Panorama der neuen Religiosität

Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 27. Januar 2002 14:54:28:

Er brachte die Kommunisten in Ostdeutschland besonders "auf die Palme". Der Satz, dass der Kommunismus lediglich eine "Religion" sei. In der Lesart der Zeugen Jehovas; selbstredend eine "falsche Religion". So in ihrem 1953 publizierten Buche "Was hat die Religion der Menschheit" gebracht.

Was ist zu diesem Satz zu sagen? Oder anders formuliert, welche anderen Veranschaulichungsbeispiele gibt es? Nun, ein gutes Veranschaulichungsbeispiel dazu liefert meines Erachtens ein im Gütersloher Verlagshaus erschienenes Buch mit dem Titel "Panorama der neuen Religiosität". Dieser Sammelband entstand unter Federführung und maßgeblicher Gestaltung der Referenten der "evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen". Jene Institution lässt es sich angelegen sein, jeweils die gesamte "weltanschauliche Lage" aus ihrer Interessenlage zu reflektieren. Bezieht man durchaus zu berücksichtigende Vorgänger dieser Institution mit ein, so kann man eine bemerkenswerte Akzentverschiebung registrieren.

Da veröffentlichte ihr seinerzeitiger "Spiritus rector", Kurt Hutten, bereits im Jahre 1950 ein langjähriges, diverse Auflagen erlebendes Standardwerk unter dem Titel: "Seher, Grübler, Enthusiasten". Die sogenannten "klassischen Sekten", als da beispielsweise sind, Zeugen Jehovas, Adventisten, Neuapostolen, Pfingstler usw. usf. waren das Hauptthema um das sich das Buch drehte.

Auch "Standardwerke" ereilt das Schicksal, eines Tages nicht mehr ein solches zu sein, bzw. durch ein anderes, mehr aktuell ausgerichtetes, ersetzt zu werden. Auch im Falle der EZW nachweisbar. Deren nächstes "Standardwerk" hatte den Titel "Neben den Kirchen …" Die schon von Hutten referierten Gruppen fanden sich darin wieder, aber nicht nur sie. Auch diverse inzwischen neu aufgekommene, um nur ein Beispiel zu nennen, "Scientology" und anderes mehr.

Ich würde meinen, dass eingangs genanntes Buch "Panorama der neuen Religiosität" als das derzeitige "Standardwerk der EZW" anzusehen ist. Schon an seinem Umfang von rund 670 Seiten auch deutlich. Vergleicht man es besonders mit dem des Kurt Hutten, fällt die enorme Akzentverschiebung besonders ins Auge. Hutten's "klassische Sekten" kommen darin zwar auch vor, aber in der inhaltlichen Konzeption schon mehr unter "ferner liefen …" eingeordnet. Schon daran deutlich, dass zugunsten anderer Themen, jene von Hutten jeweils in einem eigenen Kapitel referierten Gruppen, in dieser neueren Veröffentlichung, mehr zusammenfassend abgehandelt werden. Schon daran lässt sich der "prozentuale Bedeutungsverlust" ablesen.

Zeugen Jehovas, bekannt für ihre "Zahlenverliebtheit", dürfte es zudem desweiteren "schrill in den Ohren klingen", wenn sie in dieser Publikation vernehmen, dass einer ihrer Konkurrenten, die Neuapostolische Kirche, sich im Jahrzehnt zwischen 1988 - 1998 weltweit verdoppelt hat, auf jetzt 9, 4 Millionen. Selbstredend nicht in Europa, sondern in der "dritten Welt". Aber auch dort versuchen ja bekanntlich Jehovas Zeugen, mit "abzusahnen".

Den Anfang in jenem Buche machen erstmal die "säkularisierten Religionsformen". Nur mal zwei Veranschaulichungsbeispiele. So deutet man etwa den Tourismus (S. 40) mit den Worten: " kann der Tourismus als eine ausgeprägte Sehnsucht nach dem Erleben 'nicht alltäglicher Wirklichkeiten' gedeutet werden. Die Rede von 'Urlaubsparadiesen' und die Erwartungshaltung gegenüber den 'kostbarsten Wochen des Jahres' zeigen religionsartige Erwartungen gegenüber dem Urlaub."

Oder wenn die Entstehung des "Kintoops" mit den Worten kommentiert wird (S. 47):
"In den USA entstanden die Kinos überdies an Orten, die man heute als soziale Brennpunkte bezeichnen würde. In den Arbeitervierteln, in denen ein am Existenzminimum lebendes Proletariat von sozialer und kultureller Verelendung bedroht war. Überdies herrschten untereinander durch unterschiedliche Emigrationsschicksale heftige Spannungen und Sprachlosigkeit. Die ersten Kinos gab es an den Ecken, wo sich die Branntweinschenken und Destillen befanden; wo sich Männer Gesundheit und Menschlichkeit ruinierten und ihre Familien genauso vergaßen wie die bedrückenden Umstände ihrer Arbeit und ihres Lebens. Das Kino bot nicht nur für viel weniger Geld eine andere, weitaus gesündere Form des Vergessens, es diente auch dazu, diese vom endgültigen Auseinanderbrechen bedrohten proletarischen Familien wieder zusammenzuführen und sie sozusagen in einem gemeinschaftlichen Traum zu vereinen, der vielfältig genug war, um jedem seinen eigenen Stoff zu liefern."

Es werden noch diverse analoge Beispiele genannt, die verdeutlichen können, dass die eingangs zitierten Kommunisten mit ihrer künstlichen Aufregung, schief lagen.
Kann man also etliches anderes auch als "sakularisierte Religiosität" im weiteren Sinne deuten, so liegt dennoch der Kernsatz dieser Studie meines Erachtens in der Aussage auf Seite 17:
"Religiöses Vagabundieren ist wichtiger Bestandteil neuer Religiosität. Vagabunden legen sich nicht fest. Sie bleiben auf Distanz und meiden das Sesshaft- und Heimischwerden."

Genau das schmeckt der EZW nicht. Ihre eigene Studie indes belegt, dass sie kein Rezept dagegen hat. Und dass die "Großkirchen" letztendlich von ihrer "Kernsubstanz" leben; jedoch kaum noch wirkliche "missionarische Erfolge" zu verzeichnen haben (zumindest auf Europa bezogen). Wie man weiss gilt analoges in zunehmendem Maße auch für die Zeugen Jehovas.

Das "Panorama der neuen Religiosität" ist meines Erachtens ein durchaus anregendes Buch, das man einmal gelesen haben sollte.

Leseprobe aus "Panorama der neuen Religiosität" (S. 168 - 171)
Was haben Firmen wie Amway, Herbalife, NSA, PTI in einem Werk über neue Religiosität zu suchen? Sie vertreiben Kosmetika, Diätnahrung, Wasserfilter, Handys und vieles andere, was zwar zu einem Kult der Modernität gezählt werden könnte, wohl kaum aber zur Religion. Gemeinsam ist diesen Firmen weniger eine Weltanschauung als eine Organisationsform Sie sind so genannte Strukturvertriebe, sie betreiben "Multi-Level Marketing« (MLM) beziehungsweise "Network Marketing«. Für Firmen dieser Art gibt es inzwischen einen deutschen Dachverband und eine Zeitschrift. Wenn überhaupt, wären sie also
Unter wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen, nicht unter religiösen Gesichtspunkten zu betrachten.

Wirtschaftlich ist die Bedeutung der Netzwerke in einigen Branchen erheblich, zum Beispiel bei den Finanzdienstleistern. Die DVAG setzt in der BRD zweistellige Milliardenbeträge im Jahr um, andere Großfirmen sind AWD, OVB, Bonnfinanz usw. Demgegenüber sind die bekannteren Vermarkter von Waren wie Amway und Herbalife zumindest in Deutschland keine Umsatzriesen - wohl aber zum Teil in den USA. Der Unterschied zwischen einem Strukturvertrieb und normalen Vertreternetzen (auch solchen für Direktvertrieb) liegt vor allem darin, dass jeder Verkäufer versucht, neue Verkäufer vertraglich an die Firma zu binden, da ihm ein Anteil von deren Verkaufsprovisionen zufließt. Die jeweils höhere Ebene in der Pyramide verdient an den Erlösen der von ihr eingeworbenen niederen Ebene automatisch mit. Dadurch entsteht das typische hierarchische Verkäufer- und Provisionssystem, von dem die obersten Ebenen am meisten profitieren.

Die Konsequenz ist, dass beim eigentlichen Verkauf bzw. bei der eigentlichen Dienstleistung ein Großteil der Provisionen nicht bei denen verbleibt, die die Arbeit tun, sondern an die oberen Ebenen abgegeben werden muss. Da die Provisionen nicht beliebig größer werden können - schließlich konkurriert auch der Strukturvertrieb mit anderen Anbietern - erhalten die Vertreter oder Agenten im Multi-Level-Marketing weniger Provision pro Geschäft als in herkömmlichen Vertretungen. Umso größer ist der Druck, entweder sehr viel zu arbeiten oder in der Hierarchie aufzusteigen. Das heißt, das Multi-Level-Marketing baut einen zum Teil rabiaten Erfolgsdruck bereits in seine Struktur ein, zwischen Aufstieg und Scheitern gibt es keine Mittelwege. Dem steht oft eine Werbung gegenüber, die das Geldverdienen im System als leicht und nebenher machbar darstellt, der nötige Einsatz wird gezielt verschwiegen. Man setzt auf Reichtums-Fantasien gerade bei sozial schwachen und nicht erfolgsgewohnten Menschen, mit dem vorhersagbaren Ergebnis einer Selektion, die viele Verlierer erzeugt und nur wenige Gewinner zulässt.

Wenn man in der Pyramide aufsteigt, indem sie nach unten weiterwächst, gewinnt man also mehr, wie wenn man Waren absetzt. Wie viel mehr, hängt von den Einzelheiten des Systems ab. In jedem Fall steht dadurch schon systemimmanent - ohne besondere Inzenierungen - die Firmenideologie und das Beschwören des Erfolgs mehr im Vordergrund als die Merkmale der Waren selbst. Mit anderen Worten, man »verkauft« eher die Firma und ihre angeblich immensen Erfolgsmöglichkeiten als Wasserfilter oder Finanzberatungen. Da die »Schneeballwerbung" verboten ist, bewegt man sich damit allerdings schnell am Rand der Legalität. Auch davon abgesehen gibt es unter rechtlichen Gesichtspunkten Kritik an den Netzwerken. Zum Beispiel wird immer wieder von systematischen Verstößen gegen das Recht auf Datenschutz berichtet. Arbeits- und gewerberechtlich ist bedenklich, dass die Vertreter nicht angestellt, sondern selbständig (eher scheinselbständig) sind, d.h. sie sind trotz ihrer Abhängigkeit von der Firma freie Unternehmer Sie müssen Geld für Waren vorlegen und tragen das Risiko des Absatzes, auch die Produkthaftung liegt bei ihnen. Tragische Beispiele für Fälle, in denen sich unerfahrene Personen auf dieses fragwürdige Geschäft einließen und scheiterten, gibt es genug.

Man kann zwar vor allem bei den größeren Firmen durchaus Geld verdienen, wenn auch mit enormem Einsatz, aber es gibt systembedingt immer viele Verlierer. All das gehört jedoch, wie gesagt, in die Grauzone des Wirtschaftslebens und nicht zur Religion. Warum wurde dann für zumindest einige dieser Firmen in den USA der Begriff des "commercial cult« geprägt?

Firmen als kultische Gemeinschaften?
Zum Beispiel fallen Strukturvertriebe immer wieder als Veranstalter von Massenritualen auf, in denen die Mitarbeiter auf die »Firmenideologie« und auf den persönlichen Erfolg eingestimmt werden, und die im Ablauf an religiöse Veranstaltungen erinnern. Von Masseneuphorie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, von ekstatischen Selbstverpflichtungen, von Aufrufen zur Hingabe und von regelrechten Konversionserlebnissen wird berichtet Die Hierarchie wird oft mit kultischem Glanz ausgestattet. Bei Amway steigt man von der silbernen Auszeichnung zur goldenen Auszeichnung auf, dann folgt die Ernennung zum Direktberater, zum Rubinberater, zum Perlenberater usw., bis zur Diamantstufe Strub weist mit Recht darauf hin, »welchen Einfluss und welche Faszination die Einbindung in dieses unendliche, stets von persönlichem Engagement abhängige Aufstiegswesen auf die Betroffenen ausüben kann...."

Je weniger der Profit im System durch den Vertrieb entsteht und je mehr durch Mitarbeiter-Aquirierung, desto stärker ist auch der Zwang zur Expansion. Bei den so genannten Pyramiden- und Kettenspielen wird diese Tendenz auf die Spitze getrieben: Es wird kein Produkt, sondern nur noch eine Gewinnerwartung verkauft, was nur durch Dauerexpansion - und auch dann nur theoretisch - funktionieren kann. Umgekehrt ist in der Regel das Network Marketing von Waren und Dienstleistungen umso seriöser, je eher man auch vom regulären Verkauf der Produkte Profit zu erwarten hat. Das ist zum Beispiel bei Amway der Fall, da man dort durch das Aquirieren neuer Mitglieder auch die Waren billiger bekommt: Der Rabatt hängt vom Umsatz aller in der Hierarchie untergeordneten Verkäufer ab. Trotzdem liegt auch in solchen Fällen ein Zwang zur Glorifizierung des Unternehmens bereits im System, dazu kommt häufig eine ausformulierte Erfolgsideologie. Sie stützt sich meist auf das US-amerikanische Positive Denken oder auf christliche »Erfolgstheologien« wie im Fall von Amway. Berufliche und ideologische Bindung gehen bei den Angehörigen der Firma dann diffus ineinander über. In solchen Fällen führt das Erscheinungsbild der Firma fast mit Notwendigkeit zu einem Sektenverdacht und zur Wahrnehmung von außen als »commercial cult«: »MLM-Systeme versprechen den finanziellen Erfolg unter Einhaltung der wesentlichen, von ihnen vermittelten Verhaltensregeln. Sie richten den Blick des Einzelnen ganz auf diese weltanschauliche Mitte, den finanziellen Erfolg, aus. Geld verdienen wird zum Heilsversprechen … Die ganze MLM-Firma erhält dabei ein starkes pseudoreligiöses Gewicht.«

Geldspiele: Wundersame Gewinnvermehrung im Schneeball-System
Während Strukturvertriebe teilweise am Rand der Legalität operieren sind Pyramidenspiele, die wie bei Kettenbriefen Gewinn durch ständige Expansion versprechen, im Prinzip seit 1986 verboten. Die so genannte Schneeball-Werbung oder progressive Kundenwerbung wird mit erheblichen Strafen bedroht. Trotzdem werden sie immer wieder zum Teil von den selben Leuten unter neuen Namen - in Gang gesetzt: »Für knapp 6.000 Mark kauft sich der Kunde in die Firma ein und erwirbt das 'Recht', Zertifikate für 'Power-Seminare' zu verkaufen… Diese Seminare werden am Wochenende in Hotels abgehalten und dienen allein dem Zweck, neue 'Kunden' zu gewinnen. Pro Erfolg erhält der Werber eine Provision von 1.500 Mark, den Rest von knapp 4.500 Mark sacken die Hintermänner ein. Bevorzugte Opfer sind Arbeitslose und jüngere Menschen mit geringem Einkommen, die oft einen Kredit aufnehmen."

Ähnlich funktionierte das frühere Kettenspiel »Life«, ebenso Titan oder Takeoff u.a. Man zahlt bei diesen Spielen eine gewisse Summe ein und muss viele andere Leute werben, die ebenfalls einzahlen - dann hat man nach der Logik des Schneeball-Systems enorme Gewinne zu erwarten. Dass diese Erwartung letztlich immer daran scheitert, dass die Expansion des Systems aufhört, muss nicht weiter begründet werden, ebenso wenig, dass in aller Regel nur die Initiatoren massiv profitieren. Warum jedoch schreckt dieser offensichtliche Sachverhalt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht ab? Es gibt wohl kaum eine andere Erklärung, als dass der moderne Erfolgsglaube dem Geld eine eigene Magie zuzuschreiben geneigt ist, der man auch gegen alle Zahlenlogik und Lebenserfahrung eine helfende und rettende Macht zutraut. Die betrügerischen Macher nutzen also diejenigen Reichtums- und Glücksfantasien aus, die unsere Kultur nur allzu üppig hervorbringt.

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