aufgrund neuer Entscheidungen der ,leitenden Körperschaft', so ab 1973 für einige Zeit in Fragen ,perverser Sexualpraktiken' und 1974 zum Rauchen.

Das Ausschluß-Verfahren der Zeugen-Jehovas ist gekennzeichnet durch ein Minimum an Rechten für den Angeklagten.

So hielt es die WTG zunächst überhaupt nicht für notwendig, für eine Berufungsmöglichkeit zu sorgen; später wurde sie selbst, noch später die Ältestenschaft, als derartige Instanz eingesetzt.

Es gibt für den Angeklagten im gesamten Verfahrensablauf kaum Möglichkeiten, Einfluß zu nehmen, auch sitzt er ohne Verteidiger allein einem die Verhandlung völlig kontrollierenden Ältestengremium aus mindestens drei Personen gegenüber.

Die Sieben-Tage-Frist für die Berufungsverhandlung unterstreicht das Interesse der WTG, derartige Affären SCHNELL abzuwickeln.

Danach ist der Angeklagte endgültig rechtlos und hat keinerlei Möglichkeiten, eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken (er ist ja nun eine ,Unperson').

In der Praxis wird ein Urteil selten oder nie von der Berufungsinstanz aaufgehoben.

Im Hinblick auf die angenommene Bedeutung solcher Verhandlungen, in denen ja schließlich über das (ewige) Leben entschieden werden soll, ist es bemerkenswert, daß die Führung der ZJ den einzelnen nahezu ohne Schutz läßt.

In vielen Fällen werden nicht einmal die minimalen Rechte, die die WTG dem Beschuldigten einräumt, gewährleistet.

Ich verweise in diesem Zusammenhang auf Berichte ehemaliger Zeugen Jehovas, z.B. im ,Bruder-Dienst ' 29/30; ,Brücke zum Menschen' 89/90; Josy Doyon, Hirten ohne Erbarmen, S.271 ff.; Gerd Wunderlich, Jehovas Zeugen -
Die Paradiesverkäufer, S.113 ff.; Raymond Franz, Der Gewissenskonflikt, S.237 ff.; Barbara Waß, Leben in der Wahrheit, S.135 ff.

Die WTG scheint, getreu ihrer autoritär-hierarchischen Ausrichtung, wenig Interesse daran zu haben, die Rechte des einzelnen ZJ zu gewährleisten, ein um so größeres aber, die Autorität der Ältesten als Repräsentanten ihrer eigenen Vollmacht zu sichern.

Deshalb wird ein Beschuldigter im Zweifelsfalle kaum von ,der Gesellschaft' etwas erwarten können, auch im Fall von Verfahrensfehlern und Verstößen gegen die eigenen Richtlinien.

Dazu paßt der Rat an Menschen, denen bei solchen Verhandlungen Unrecht geschehen ist, ,auf Jehova zu warten', wie man ihn in den Versammlungen immer wieder hören kann.

Welche Denkweise die WTG gegenüber nichtkonformen ZJ und ,Abtrünnigen' kultiviert, sollen abschließend noch einige ,Highlighs' aus dem schon erwähnten WT vom 15.4.1988 verdeutlichen.

Teil 5
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Steven Hassan S.194

"Eine rechtmäßig handelnde Organisation würde niemals den Kontakt zu ehemaligen Mitgliedern zu verhindern suchen."


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