Heute vor 90 Jahren ( I)


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 31. Oktober 2006 04:10:27:

Heute vor numehr 90 Jahren, verstarb ein nicht unbekannter Herr auf einer Eisenbahntour.
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Eigentlich wollte er an diesem Tage schon zusammen mit Christus im Himmel regieren. Vielleicht hätte er dann schon bald sein "zweijähriges Regierungsjubiläum" begehen können. Eigentlich.

Erstens kommt es ziemlich oft anders, und zweitens als man denkt.
Trotz allem zur Schau getragenen Zweckoptimismus am Tage der ausgefallenen Himmelfahrt, war es doch wohl auch bei ihm so, dass geistige Krankheiten auch körperliche Auswirkungen haben können, und nicht selten auch haben. Durch Rastlosigkeit, die er zwar schon vorher an den Tag gelegt, nun aber erst recht nicht ablegte, überspielte er das einstweilen. Bis zu seiner ominösen Eisenbahnfahrt mit einigen Hindernissen, die ihm dann wohl den "letzten Rest" gab.

Auch aus dem alten Europa hatten Russell kurz zuvor Nachrichten erreicht, welche für ihn nicht sonderlich erfreulich. So hatte etwa die Ortsgrúppe Bern der Bibelforscher eigens eine Resolution, datiert vom 10. 9. 1916 an Russell abgesandt, in der er unter anderem zu lesen bekam:

"Sie ( die Berner Ortsgruppe) bedauert, dass Br. Russell über die Verhältnisse in der Schweiz nur einseitig und vielfach unrichtig informiert worden ist;
2. Sie stellt fest, dass infolge dieses Umstandes die von Br. Russel getroffenen Verfügungen in Bezug auf die Leitung des schweizerischen Erntewerkes den in der heiligen Schrift niedergelegten Grundsätzen über die göttliche Gerechtigkeit und Wahrheit nicht entsprechen;
3. Sie anerkennt die Richtigkeit des von Br. Lanz eingenommenen Standpunktes, dass er den Versammlungen im Namen der I.V.E.B. nicht mehr dienen kann, weil er das Vertrauen von Br. Russell nicht mehr geniest, und stellt fest, das Br. Lanz und seine Handlungsweise durch die vorgelegten Dokumente in jeder Beziehung gerechtfertigt erscheinen."

Dieses offenbar an eine Palastrevolution erinnernde Schreiben, hat seinen Adressaten aber doch wohl nicht sonderlich beeindruckt. Lanz, dem die Berner ostentativ den Rücken stärkten, blieb weiterhin des Amtes enthoben und wurde durch einen neuen Mann, frisch aus den USA-Staaten importiert, dem Herrn Conrad C. Binkele ersetzt, der nun bis etwa 1925 die WTG-Geschäfte in der Schweiz führte. Just in jenem Jahre sollte sich dann auch noch Binkele, mit dem neuen mächtigen Mann in Brooklyn, dem Herrn Rutherford, überwerfen.

Zum Fall des Dr. Lanz wurde schon unter Bezugnahme auf einen WTG-Jahrbuchbericht schon mal festgehalten; Zitat Jahrbuch::
"Unter einigen gesalbten Christen griff jedoch eine wachsende Enttäuschung um sich; sogar Emile Lanz war davon betroffen. Er sah, wie das Jahr 1914 zu Ende ging, ohne daß die Christen nach ihrem Verständnis von 1. Thessalonicher 4:17 "entrückt" wurden, "zur Begegnung mit dem Herrn in der Luft". Das Werk in den französischsprachigen Ländern trat offensichtlich in eine schwierige Zeitperiode ein. In dem Bericht an Bruder Russell über das Dienstjahr 1915 schrieb Lanz einen langen Text, in dem er die Tätigkeit des Genfer Büros rechtfertigte. Er schrieb jedoch kein Wort über die Anstrengungen, die unternommen worden waren und durch die das Werk so gewachsen war, daß das Genfer Büro nötig wurde. Die Art und Weise, wie Lanz die Dinge handhabte, kam Bruder Russell verdächtig vor, und so sandte er im Jahre 1916 Conrad Binkele, einen Amerikaner deutscher Herkunft, von Brooklyn in die Schweiz, um die Situation zu untersuchen. Lanz war verärgert, verhielt sich rebellisch und wandte sich schließlich gegen die Gesellschaft."

Damit hatte dieser "Vorzeige-Bibelforscher" (Lanz war von Beruf Zahnarzt), der so gar nicht der sonstigen Bibelforscher-Klientel entsprach, der aber aufgrund seines gewandteren Auftretens einen typischen Bibelforscher der Marke "heilige Einfalt" von seinem WTG- Posten verdrängt hatte (den Holzfäller Adolphe Weber) selbst ein Fall geworden, jener, von denen die WTG heute nicht mehr gerne spricht.

Die Betrübnis über den Tod Russells war in seiner Anhängerschaft nicht gering. In der deutschen „Wachtturm"-Ausgabe vom Februar 1917 (und als Separatdruck in einer 135 Seiten umfassenden Schrift aus dem Jahre 1917, mit dem Titel: "Pastor C. T. Russell. Seine Leben und sein Wirken") kann man sich noch heute ein plastisches Bild davon verschaffen.
Unter anderem enthält sie auch das Russell'sche Testament, worüber weiter unten noch etwas mehr zu sagen sein wird.

Der euphorische Gesamtcharakter dieser Schrift kommt auch in solchen Aussagen zum Vorschein, wie etwa:
"Seit dem Apostel Paulus war er der größte religiöse Lehrer, und er hat mehr denn irgendein anderer Mensch in neueren Zeiten dazu beigetragen, den Glauben der Menschen an die Bibel aufzurichten."
Und auch Herr Rutherford wusste anläßlich seines Redebeitrages bei der Gedächtnis-Feier für Russell noch zu verkünden:
„Der größte Mann seit dem Apostel Paulus ist von der Erde fortgegangen."
Also an Selbtsbewusstsein mangelte es mit Sicherheit nicht.
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Zu den weiteren Highlights des Gedenkrede von Rutherford, gehört wohl auch die vollmundige Aussage:
„Und die Heilige Schrift lehrt ganz klar, daß diese Auferstehung nun vor sich geht, daß unser lieber Bruder und Pastor nicht im Tode schläft, sondern augenblicklich verwandelt worden ist von der menschlichen zur göttlichen Natur, und daß er nun für immer bei dem Herrn ist."

Seine Rede beschloß Rutherford dann durch das verlesen einer Predigt des Russell, die für diesen Tag vorgesehen war (die er aber nunmehr nicht mehr persönlich vortragen konnte). Und darin findet sich denn auch jener Passus, der vielleicht eine Art „Schlüsselpassage" ist. Bringt er doch zum Ausdruck, was die Russell-Bewegung im eigentlichen motivierte. Seine Zuhörer ließ er (auch bei dieser Gelegenheit) wissen:
„Es mögen einige überrascht sein, wenn ihnen gesagt wird, daß die vergangenen zweiundvierzig Jahre mehr für die Welt bedeuten in bezug auf die Zunahme der Erziehung, des Reichtums, aller Arten arbeitsparender Erfindungen und Bequemlichkeiten, mehr in bezug auf Zunahme der Schutz- und Sicherheitseinrichtungen für das menschliche Leben, als es in den ganzen sechstausend vorhergegangenen Jahren der Fall war."

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, wollte man die Russellbewegung auf das staunen kleiner Kinder über den wissenschaftlich-technischen Fortschritt reduzieren. Namentlich dessen Schattenseite hatte es auch Russell angetan, wofür auch seine Aussage steht:
„Trotz des Anwachsens des Weltreichtums und trotz der Tatsache, daß es einige edle Seelen gibt, die ihren Anteil am Reichtum auf eine lebenswerte Art gebrauchen, herrscht doch allgemein das Gesetz der Selbstsucht, und alle Gesetze, die je gegeben werden sind, oder gegeben werden können, werden diese riesenhaften Einrichtungen, Vereinigungen unserer Tage nicht zum Stillstand bringen können, und sie werden nicht verhindern können, daß sie die Massen ausbeuten im Interesse von verhältnismäßig wenigen."

Es waren somit letztendlich politische Fragen, die auch Russell bewegten, für die er jedoch meinte nur das „Patentrezept" des großen „Zampano" präsentieren zu können, der da alles „richten" soll. In der Praxis hingegen weniger als Nichts „richtet".

Dieser Glaube unterschied sich aber in wesentlichen Punkten von dem Glauben, den seine heutigen "Nachfahren" da so an den Tag legen. Die können beispielsweise wenig bis nichts etwa mit jener Aussage anfangen, die man in der vorbenannten Schrift auch lesen kann:

"Im Jahre 1910 besuchte Pastor Russell Palästina und Rußland. Hier predigte er vor Tausenden orthodoxer Juden über das Sammeln der Juden in Palästina. Im Jahre 1911 gehörte er mit zu einem Komitee von sieben Männern, die eine Reise um die Welt machten und besonders die Zustände im Missionswerke in Japan, China, Korea und Indien prüften. Bei dieser Gelegenheit besuchte er auch wieder die Juden in Palästina und Galatien und erklärte ihnen, daß die Prophezeiungen lehren, die Juden würden binnen kurzem wieder in Palästina eingerichtet werden. Bei seiner Rückkehr nach Amerika wurde ihm in Neuyork in dem Hippodrom durch Tausende von Juden eine große Ovation dargebracht."

Das schon genannte Testament nimmt einen wesentlichen Platz in dieser Publikation ein. In ihr findet sich auch der Satz:
"Von meinen Sonntagspredigten, die während einer Reihe von Jahren in täglich erscheinenden Zeitungen veröffentlicht worden sind, wurden Exemplare aufbewahrt, und diese können als Material bei der Herausgabe des Wachtturms verwendet werden, so wie es das Komitee für das Beste hält; jedoch soll mein Name nicht genannt, noch irgendwelche Angaben bezüglich des Verfassers gemacht werden."

Da begegnet man schon einer Intention des Testaten. Er träumte davon diesergestalt "weiterleben" zu können. Weniger bewusst war ihm allerdings der durch die Geschichte mehrfach belegte Spruch: "Der König ist tot. Es lebe der neue König".

Immerhin begegnet man hier einer Wurzel, weshalb auch heutzutage das WTG-Schrifttum in der Regel ohne Verfassernamen erscheint. Das seine "Schriftstudien" dereinst durch seinen ungeahnten Nachfolger verdrängt, und durch dessen immenses Schrifttum dem Vergessen überantwortet wurden, hätte er sich bei der Testamentabfassung wohl auch nicht träumen lassen.

Damit wäre es nun angezeigt, auf selbiges etwas näher zu sprechen zu kommen.
Dietrich Hellmund, Verfasser einer 1972 erschienenen Dissertation über die Zeugen Jehovas, hat zwar persönlich, eine eindeutig theologische Laufbahn absolviert. Indes ist der Umstand, dass er als Sohn eines Rechtsanwaltes aufgewachsen ist, nicht ganz „spurlos" geblieben. Insbesondere bei seinen Ausführungen über den ungeahnten Aufstieg des J. F. Rutherford, zum Nachfolger Russells, kommen diese Aspekte mit zum tragen. Als einer dem das Jurafeld nicht fremd ist, registrierte er einiges Interessante diesbezüglich.
Nachstehend einige Auszüge daraus:

Für Russells Nachfolge müssen wir unbedingt die wesentlichsten Bestimmungen in Russells Testament kennenlernen.

Man vergleiche dazu auch:
http://www.manfred-gebhard.de/RussellTestament.htm

Grundsätzlich: Die für ein Weiterbestehen seines Werkes getroffenen testamentarischen Regelungen sind wenig klar und mehrdeutig - kein Wunder bei Russells gering entwickeltem Einfühlungsvermögen in juristische Sachverhalte. Vor allem gibt es keine klar umrissene Abgrenzung der Kompetenzen.
Da gab es bei Russells Tod z.B. das siebenköpfige Direktorium der Wachtturm- Bibel- und Traktatgesellschaft. Wie sein dann freigewordener Platz in diesem Gremium besetzt werden soll, wird nicht gesagt, ebensowenig, welche Kompetenzen es behalten soll.

Klar ist nur, daß Russell für die Zeit nach seinem Tod in Konkurrenz zu diesem Direktorium die Bestallung eines fünfköpfigen Herausgeberkomitees vorsieht .
„Alle Artikel, die in den Spalten von 'Zions Wachtturm' erscheinen, sollen die ungeteilte Billigung von mindestens drei dieses Komitees von fünf haben…". Damit ist dem Direktorium im Blick auf den Inhalt der Veröffentlichungen jedes Weisungsrecht genommen. Das Komitee steht unabhängig neben dem Direktorium.

Zu Mitgliedern dieses Herausgeberkomitees wurden bestimmt
William S. Page, William E. Van Ambourgh, (andere Schreibweise Amburgh) Henry Clay Rockwell, E. Brenneisen, F. H. Robinson.
Für den Fall eines Ersatzes waren folgende Kandidaten genannt; A. E. Burgess, Robert Hirsh, Isaak Hoskyns, Geo Fisher (Scranton), J. F. Rutherford, Dr. John
Edgar.-
Das reizvolle an dieser Namensliste ist dies: die Schlüsselfigur der Kämpfe um die Nachfolge Russells taucht erst in der zweiten Liste auf, im Verzeichnis der Ersatzleute. Man wird daraus keine allzu große Sympathieerklärung für seinen ungeahnten Nachfolger Rutherford ableiten können.

Die Mitglieder dieses Komitees sollten zur Bethelfamilie gehören und wie diese entschädigt werden. Zustimmung oder Ablehnung des ihnen angebotenen Sitzes sollte binnen Wochenfrist dem Vizepräsidenten der Gesellschaft „ohne Rücksicht darauf, wer zu dieser Zeit dieses Amt bekleidet", kundgetan werden.

Wie bereits erwähnt, war die WT-Gesellschaft als Aktiengesellschaft konstruiert, in der jedermann für 10 Dollar Stimmrecht erwerben konnte. Im Augenblick seines Hinscheidens verfügte Russell über ein Aktienpaket von 25.000 Stimmen dieser Art unter insgesamt etwa 150.000 Stimmrechten. Der Rest verteilte sich auf etwa 600 Personen. Natürlich mußte nun demjenigen, der angesichts der breiten Streuung der sonstigen Aktien die Stimmabgabe dieser Aktien überwachte, innerhalb der Gesellschaft ein entscheidendes Machtwort zufallen. Nun hatte Russell im Blick auf dies Aktienpaket dies verfügt: „Ich habe schon die Wachtturm Bibel- und -Traktat-Gesellschaft mit allen meinen Stimmanteilen begabt, und ich lege diese nun in die Hände von fünf Bevollmächtigten. Es sind folgende: Schwester E.-Louise Hamilton, Schwester Almeta M. Natiou Robison, Schwester I. G. Herr, Schwester C. Tomlius, Schwester Alice G. James".

Auch hier sind die Kompetenzabgrenzungen und Eigentumsverhältnisse nicht ganz geklärt. Sicher ist wohl nur, daß dieser Ausschuß die Macht des Direktoriums beschneiden sollte.
Bei der Durchsicht dieser Verfügungen nimmt dies eine wunder:
Russell hat nirgends e i n e n Nachfolger ins Auge gefaßt, sondern einige Gruppen von Nachfolgern. Sie sollten in demokratischer Weise; entsprechend den bisherigen Gepflogenheiten dieser Gemeinschaft die bisher allein in Russells Hand gesammelte Gewalt verwalten. Ob das sinnvoll war?

Einfügung:
Neben genannter, gibt es noch eine weitere, vom Umfang geringere, „Erinnerungen an Pastor Russell" überschriebene Schrift. Sie ist insoweit beachtlich, als sie auch einen relativ ungeschminkten Blick in die Frühzeit tätigt.
So bemerkt Russell darin, bezüglich der Erwartungen der Frühzeit etwa:

„Als nun in jenem Jahre (1878) nichts geschah, was wir sehen konnten, bewies mir eine nochmalige Prüfung der Sache, daß unser Fehler in der Erwartung lag, alle Heiligen auf einmal und ohne zu sterben verwandelt zu sehen."
Also schon die adventistischen Wurzeln, in die Russell ja mit eingestiegen waren, begannen mit einem handfesten ideologischen Bankrott. Russells „Leistung" dann, den fortzuschreiben. Eine neue Zielmarke, etwa vierzig Jahre später, zu setzen.

Da aber machten seine adventistischen Kompagnons, Barbour und Paton, schon nicht mehr mit. Die Gründung seines „Zion's Watch Tower" verklärt Russell daher schon mit dem Satz:
„Auf die Weisung des Herrn hin handelnd, gab ich das Reisen auf, und im Juli 1879 erschien die erste Nummer von Zions "Wachtturm und Verkünder der Gegenwart Christi""

Weiter geht's bei ihm mit der Aussage:
„Eine Zeitlang hatten wir sehr schmerzliche Erfahrungen durchzumachen. Die Leser der Zeitschriften waren nämlich dieselben, und nachdem der "Wachtturm" zu erscheinen angefangen hatte, und die Unterstützungen unsererseits für B(arbour) aufhörten ... Dies verursachte natürlich eine Trennung, wie das aus solchen Anlässen stets der Fall zu sein pflegt. Da die persönlichen Schmähungen von einigen für wahr gehalten wurden, so verfehlten sie ihren beabsichtigten Zweck nicht..."

Auch seinem Mitstreiter der Frühzeit, Paton bescheingt er:
„Trotz unserer größten Bemühungen, ihn (Paton) zu retten, wurde er doch weiter und weiter fortgetrieben, bis ich genötigt war, seine Artikel für den "Wachtturm" zurückzuweisen, und zwar aus demselben Grunde, der mich veranlaßt hatte, das mir vom Herrn anvertraute Geld nicht länger dazu zu verwenden, Barbour in der Verbreitung der gleichen verderblichen Lehre zu unterstützen."

Nun war er einstweilen da angelangt, mehr oder weniger nur noch von Claqueren umgeben zu sein. Kritisches Potential war „außen vor".
Ein neuer „Jesus Christus der Religionsgeschichte" hatte sich etabliert. Er konnte nur noch durch einen gestoppt werden, dem „Sensenmann", der eines Tages auch an seine Tür klopfte.

Zurückkkehrend zu den Ausführungen von Dietrich Hellmund:
Genug vom Testament, nun zur Durchführung dieser Bestimmungen.
Bald nach dem Bekanntwerden der letztwilligen Verfügungen war klar, daß das Testament so nicht durchführbar war. Das zeigte sich zuerst bei der Besetzung des zu berufenden Herausgeberkomitees. Russell hatte es wahrscheinlich zu Lebzeiten versäumt, sich über die Bereitschaft der Kandidaten zu unterrichten, das angebotene Amt auch anzunehmen. Immerhin war ja damit die Aufgabe beruflicher Bindungen, der Eintritt in die Bethelfamilie und Abhängigkeit von einem Taschengeld verbunden. Prompt bedankten sich zwei Kandidaten der ersten Garnitur (Page und Brenneisen) in Schreiben an die federführenden Mitglieder der WT-Gesellschaft für die ihnen zugedachte Ehre und verzichteten in wohlgesetzten Worten zugunsten ihrer anderweitigen Verpflichtungen auf die Zugehörigkeit zum Herausgeberkomitee.

Das war die Chance für das Direktorium der Gesellschaft. Es konnte, ja mußte jetzt für die freigewordenen Plätze Ersatzleute finden, konnte hier die angemessenste Wahl unter den Kandidaten treffen und schuf damit für künftige Eingriffe den entscheidenden Präzedenzfall. Damit war praktisch die Überordnung über das Herausgeberkomitee gewährleistet, letzteres hat bereits in der unmittelbaren Folgezeit keine eigenständige Rolle mehr spielen können.

Dann war da noch das fünfköpfige Damenkränzchen, das die 25.000 Stimmanteile verwalten sollte. Es hätte etwa bei der demnächst anstehenden Wahl des zweiten Präsidenten der WT-Gesellschaft durch gezielten Einsatz der damit verbundenen Macht eine entscheidende Rolle spielen können. Dazu stellt die heutige Geschichtsschreibung der ZJ lakonisch fest: „Als er (Russell); starb erloschen nach dem Gesetz natürlich seine Stimmen mit ihm".

Das ist eine sehr höfliche Formulierung für die damit beschriebene Entmachtung der fünf. Wahrscheinlich hat man den bevollmächtigten Damen vorgerechnet, daß ihre Stimmabgabe juristisch problematisch sei und daß sie am besten daran täten, wenn sie für alle Zeiten die Stimmrechte ruhen ließen. Wahrscheinlich steckt hinter dem fertigen Ergebnis der Juristenverstand Rutherfords. Ein Meisterstück!

Mit diesen beiden Ausschüssen hatte das Direktorium nur sehr schwer kontrollierbare Machtfaktoren ausgeschaltet. Der Trend war die Zentralisierung der Leitung. Allerdings lag zu diesem Zeitpunkt noch die entscheidende Machtzusammenballung in der Hand des Gremiums, des Direktoriums der Gesellschaft. Wie wird es ergänzt? Wer wird an seiner Spitze stehen? Wird im Direktorium kollegial oder diktatorisch entschieden?

Am 6. Januar 19l7 wurde Joseph Franklin Rutherford zum Nachfolger Russells gewählt. Die Wahl erfolgte einstimmig, gewiß ein Zeichen dafür, daß sich die leitenden Männer der Gesellschaft vorher untereinander abgestimmt hatten. W. E. Van Ambourgh wurde Sekretär-Kassierer, A. N. Pierson Vizepräsident.

Hier die Lebensgeschichte des zweiten Präsidenten bis zur Wahl …:
Als Zwanzigjähriger war er offizieller Berichterstatter des XIV. Kreisgerichtes (Judical Circuit) von Missouri. Er eröffnete eine Anwaltspraxis in Boonville/Missouri. Er hatte bald einen Namen und wurde als Socius der Anwaltsfirma Draffen & Wright mit Prozeßführungen beauftragt. In den folgenden 15 Jahren prozessierte er an allen Gerichtshöfen Missouris, an den Bundes-Kreisgerichten und auch vor dem Obersten Bundesgerichtshof der USA. 1909 wurde er Mitglied der Staatsanwaltschaft in New York und praktizierte dort bis zu seinem Tode.

Angesichts dieser Laufbahn ist für uns zunächst das eine interessant: In fast jedem seiner Bücher, die er später schreiben wird, ist ein Hinweis auf den Verfasser „Richter" Rutherford untergebracht. Dabei ist das Recht Rutherfords, diesen Titel zu führen, ziemlich zweifelhaft. Von dem Urteil über die Berechtigung, diesen Titel zu führen, muß freilich das Urteil über seine juristische Eignung für ein solches Amt deutlich unterschieden werden. Rutherford war ein blendender Jurist mit hoher fachlicher Eignung. Weniger Theoretiker des Rechtes als Meister in seiner Handhabung entschied er manchen Streitfall schon durch überlegenes Taktieren in Verfahrensfragen. War er im Recht, suchte er sich unnachsichtig Recht zu verschaffen. Wußte er sich im Unrecht (was er freilich nie zugegeben hätte), suchte er ebenso geschickt diesen Tatbestand zu verheimlichen. ... Hier mehrere wichtige Beispiele:

Rutherford leitete die Umsiedlung der Zentrale von Pittsburgh nach New York und schuf dafür die juristischen Voraussetzungen. Das war wegen der unterschiedlichen Gesetzgebung in beides Bundesstaaten ein großes Problem. …

Für sein geschicktes Taktieren in schwierigen Situationen ist ein an sich nebensächlicher Vorfall aus dem Jahre 1915 bezeichnend. J. H. Troy, ein baptistischer Prediger aus Südkalifornien, forderte Russell zu einer öffentlichen Diskussion heraus. Für den gesundheitlich verhinderten Russell nahm Rutherford die Herausforderung an, als ehemaliger Baptist schien er dafür gut geeignet. Allerdings schien der Gegner alle Trümpfe in seiner Hand zu haben. Schon der Termin war mehr als geschickt gewählt. 1915 war das Jahr, in dem sich alle Voraussagen Russells als falsch erwiesen hatten. Eine Abfallbewegung hatte unter den Bibelforschern eingesetzt. Troy brauchte nur in dieser, in der Werbung groß herausgestellten Debatte immer wieder auf Russells Prophezeiungen hinzuweisen und ihn als falschen Propheten zu brandmarken - dann war er in der Offensive und hatte gewonnenes Spiel. Rutherford sah hier nur eine Chance, und die lag in der Taktik. Denn auf eine Herausstellung der für die Bibelforscher kritischen Argumente durfte er es nicht ankommen lassen.

So machte er wenige Tage vor Beginn mit Troy schriftlich aus, daß jeder 1000 Dollar als Garantie dafür hinterlegen sollte, daß man nicht über persönliche Dinge sprechen wollte, damit wurde, wie es schien, eine sachliche, biblische Erörterung gewährleistet. Troy konnte diese Erklärung umso leichter unterschreiben, als er ja nicht Dinge wie die alte Scheidungsgeschichte aufwärmen wollte. Russells Prophezeiungen waren ja wesentlich attraktiver. Ein Presseinterview Troys bestätigte Rutherfords Befürchtungen. So wartete er auf seine einzige Chance, die in der Auslegung oben genannter Garantie bestand. Drei Minuten vor Beginn der Debatte bat Rutherford Troy ins Nebenzimmer. Rutherford
„Sie werden sich daran erinnern, daß wir uns kraft einer Garantie von l000 Dollar verpflichtet haben, davon Abstand zu nehmen, Personen anzugreifen. Aus ihren Interviews mit der Presse entnehme ich aber, daß Sie beabsichtigen, Pastor Russell vom Podium aus anzugreifen. Wenn Sie das tun wollen, können Sie es natürlich tun, aber dann werde ich dafür sorgen, daß Sie Ihren Garantiebetrag einbüßen."

Von dem unerwarteten Vorgehen völlig überrascht, fragte Troy:
"Ja, darf ich ihn nicht einmal erwähnen?", worauf Rutherford mit Nachdruck erwiderte: „Nein". Damit wurde Troy zu einem großen Umbau seines Konzeptes in aller Eile gezwungen und - psychologischer Vorteil!- innerlich unsicher. Er wollte die Namensnennung Russells vermeiden und blieb - anders als sein Gegner - farblos und allgemein.

Fortsetzung Parsimony.19646


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